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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

Ja, wenn sich das nur so leicht machte für uns, die wir nicht als Götter auf
das Leid, von ihm unberührt, herabschauen, sondern als seine fühlenden Opfer
es empfinden!

Das alles ist nun zwar Philosophie und Biologie, aber doch eigentlich
nicht Ästhetik. Für Ästhetik hält es Georgy, weil er dem Kunstwerk die Auf¬
gabe stellt, die Sprache der Natur zu verdeutlichen, d. h. noch deutlicher als
die Natur es auszusprechen, daß Gestaltwerden das Grundgesetz des Universums
ist. Nun hat es zwar mit diesem Gesetz seine Richtigkeit, auch kommt im
Ästhetischen auf die Gestalt alles an, aber das Dasein, das Universum erschöpft
sich nicht in Gestalten. Es enthält noch vielerlei andres: Anziehung und
Abstoßung, Liebe und Haß, Polarität, Ruhe und Bewegung, Entstehen und
Vergehen, Schein und Sein, Äußeres und Inneres. Alle diese Formen, Vor¬
gänge und Kräfte sind beim Gestalten tätig, können auch im Drama verwandt
werden, kommen aber nicht zur Geltung, wenn man das Gestaltwerden als
die einzige Seite des Daseins hervorhebt. Eine so einseitige Theorie wird
demnach weder dem Leben noch der Kunst gerecht. Übrigens würden sich der
Monist Georgy und der fromme Kanonikus Lämmer wundern, wenn sie mit¬
einander bekannt würden und erführen, daß sie beide denselben Gedanken haben.
Lämmer hat nämlich einmal einen sehr schönen Kommentar zum Kirchweih¬
hymnus geschrieben, in dem auch das Menschendasein und das Gotteswerk als
ein ineinander eingreifendes Gestalten erscheint, nur daß dies in einem nicht
dem organischen Leben, sondern dem künstlerischen Schaffen entnommenen Bilde
geschieht, und daß es sich bei einem Bilde von selbst versteht, daß dieses den
Gegenstand nur einseitig, nicht erschöpfend, darstellt. Die beiden hier in
Betracht kommenden Strophen -- zwischen ihnen ist von den Qualen der
Märtyrer die Rede -- lauten:

[Beginn Spaltensatz] Ooslosti" w,'b" ^si'it8Äsen,
IZoats, pÄLiiz visio,
(juss oslsa Ah vivöntidu"
Ls,xis s,ä Ästrs, tollsi'is,
8poiisASHv,s i'nu. oing'si'is
Unis MAölorum millilius .
[Spaltenumbruch] Loalpri Slüudi'is iotidus
M t,u,r>Avr.s pini'imÄ
Mdri politg, miülso
8ÄXÄ MolöM ovUKtl'UUnt,
^xtis^v,s junow usxidus
I^ooantur in kastigio.
[Ende Spaltensatz]

Das Poliertwerden ist eben das Tragische für die lebendigen Steine.
Nach Georgy soll zwar das Kunstwerk die Natur erklären helfen, aber es ist
samt dem Menschen, der es schafft, selbst nur ein Stück Natur.

Durch ein Erfühlen (wir müssen gewaltige Naturvorgänge eben in unsrer
Sprache bezeichnen), Hintasten, Aus- und Aufeincmderbezogensein schied sich das
Chaos und blieben beieinander und schössen zusammen die kleinen und allerkleinsten
Beförderungen zu größern oder mieden sich und prallten feindselig aufeinander.
Dort fühlte die Monere sich zur Monere gezogen, da sehnte die Zelle sich zur Zelle,
lauter physisch-chemische Vorgänge und Ereignisse, die ihre große Entwicklung und
Geschichte haben. Daher auch unsre Fähigkeit, zu scheiden, ein Ganzes zu bilden
und zu schauen, durch die fortgesetzte natürliche Entwicklung der Dinge unser Bewußt-


Zur Ästhetik des Tragischen

Ja, wenn sich das nur so leicht machte für uns, die wir nicht als Götter auf
das Leid, von ihm unberührt, herabschauen, sondern als seine fühlenden Opfer
es empfinden!

Das alles ist nun zwar Philosophie und Biologie, aber doch eigentlich
nicht Ästhetik. Für Ästhetik hält es Georgy, weil er dem Kunstwerk die Auf¬
gabe stellt, die Sprache der Natur zu verdeutlichen, d. h. noch deutlicher als
die Natur es auszusprechen, daß Gestaltwerden das Grundgesetz des Universums
ist. Nun hat es zwar mit diesem Gesetz seine Richtigkeit, auch kommt im
Ästhetischen auf die Gestalt alles an, aber das Dasein, das Universum erschöpft
sich nicht in Gestalten. Es enthält noch vielerlei andres: Anziehung und
Abstoßung, Liebe und Haß, Polarität, Ruhe und Bewegung, Entstehen und
Vergehen, Schein und Sein, Äußeres und Inneres. Alle diese Formen, Vor¬
gänge und Kräfte sind beim Gestalten tätig, können auch im Drama verwandt
werden, kommen aber nicht zur Geltung, wenn man das Gestaltwerden als
die einzige Seite des Daseins hervorhebt. Eine so einseitige Theorie wird
demnach weder dem Leben noch der Kunst gerecht. Übrigens würden sich der
Monist Georgy und der fromme Kanonikus Lämmer wundern, wenn sie mit¬
einander bekannt würden und erführen, daß sie beide denselben Gedanken haben.
Lämmer hat nämlich einmal einen sehr schönen Kommentar zum Kirchweih¬
hymnus geschrieben, in dem auch das Menschendasein und das Gotteswerk als
ein ineinander eingreifendes Gestalten erscheint, nur daß dies in einem nicht
dem organischen Leben, sondern dem künstlerischen Schaffen entnommenen Bilde
geschieht, und daß es sich bei einem Bilde von selbst versteht, daß dieses den
Gegenstand nur einseitig, nicht erschöpfend, darstellt. Die beiden hier in
Betracht kommenden Strophen — zwischen ihnen ist von den Qualen der
Märtyrer die Rede — lauten:

