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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

dem man die Etikette: "Ästhetik" aufgeklebt hat. Das Ästhetische im ursprüng¬
lichen Sinne ist das Schöne; Spiel aber ist das Gegenteil von Ernst und
von Arbeit: ist Bewegung oder Tätigkeit bloß um der Bewegung und der
Tätigkeit willen, ohne einen sittlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen
Zweck. Das Schöne ist nun keineswegs immer ein Spielzeug, und ein Spiel¬
zeug oder ein Spiel braucht nicht schön zu sein, das gehört nicht zu seinem
Wesen. Schöne Kirschen sind geradeso zum Essen da wie die unscheinbare oder
häßliche Kartoffel, und eine schöne Arbeitstube, eine geschmackvoll tapezierte
und möblierte geräumige Stube von guten Proportionen ist ein nicht weniger
ernsthaftes und sogar noch nützlicheres Ding als eine häßliche Stube, in der
man schlecht arbeiten kann, weil man sich nicht wohl darin fühlt. Ein Mensch
hört darum, weil er schön ist, noch nicht auf, ein wirkliches und leibhaftiges
Wesen zu sein, ein Wesen von inhaltlichen und sachlichen Wert, wenn ihn
auch allerdings die Gabe der Schönheit manchmal in Gefahr bringt, von
andern als Spielzeug gemißbraucht zu werden. Andrerseits: was ist denn
Schönes am Fuhrmann Henschel? Niemand und nichts ist schön darin, aber
gespielt wird er, und es gibt auch Leute, die Vergnügen daran finden, darum
gehört er ohne Zweifel in das Gebiet, das hergebrachterweise das ästhetische
genannt wird. Ein Spiel von Gassenjungen kann schön aussehen oder auch
nicht, ein Spiel geübter Sportsmen und Sportsladies sieht meist schön
aus. Ein Ballett ist schön, ein Kriegstanz maskierter Wilder schon weniger.
Die Verwandtschaft der beiden Gebiete besteht darin, daß ein unverdorbner
Geschmack zu Spielzeugen am liebsten schöne Gegenstünde erwählt, und daß
gesunde, junge und kräftige Menschen im Spiel anmutige Bewegungen machen,
die Schönheit ihrer Glieder und ihres ganzen Körperbaus zur Geltung bringen.
Das alles gilt nun auch vom Bühnenspiel. Es ist Spiel, denn die Personen
und Ereignisse, die dargestellt werden, sind keine wirklichen Personen und Er¬
eignisse, und der Genuß der Zuschauer besteht darin, daß sie im Geiste mit¬
spielen. Können sie es, als Mitglieder eines Liebhabertheaters, körperlich
tun, die Rollen selbst übernehmen, so steigert sich ihr Genuß, der im Einleben
besteht, ohne daß der Genuß des Schauens und Hörens ganz verloren ginge,
denn der Spielende sieht und hört ja die Mitspielenden, wenn diese vielleicht
auch keine großen Künstler sind. Beim Tanz liegen aktiver und passiver
Genuß weiter auseinander. Wer ein Ballett sieht, fühlt sich wohl auch, wenn
^ nicht gar zu korpulent oder zu alt ist, ein wenig angeregt, die Bewegungen
der Tänzer und Tänzerinnen innerlich mitzumachen, aber das Lustgefühl dieser
uur vorgestellten Motion ist verschwindend klein im Vergleich zu der Freude,
^e der schöne Anblick gewährt; die Teilnehmer an einem Ball dagegen sehen,
solange sie selbst tanzen, nur wenig von dem graziösen Fluge der Frackschöße
und der Schleppen der Mittanzenden. Gemeinsam aber ist allen solchen mensch¬
lichen Ergötzlichkeiten, daß dabei zwei Arten von Genuß: die Freude am
Schönen und die Freude an der Bewegung um der Bewegung willen, ge-


