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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Trennung der Airchen und des Staats in Frankreich

sprechende Regierungsform, und die Anfeindungen, die sie von ihrer Gründung
an durch die Klerikalen erfahren hat, sind der Befestigung der Republik nur
förderlich gewesen. Durchaus zutreffend schreibt Paul Sabatier:

"Seit 1870 hat die französische Demokratie nicht aufgehört, sich ihrer
selbst mehr und mehr bewußt zu werden. Sie hat über alle Krisen triumphiert,
alle Gifte ausgestoßen. Durch die Bezeichnung "weltlich" kündigt sie an, daß
sie auf jede Art göttlichen politischen Rechts verzichtet, und daß sie aus diesem
Verzichte alle Konsequenzen ziehn will. Der Kastengeist widerstrebt ihr; in
allem und überall schreitet sie zur Freiheit und zum Lichte vor, ebenso ab¬
geneigt allen Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen wie den
Heimlichkeiten der Kanzleien. Sie will den obligatorischen weltlichen Unter¬
richt; denn daß ein andrer für uns denken könne, erscheint ihr ebenso unmög¬
lich, wie von einem andern zu verlangen, für uns zu essen und zu verdauen.
Sie will, daß jeder Einzelne ein Bürger werde, das heißt ein tätiges und
einsichtsvolles Mitglied der Gesellschaft, und dieser Bürger hat ebensowenig
das Recht, auf eine seiner Pflichten oder eines seiner Rechte zu verzichten,
wie er das Recht hat, sich zu entmannen. Unsre ältern Brüder hatten vor
dreißig Jahren noch Stellvertreter, die in ihrem Namen für tausend oder
zweitausend Franken Heeresdienst taten. Heute, nach kaum einem Menschen¬
alter, erscheint uns der Gedanke der Stellvertretung wie eine Ungeheuerlichkeit.
Das ist in kurzen Zügen die Geistesrichtung der Demokratie, die, weit ent¬
fernt, sich schon am Ziele zu wähnen, vielmehr überzeugt ist, daß alles, was
sie bisher getan hat, nur der Anfang der kommenden Zivilisation ist."

Über diese kommende Zivilisation entwickelt nun Paul Sabatier, gestützt
auf eigne feinsinnige Beobachtungen, höchst interessante und geistreiche Ge¬
danken. Was die französische Demokratie in allen ihren Gruppen am Ka¬
tholizismus verabscheut, ist, meint er, nicht das Dogma, sondern einzig und
allein seine politische Haltung. Damit scheint ihm die Antwort auf die Frage,
welche Stellung der Katholizismus zukünftig in Frankreich einnehmen wird,
gegeben zu sein. Es kommt darauf an, welche Stellung der unfehlbare Papst
zu der Trennung der Kirche vom Staate einnehmen wird. Indem Pius der
Zehnte die Kultusvereine anerkennt oder verwirft, wird er eine Prinzipien¬
frage entscheiden, die Frage, ob die Demokratie eine Ketzerei ist oder nicht.
Von dieser Entscheidung hängt zwar nicht das Schicksal Frankreichs ab,
wohl aber die Zukunft der römischen Kirche in Frankreich. "Frankreich,
schreibt Sabatier, hat gleich vielen andern Völkern eine Art ehelicher Ver¬
bindung mit den demokratischen Ideen geschlossen. Die alte Kirche hat alles,
was in ihrer Macht stand, getan, um diese Verbindung zu verhüten; jetzt, wo
sie vollzogen ist, handelt es sich nur noch um die Frage, ob sie von der
Kirche anerkannt oder verworfen wird. Im Falle der Anerkennung wird
Frankreich fortfahren, so gut oder so schlecht es geht, mit der Kirche zu leben
wie mit einer Mutter, die man liebt und achtet, obwohl sie einer vergangnen


Die Trennung der Airchen und des Staats in Frankreich

sprechende Regierungsform, und die Anfeindungen, die sie von ihrer Gründung
an durch die Klerikalen erfahren hat, sind der Befestigung der Republik nur
förderlich gewesen. Durchaus zutreffend schreibt Paul Sabatier:

„Seit 1870 hat die französische Demokratie nicht aufgehört, sich ihrer
selbst mehr und mehr bewußt zu werden. Sie hat über alle Krisen triumphiert,
alle Gifte ausgestoßen. Durch die Bezeichnung »weltlich« kündigt sie an, daß
sie auf jede Art göttlichen politischen Rechts verzichtet, und daß sie aus diesem
Verzichte alle Konsequenzen ziehn will. Der Kastengeist widerstrebt ihr; in
allem und überall schreitet sie zur Freiheit und zum Lichte vor, ebenso ab¬
geneigt allen Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen wie den
Heimlichkeiten der Kanzleien. Sie will den obligatorischen weltlichen Unter¬
richt; denn daß ein andrer für uns denken könne, erscheint ihr ebenso unmög¬
lich, wie von einem andern zu verlangen, für uns zu essen und zu verdauen.
Sie will, daß jeder Einzelne ein Bürger werde, das heißt ein tätiges und
einsichtsvolles Mitglied der Gesellschaft, und dieser Bürger hat ebensowenig
das Recht, auf eine seiner Pflichten oder eines seiner Rechte zu verzichten,
wie er das Recht hat, sich zu entmannen. Unsre ältern Brüder hatten vor
dreißig Jahren noch Stellvertreter, die in ihrem Namen für tausend oder
zweitausend Franken Heeresdienst taten. Heute, nach kaum einem Menschen¬
alter, erscheint uns der Gedanke der Stellvertretung wie eine Ungeheuerlichkeit.
Das ist in kurzen Zügen die Geistesrichtung der Demokratie, die, weit ent¬
fernt, sich schon am Ziele zu wähnen, vielmehr überzeugt ist, daß alles, was
sie bisher getan hat, nur der Anfang der kommenden Zivilisation ist."

Über diese kommende Zivilisation entwickelt nun Paul Sabatier, gestützt
auf eigne feinsinnige Beobachtungen, höchst interessante und geistreiche Ge¬
danken. Was die französische Demokratie in allen ihren Gruppen am Ka¬
tholizismus verabscheut, ist, meint er, nicht das Dogma, sondern einzig und
allein seine politische Haltung. Damit scheint ihm die Antwort auf die Frage,
welche Stellung der Katholizismus zukünftig in Frankreich einnehmen wird,
gegeben zu sein. Es kommt darauf an, welche Stellung der unfehlbare Papst
zu der Trennung der Kirche vom Staate einnehmen wird. Indem Pius der
Zehnte die Kultusvereine anerkennt oder verwirft, wird er eine Prinzipien¬
frage entscheiden, die Frage, ob die Demokratie eine Ketzerei ist oder nicht.
Von dieser Entscheidung hängt zwar nicht das Schicksal Frankreichs ab,
wohl aber die Zukunft der römischen Kirche in Frankreich. „Frankreich,
schreibt Sabatier, hat gleich vielen andern Völkern eine Art ehelicher Ver¬
bindung mit den demokratischen Ideen geschlossen. Die alte Kirche hat alles,
was in ihrer Macht stand, getan, um diese Verbindung zu verhüten; jetzt, wo
sie vollzogen ist, handelt es sich nur noch um die Frage, ob sie von der
Kirche anerkannt oder verworfen wird. Im Falle der Anerkennung wird
Frankreich fortfahren, so gut oder so schlecht es geht, mit der Kirche zu leben
wie mit einer Mutter, die man liebt und achtet, obwohl sie einer vergangnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/346>, abgerufen am 23.07.2024.