[Beginn Spaltensatz] Ooslosti» w,'b» ^si'it8Äsen,
IZoats, pÄLiiz visio,
(juss oslsa Ah vivöntidu»
Ls,xis s,ä Ästrs, tollsi'is,
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Unis MAölorum millilius .
[Spaltenumbruch] Loalpri Slüudi'is iotidus
M t,u,r>Avr.s pini'imÄ
Mdri politg, miülso
8ÄXÄ MolöM ovUKtl'UUnt,
^xtis^v,s junow usxidus
I^ooantur in kastigio.
[Ende Spaltensatz]

Das Poliertwerden ist eben das Tragische für die lebendigen Steine.
Nach Georgy soll zwar das Kunstwerk die Natur erklären helfen, aber es ist
samt dem Menschen, der es schafft, selbst nur ein Stück Natur.

Durch ein Erfühlen (wir müssen gewaltige Naturvorgänge eben in unsrer
Sprache bezeichnen), Hintasten, Aus- und Aufeincmderbezogensein schied sich das
Chaos und blieben beieinander und schössen zusammen die kleinen und allerkleinsten
Beförderungen zu größern oder mieden sich und prallten feindselig aufeinander.
Dort fühlte die Monere sich zur Monere gezogen, da sehnte die Zelle sich zur Zelle,
lauter physisch-chemische Vorgänge und Ereignisse, die ihre große Entwicklung und
Geschichte haben. Daher auch unsre Fähigkeit, zu scheiden, ein Ganzes zu bilden
und zu schauen, durch die fortgesetzte natürliche Entwicklung der Dinge unser Bewußt-


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[0358] Zur Ästhetik des Tragischen Ja, wenn sich das nur so leicht machte für uns, die wir nicht als Götter auf das Leid, von ihm unberührt, herabschauen, sondern als seine fühlenden Opfer es empfinden! Das alles ist nun zwar Philosophie und Biologie, aber doch eigentlich nicht Ästhetik. Für Ästhetik hält es Georgy, weil er dem Kunstwerk die Auf¬ gabe stellt, die Sprache der Natur zu verdeutlichen, d. h. noch deutlicher als die Natur es auszusprechen, daß Gestaltwerden das Grundgesetz des Universums ist. Nun hat es zwar mit diesem Gesetz seine Richtigkeit, auch kommt im Ästhetischen auf die Gestalt alles an, aber das Dasein, das Universum erschöpft sich nicht in Gestalten. Es enthält noch vielerlei andres: Anziehung und Abstoßung, Liebe und Haß, Polarität, Ruhe und Bewegung, Entstehen und Vergehen, Schein und Sein, Äußeres und Inneres. Alle diese Formen, Vor¬ gänge und Kräfte sind beim Gestalten tätig, können auch im Drama verwandt werden, kommen aber nicht zur Geltung, wenn man das Gestaltwerden als die einzige Seite des Daseins hervorhebt. Eine so einseitige Theorie wird demnach weder dem Leben noch der Kunst gerecht. Übrigens würden sich der Monist Georgy und der fromme Kanonikus Lämmer wundern, wenn sie mit¬ einander bekannt würden und erführen, daß sie beide denselben Gedanken haben. Lämmer hat nämlich einmal einen sehr schönen Kommentar zum Kirchweih¬ hymnus geschrieben, in dem auch das Menschendasein und das Gotteswerk als ein ineinander eingreifendes Gestalten erscheint, nur daß dies in einem nicht dem organischen Leben, sondern dem künstlerischen Schaffen entnommenen Bilde geschieht, und daß es sich bei einem Bilde von selbst versteht, daß dieses den Gegenstand nur einseitig, nicht erschöpfend, darstellt. Die beiden hier in Betracht kommenden Strophen — zwischen ihnen ist von den Qualen der Märtyrer die Rede — lauten: Ooslosti» w,'b» ^si'it8Äsen, IZoats, pÄLiiz visio, (juss oslsa Ah vivöntidu» Ls,xis s,ä Ästrs, tollsi'is, 8poiisASHv,s i'nu. oing'si'is Unis MAölorum millilius . Loalpri Slüudi'is iotidus M t,u,r>Avr.s pini'imÄ Mdri politg, miülso 8ÄXÄ MolöM ovUKtl'UUnt, ^xtis^v,s junow usxidus I^ooantur in kastigio. Das Poliertwerden ist eben das Tragische für die lebendigen Steine. Nach Georgy soll zwar das Kunstwerk die Natur erklären helfen, aber es ist samt dem Menschen, der es schafft, selbst nur ein Stück Natur. Durch ein Erfühlen (wir müssen gewaltige Naturvorgänge eben in unsrer Sprache bezeichnen), Hintasten, Aus- und Aufeincmderbezogensein schied sich das Chaos und blieben beieinander und schössen zusammen die kleinen und allerkleinsten Beförderungen zu größern oder mieden sich und prallten feindselig aufeinander. Dort fühlte die Monere sich zur Monere gezogen, da sehnte die Zelle sich zur Zelle, lauter physisch-chemische Vorgänge und Ereignisse, die ihre große Entwicklung und Geschichte haben. Daher auch unsre Fähigkeit, zu scheiden, ein Ganzes zu bilden und zu schauen, durch die fortgesetzte natürliche Entwicklung der Dinge unser Bewußt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/358>, abgerufen am 27.12.2024.