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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

In der Tat hatten die philosophischen Ideen der Zeit auch auf die Re¬
gierenden den größten Eindruck gemacht: Frau von Pompadour bekannte sich
zur Partei der Philosophen, Ludwig der Fünfzehnte bezeichnete seinen Leibarzt
Quesnay, den Begründer der Physiokratie, als "seinen eignen Philosophen",
und das Ministerium Choiseul (seit 1761) entwickelte eine "geradezu fieberhafte
Neformtätigkeit", und zwar besonders auf militärischem Gebiete. Hier wurden
die Kompagnien von unsaubern Leuten gereinigt, die bisher käuflichen Haupt¬
mannsstellen abgeschafft und durch den König besetzt, die Regimenter zu größer"
aus allen Waffengattungen bestehenden Verbänden, Divisionen, zusammengezogen,
endlich die Waffen selbst sehr verbessert und vermehrt. Dagegen gelang es
Choiseul nicht, die Disziplinlosigkeit der Truppen und die Unzulänglichkeit der
Offizierausbildung auch in der Kriegsschule sowie die Mängel in der Marine
zu beseitigen; dazu war der alte Staat zu schwach und zu gutmütig. In der
innern Verwaltung hatte schon der Regent, Herzog von Orleans, einschneidende
Reformen vorgenommen, aber zum Teil wieder fallen lassen, da sie sich als
unpraktisch erwiesen. Unter der Regierung des Kardinals Fleury trat dann
eine Ruhepause ein, die erst um 1750 unter dem Einfluß der neuen Philo¬
sophie ihr Eude erreichte. Zunächst förderte man seit dieser Zeit die Land¬
wirtschaft durch Gründung von Ackerbaugesellschaften, durch Urbarmachung von
Odlündereien, von denen bis 1776 eine Million Morgen in guten Getreide¬
boden verwandelt wurden, durch Erleichterung des Gutsverkaufs und des Ge¬
treidehandels; aber die vernünftigen Erlasse über den freien Getreidehandel
riefen doch wieder die Opposition der Parlamente, deren Mitglieder vielfach
Gutsbesitzer waren, hervor, und so ließ man sie fallen, ebenso wie die geplante
Beseitigung der innern Zollschranken nicht zustande kam. Dagegen wirkten die
zahlreichen Gesetze zugunsten der Industrie und der Fabriktätigkeit überaus
segensreich, worauf schon früher hingewiesen worden ist. Eine andre Reform,
die der Stadtverwaltung, bestand nur sechs Jahre; sie war so radikal, daß sie
der revolutionären Gesetzgebung sehr nahe kam. Danach ging die Verwaltung
von den kömglichen Beamten auf den Stadtrat und auf die Notcibelnver-
sammlung von vierzehn Mitgliedern über, die den verschiedensten Ständen bis
zum Handwerker hinab angehörten; überall kam der Selbstverwaltungsgedanke
zum Ausdruck, und die Städteordnung galt für das ganze Reich. Aber die
Bürger verbanden sich nicht immer "zum gemeinen Nutzen". Die gewählten
Beamten zeigten sich parteiisch, die Wahlen führten zu Skandalen und Prozessen,
kurz: das Bürgertum machte von der erlangten Freiheit den schlechtesten Ge¬
brauch, und die neuen Gesetze wurden (1771) wieder abgeschafft. In demselben
Jahre begann die Reform des Justizwesens, die ebenfalls einen entschiednen
Fortschritt bedeutete, und an der Ludwig der Fünfzehnte trotz dem Widerspruch
der öffentlichen Meinung bis zum Tode festgehalten hat. In dem großen Be¬
zirke des Pariser Parlaments wurden nämlich zur Erleichterung des Gerichtsver¬
fahrens sechs neue Gerichtshöfe (Oovssils Luxöriöurs) eingerichtet, die Käuflichkeit


Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

In der Tat hatten die philosophischen Ideen der Zeit auch auf die Re¬
gierenden den größten Eindruck gemacht: Frau von Pompadour bekannte sich
zur Partei der Philosophen, Ludwig der Fünfzehnte bezeichnete seinen Leibarzt
Quesnay, den Begründer der Physiokratie, als „seinen eignen Philosophen",
und das Ministerium Choiseul (seit 1761) entwickelte eine „geradezu fieberhafte
Neformtätigkeit", und zwar besonders auf militärischem Gebiete. Hier wurden
die Kompagnien von unsaubern Leuten gereinigt, die bisher käuflichen Haupt¬
mannsstellen abgeschafft und durch den König besetzt, die Regimenter zu größer»
aus allen Waffengattungen bestehenden Verbänden, Divisionen, zusammengezogen,
endlich die Waffen selbst sehr verbessert und vermehrt. Dagegen gelang es
Choiseul nicht, die Disziplinlosigkeit der Truppen und die Unzulänglichkeit der
Offizierausbildung auch in der Kriegsschule sowie die Mängel in der Marine
zu beseitigen; dazu war der alte Staat zu schwach und zu gutmütig. In der
innern Verwaltung hatte schon der Regent, Herzog von Orleans, einschneidende
Reformen vorgenommen, aber zum Teil wieder fallen lassen, da sie sich als
unpraktisch erwiesen. Unter der Regierung des Kardinals Fleury trat dann
eine Ruhepause ein, die erst um 1750 unter dem Einfluß der neuen Philo¬
sophie ihr Eude erreichte. Zunächst förderte man seit dieser Zeit die Land¬
wirtschaft durch Gründung von Ackerbaugesellschaften, durch Urbarmachung von
Odlündereien, von denen bis 1776 eine Million Morgen in guten Getreide¬
boden verwandelt wurden, durch Erleichterung des Gutsverkaufs und des Ge¬
treidehandels; aber die vernünftigen Erlasse über den freien Getreidehandel
riefen doch wieder die Opposition der Parlamente, deren Mitglieder vielfach
Gutsbesitzer waren, hervor, und so ließ man sie fallen, ebenso wie die geplante
Beseitigung der innern Zollschranken nicht zustande kam. Dagegen wirkten die
zahlreichen Gesetze zugunsten der Industrie und der Fabriktätigkeit überaus
segensreich, worauf schon früher hingewiesen worden ist. Eine andre Reform,
die der Stadtverwaltung, bestand nur sechs Jahre; sie war so radikal, daß sie
der revolutionären Gesetzgebung sehr nahe kam. Danach ging die Verwaltung
von den kömglichen Beamten auf den Stadtrat und auf die Notcibelnver-
sammlung von vierzehn Mitgliedern über, die den verschiedensten Ständen bis
zum Handwerker hinab angehörten; überall kam der Selbstverwaltungsgedanke
zum Ausdruck, und die Städteordnung galt für das ganze Reich. Aber die
Bürger verbanden sich nicht immer „zum gemeinen Nutzen". Die gewählten
Beamten zeigten sich parteiisch, die Wahlen führten zu Skandalen und Prozessen,
kurz: das Bürgertum machte von der erlangten Freiheit den schlechtesten Ge¬
brauch, und die neuen Gesetze wurden (1771) wieder abgeschafft. In demselben
Jahre begann die Reform des Justizwesens, die ebenfalls einen entschiednen
Fortschritt bedeutete, und an der Ludwig der Fünfzehnte trotz dem Widerspruch
der öffentlichen Meinung bis zum Tode festgehalten hat. In dem großen Be¬
zirke des Pariser Parlaments wurden nämlich zur Erleichterung des Gerichtsver¬
fahrens sechs neue Gerichtshöfe (Oovssils Luxöriöurs) eingerichtet, die Käuflichkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/300>, abgerufen am 23.07.2024.