Zur Ästhetik des Tragischen

dem man die Etikette: „Ästhetik" aufgeklebt hat. Das Ästhetische im ursprüng¬
lichen Sinne ist das Schöne; Spiel aber ist das Gegenteil von Ernst und
von Arbeit: ist Bewegung oder Tätigkeit bloß um der Bewegung und der
Tätigkeit willen, ohne einen sittlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen
Zweck. Das Schöne ist nun keineswegs immer ein Spielzeug, und ein Spiel¬
zeug oder ein Spiel braucht nicht schön zu sein, das gehört nicht zu seinem
Wesen. Schöne Kirschen sind geradeso zum Essen da wie die unscheinbare oder
häßliche Kartoffel, und eine schöne Arbeitstube, eine geschmackvoll tapezierte
und möblierte geräumige Stube von guten Proportionen ist ein nicht weniger
ernsthaftes und sogar noch nützlicheres Ding als eine häßliche Stube, in der
man schlecht arbeiten kann, weil man sich nicht wohl darin fühlt. Ein Mensch
hört darum, weil er schön ist, noch nicht auf, ein wirkliches und leibhaftiges
Wesen zu sein, ein Wesen von inhaltlichen und sachlichen Wert, wenn ihn
auch allerdings die Gabe der Schönheit manchmal in Gefahr bringt, von
andern als Spielzeug gemißbraucht zu werden. Andrerseits: was ist denn
Schönes am Fuhrmann Henschel? Niemand und nichts ist schön darin, aber
gespielt wird er, und es gibt auch Leute, die Vergnügen daran finden, darum
gehört er ohne Zweifel in das Gebiet, das hergebrachterweise das ästhetische
genannt wird. Ein Spiel von Gassenjungen kann schön aussehen oder auch
nicht, ein Spiel geübter Sportsmen und Sportsladies sieht meist schön
aus. Ein Ballett ist schön, ein Kriegstanz maskierter Wilder schon weniger.
Die Verwandtschaft der beiden Gebiete besteht darin, daß ein unverdorbner
Geschmack zu Spielzeugen am liebsten schöne Gegenstünde erwählt, und daß
gesunde, junge und kräftige Menschen im Spiel anmutige Bewegungen machen,
die Schönheit ihrer Glieder und ihres ganzen Körperbaus zur Geltung bringen.
Das alles gilt nun auch vom Bühnenspiel. Es ist Spiel, denn die Personen
und Ereignisse, die dargestellt werden, sind keine wirklichen Personen und Er¬
eignisse, und der Genuß der Zuschauer besteht darin, daß sie im Geiste mit¬
spielen. Können sie es, als Mitglieder eines Liebhabertheaters, körperlich
tun, die Rollen selbst übernehmen, so steigert sich ihr Genuß, der im Einleben
besteht, ohne daß der Genuß des Schauens und Hörens ganz verloren ginge,
denn der Spielende sieht und hört ja die Mitspielenden, wenn diese vielleicht
auch keine großen Künstler sind. Beim Tanz liegen aktiver und passiver
Genuß weiter auseinander. Wer ein Ballett sieht, fühlt sich wohl auch, wenn
^ nicht gar zu korpulent oder zu alt ist, ein wenig angeregt, die Bewegungen
der Tänzer und Tänzerinnen innerlich mitzumachen, aber das Lustgefühl dieser
uur vorgestellten Motion ist verschwindend klein im Vergleich zu der Freude,
^e der schöne Anblick gewährt; die Teilnehmer an einem Ball dagegen sehen,
solange sie selbst tanzen, nur wenig von dem graziösen Fluge der Frackschöße
und der Schleppen der Mittanzenden. Gemeinsam aber ist allen solchen mensch¬
lichen Ergötzlichkeiten, daß dabei zwei Arten von Genuß: die Freude am
Schönen und die Freude an der Bewegung um der Bewegung willen, ge-


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[0353] Zur Ästhetik des Tragischen dem man die Etikette: „Ästhetik" aufgeklebt hat. Das Ästhetische im ursprüng¬ lichen Sinne ist das Schöne; Spiel aber ist das Gegenteil von Ernst und von Arbeit: ist Bewegung oder Tätigkeit bloß um der Bewegung und der Tätigkeit willen, ohne einen sittlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Zweck. Das Schöne ist nun keineswegs immer ein Spielzeug, und ein Spiel¬ zeug oder ein Spiel braucht nicht schön zu sein, das gehört nicht zu seinem Wesen. Schöne Kirschen sind geradeso zum Essen da wie die unscheinbare oder häßliche Kartoffel, und eine schöne Arbeitstube, eine geschmackvoll tapezierte und möblierte geräumige Stube von guten Proportionen ist ein nicht weniger ernsthaftes und sogar noch nützlicheres Ding als eine häßliche Stube, in der man schlecht arbeiten kann, weil man sich nicht wohl darin fühlt. Ein Mensch hört darum, weil er schön ist, noch nicht auf, ein wirkliches und leibhaftiges Wesen zu sein, ein Wesen von inhaltlichen und sachlichen Wert, wenn ihn auch allerdings die Gabe der Schönheit manchmal in Gefahr bringt, von andern als Spielzeug gemißbraucht zu werden. Andrerseits: was ist denn Schönes am Fuhrmann Henschel? Niemand und nichts ist schön darin, aber gespielt wird er, und es gibt auch Leute, die Vergnügen daran finden, darum gehört er ohne Zweifel in das Gebiet, das hergebrachterweise das ästhetische genannt wird. Ein Spiel von Gassenjungen kann schön aussehen oder auch nicht, ein Spiel geübter Sportsmen und Sportsladies sieht meist schön aus. Ein Ballett ist schön, ein Kriegstanz maskierter Wilder schon weniger. Die Verwandtschaft der beiden Gebiete besteht darin, daß ein unverdorbner Geschmack zu Spielzeugen am liebsten schöne Gegenstünde erwählt, und daß gesunde, junge und kräftige Menschen im Spiel anmutige Bewegungen machen, die Schönheit ihrer Glieder und ihres ganzen Körperbaus zur Geltung bringen. Das alles gilt nun auch vom Bühnenspiel. Es ist Spiel, denn die Personen und Ereignisse, die dargestellt werden, sind keine wirklichen Personen und Er¬ eignisse, und der Genuß der Zuschauer besteht darin, daß sie im Geiste mit¬ spielen. Können sie es, als Mitglieder eines Liebhabertheaters, körperlich tun, die Rollen selbst übernehmen, so steigert sich ihr Genuß, der im Einleben besteht, ohne daß der Genuß des Schauens und Hörens ganz verloren ginge, denn der Spielende sieht und hört ja die Mitspielenden, wenn diese vielleicht auch keine großen Künstler sind. Beim Tanz liegen aktiver und passiver Genuß weiter auseinander. Wer ein Ballett sieht, fühlt sich wohl auch, wenn ^ nicht gar zu korpulent oder zu alt ist, ein wenig angeregt, die Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen innerlich mitzumachen, aber das Lustgefühl dieser uur vorgestellten Motion ist verschwindend klein im Vergleich zu der Freude, ^e der schöne Anblick gewährt; die Teilnehmer an einem Ball dagegen sehen, solange sie selbst tanzen, nur wenig von dem graziösen Fluge der Frackschöße und der Schleppen der Mittanzenden. Gemeinsam aber ist allen solchen mensch¬ lichen Ergötzlichkeiten, daß dabei zwei Arten von Genuß: die Freude am Schönen und die Freude an der Bewegung um der Bewegung willen, ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/353>, abgerufen am 23.07.2024.