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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

andern Stelle bemerkt, der Dichter sei durchaus nicht verpflichtet, seinen
Schöpfungen eine bestimmte einheitliche Philosophie zugrunde zu legen, eine
abschließende Lösung der darin auftauchenden philosophischen Probleme zu
leisten, so darf man wohl sagen, daß christlicher Glaube überhaupt kein Hindernis
sei für die Schaffung tragischer Dichtungen. Die mit dem Christentum vollen
Ernst machen, verlegen sich nicht aufs Dichten; sie haben gar keine Zeit dazu.
Sie werden Heidenbekehrer oder Krankenpfleger oder puritanische Bußprediger
oder Mitglieder der Heilsarmee. Die gewöhnlichen Christen aber -- ich meine
nicht heuchlerische oder bloße Namenschristen, sondern aufrichtige --, für die
das Christentum nicht ein und alles, sondern nur Würze oder Stütze oder
beides ist, tun täglich hunderterlei Dinge, die ziemlich oder sehr unchristlich
sind, warum sollten sie nicht, wenn sie das Zeug dazu haben, auch trotzige
oder frevelhafte oder verliebte Helden dichten und sie auf eine schreckliche Weise
untergehn lassen? Und was das transzendente Schicksal betrifft -- Rettung
einer Seele durch die geweihte Benediktusmedaille können wir Heutigen freilich
ebensowenig brauchen wie den kindischen vsus sx ra^omina der sonst so großen
Alten (obwohl Goethe im Faust Wunder über Wunder passieren laßt). Aber
auch der orthodoxeste Glaube fordert das Wunder nicht. Er verbietet bloß,
die Möglichkeit des Wunders zu leugnen, und daß sich in der Vergangenheit
tatsächlich Wunder ereignet haben. Und gerade der Wunderbegriff hat das
Naturgesetz zur Voraussetzung, denn wo dieses nicht waltet, wo alles regellos
und willkürlich geschieht, da kann man von Ausnahmen, die Wunder genannt
werden, nicht sprechen. Der christliche Glaube ist also durchaus kein Hindernis
für den Dichter, in seinem Drama alles natürlich verlaufen zulassen und das
Schicksal seines Helden als das natürliche Ergebnis des Zusammenwirkens der
in dem Stück auftretenden Personen darzustellen. Die Frage des Philosophen,
ob die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens in einem bewußten göttlichen Willen
wurzle oder in der nicht weiter zu erklärenden Beschaffenheit der Materie,
der Atome, oder wie man sonst die Grundbestandteile der Welt nennen will,
diese Frage geht den Dichter nichts an, sofern er nicht gerade ein philosophisches
Gedicht schreiben will.

Der letzte Abschnitt des Buches ist der Metaphysik des Tragischen ge¬
widmet. Die Welt könnte, meint Volkelt, das Tragische nicht enthalten, wenn
seine Wurzel nicht bis in den Weltgrund hinabreichte, wenn dieser Weltgrund
als ein ungebrochen Einiges, als ein friedlich Gegensatzloses vorgestellt werden
müßte. Ganz abgesehen von allen auffälligen Unvollkommenheiten, von allen
auffälligen Schmerzen, Zerrüttungen, Irrtümern, Verschuldungen sei schon die
Endlichkeit an sich ein Widerspruch, seien die Formen der Endlichkeit, Zeit
und Raum, voller Widersprüche, was sehr hübsch durchgeführt wird. "Wäre
der Weltgrund nichts als lauteres, gegensatzloses Sein, das ruhig und be¬
friedigt in sich ruht, so wäre es nicht zu verstehn, wie aus ihm die Endlichkeit,
dieses irrationale, sich selbst aufhebende Sein, entspringen sollte." Aus einem


Zur Ästhetik des Tragischen

andern Stelle bemerkt, der Dichter sei durchaus nicht verpflichtet, seinen
Schöpfungen eine bestimmte einheitliche Philosophie zugrunde zu legen, eine
abschließende Lösung der darin auftauchenden philosophischen Probleme zu
leisten, so darf man wohl sagen, daß christlicher Glaube überhaupt kein Hindernis
sei für die Schaffung tragischer Dichtungen. Die mit dem Christentum vollen
Ernst machen, verlegen sich nicht aufs Dichten; sie haben gar keine Zeit dazu.
Sie werden Heidenbekehrer oder Krankenpfleger oder puritanische Bußprediger
oder Mitglieder der Heilsarmee. Die gewöhnlichen Christen aber — ich meine
nicht heuchlerische oder bloße Namenschristen, sondern aufrichtige —, für die
das Christentum nicht ein und alles, sondern nur Würze oder Stütze oder
beides ist, tun täglich hunderterlei Dinge, die ziemlich oder sehr unchristlich
sind, warum sollten sie nicht, wenn sie das Zeug dazu haben, auch trotzige
oder frevelhafte oder verliebte Helden dichten und sie auf eine schreckliche Weise
untergehn lassen? Und was das transzendente Schicksal betrifft — Rettung
einer Seele durch die geweihte Benediktusmedaille können wir Heutigen freilich
ebensowenig brauchen wie den kindischen vsus sx ra^omina der sonst so großen
Alten (obwohl Goethe im Faust Wunder über Wunder passieren laßt). Aber
auch der orthodoxeste Glaube fordert das Wunder nicht. Er verbietet bloß,
die Möglichkeit des Wunders zu leugnen, und daß sich in der Vergangenheit
tatsächlich Wunder ereignet haben. Und gerade der Wunderbegriff hat das
Naturgesetz zur Voraussetzung, denn wo dieses nicht waltet, wo alles regellos
und willkürlich geschieht, da kann man von Ausnahmen, die Wunder genannt
werden, nicht sprechen. Der christliche Glaube ist also durchaus kein Hindernis
für den Dichter, in seinem Drama alles natürlich verlaufen zulassen und das
Schicksal seines Helden als das natürliche Ergebnis des Zusammenwirkens der
in dem Stück auftretenden Personen darzustellen. Die Frage des Philosophen,
ob die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens in einem bewußten göttlichen Willen
wurzle oder in der nicht weiter zu erklärenden Beschaffenheit der Materie,
der Atome, oder wie man sonst die Grundbestandteile der Welt nennen will,
diese Frage geht den Dichter nichts an, sofern er nicht gerade ein philosophisches
Gedicht schreiben will.

Der letzte Abschnitt des Buches ist der Metaphysik des Tragischen ge¬
widmet. Die Welt könnte, meint Volkelt, das Tragische nicht enthalten, wenn
seine Wurzel nicht bis in den Weltgrund hinabreichte, wenn dieser Weltgrund
als ein ungebrochen Einiges, als ein friedlich Gegensatzloses vorgestellt werden
müßte. Ganz abgesehen von allen auffälligen Unvollkommenheiten, von allen
auffälligen Schmerzen, Zerrüttungen, Irrtümern, Verschuldungen sei schon die
Endlichkeit an sich ein Widerspruch, seien die Formen der Endlichkeit, Zeit
und Raum, voller Widersprüche, was sehr hübsch durchgeführt wird. „Wäre
der Weltgrund nichts als lauteres, gegensatzloses Sein, das ruhig und be¬
friedigt in sich ruht, so wäre es nicht zu verstehn, wie aus ihm die Endlichkeit,
dieses irrationale, sich selbst aufhebende Sein, entspringen sollte." Aus einem


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[0356] Zur Ästhetik des Tragischen andern Stelle bemerkt, der Dichter sei durchaus nicht verpflichtet, seinen Schöpfungen eine bestimmte einheitliche Philosophie zugrunde zu legen, eine abschließende Lösung der darin auftauchenden philosophischen Probleme zu leisten, so darf man wohl sagen, daß christlicher Glaube überhaupt kein Hindernis sei für die Schaffung tragischer Dichtungen. Die mit dem Christentum vollen Ernst machen, verlegen sich nicht aufs Dichten; sie haben gar keine Zeit dazu. Sie werden Heidenbekehrer oder Krankenpfleger oder puritanische Bußprediger oder Mitglieder der Heilsarmee. Die gewöhnlichen Christen aber — ich meine nicht heuchlerische oder bloße Namenschristen, sondern aufrichtige —, für die das Christentum nicht ein und alles, sondern nur Würze oder Stütze oder beides ist, tun täglich hunderterlei Dinge, die ziemlich oder sehr unchristlich sind, warum sollten sie nicht, wenn sie das Zeug dazu haben, auch trotzige oder frevelhafte oder verliebte Helden dichten und sie auf eine schreckliche Weise untergehn lassen? Und was das transzendente Schicksal betrifft — Rettung einer Seele durch die geweihte Benediktusmedaille können wir Heutigen freilich ebensowenig brauchen wie den kindischen vsus sx ra^omina der sonst so großen Alten (obwohl Goethe im Faust Wunder über Wunder passieren laßt). Aber auch der orthodoxeste Glaube fordert das Wunder nicht. Er verbietet bloß, die Möglichkeit des Wunders zu leugnen, und daß sich in der Vergangenheit tatsächlich Wunder ereignet haben. Und gerade der Wunderbegriff hat das Naturgesetz zur Voraussetzung, denn wo dieses nicht waltet, wo alles regellos und willkürlich geschieht, da kann man von Ausnahmen, die Wunder genannt werden, nicht sprechen. Der christliche Glaube ist also durchaus kein Hindernis für den Dichter, in seinem Drama alles natürlich verlaufen zulassen und das Schicksal seines Helden als das natürliche Ergebnis des Zusammenwirkens der in dem Stück auftretenden Personen darzustellen. Die Frage des Philosophen, ob die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens in einem bewußten göttlichen Willen wurzle oder in der nicht weiter zu erklärenden Beschaffenheit der Materie, der Atome, oder wie man sonst die Grundbestandteile der Welt nennen will, diese Frage geht den Dichter nichts an, sofern er nicht gerade ein philosophisches Gedicht schreiben will. Der letzte Abschnitt des Buches ist der Metaphysik des Tragischen ge¬ widmet. Die Welt könnte, meint Volkelt, das Tragische nicht enthalten, wenn seine Wurzel nicht bis in den Weltgrund hinabreichte, wenn dieser Weltgrund als ein ungebrochen Einiges, als ein friedlich Gegensatzloses vorgestellt werden müßte. Ganz abgesehen von allen auffälligen Unvollkommenheiten, von allen auffälligen Schmerzen, Zerrüttungen, Irrtümern, Verschuldungen sei schon die Endlichkeit an sich ein Widerspruch, seien die Formen der Endlichkeit, Zeit und Raum, voller Widersprüche, was sehr hübsch durchgeführt wird. „Wäre der Weltgrund nichts als lauteres, gegensatzloses Sein, das ruhig und be¬ friedigt in sich ruht, so wäre es nicht zu verstehn, wie aus ihm die Endlichkeit, dieses irrationale, sich selbst aufhebende Sein, entspringen sollte." Aus einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/356>, abgerufen am 23.07.2024.