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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die württembergische Verfassungsreform

ernannten Mitgliedern, acht Rittern, zwei evangelischen Generalsuperintendenten,
den Präsidenten des evangelischen Konsistoriums und der evangelischen Landes¬
synode, einem Vertreter des bischöflichen Ordinariats, einem von seinen Amts¬
genossen gewählten katholischen Dekan, einem Abgeordneten der Universität
Tübingen und einem der technischen Hochschule in Stuttgart, zwei Vertretern
der Landwirtschaftskammern, zwei der Handelskammern und der damit ver-
bundnen Industrie, einem Vertreter der Handwerkerkammern. Das ergibt
zusammen 50 Mitglieder statt bisher 29. Die zweite Kammer wird sich
zusammensetzen aus 69 Abgeordneten der Bezirkswahlen, nämlich aus Ver¬
tretern der 63 Oberamtsbezirke und der 6 "guten" Städte Ellwangen, Heil¬
bronn, Ludwigsburg, Neutlingen, Tübingen und Ulm, und aus 23 Abge¬
ordneten der Proporzwahlen, nämlich 6 Vertretern der "guten" Stadt Stuttgart
und 17 Abgesandten der zwei Landeswahlkreise. Die Gesamtzahl der Mit¬
glieder zur zweiten Kammer wird 92 sein, wie bisher auch, da der katholische
Bischof tatsächlich seinen Sitz in der zweiten Kammer fast gar nie einge¬
nommen hat.

Was nun aus dieser Neugestaltung der Landstünde für Württemberg
hervorgehn wird, das vorherzusagen möchten wir uns nicht unterfangen. Eins
ist gewiß: wenn allmählich eine unaufhaltsame Strömung auf diese Reform hin¬
drängte, die sogar Widerstrebende ergriff, so ist es nicht das Gefühl von der
Schädlichkeit der Zusammensetzung der zweiten Kammer, das hier entscheidend
gewirkt hat. Vielmehr haben Freund und Feind mehr als einmal es den
Rittern und Prälaten zugestanden, daß die zweite Kammer an ihnen sehr wert¬
volle Mitglieder gehabt hat, daß sie ohne Ausnahme gebildete, ja zum Teil
hochgebildete Männer waren, die mit freieren Blick als viele Gewählte des
Volkes die staatlichen Aufgaben und Bedürfnisse erfaßten; daß sie keinen
wahren und gesunden Fortschritt je verhindert, wohl aber jeden solchen ge¬
fördert; und daß sie Tagesgötzen gegenüber oft eine Unabhängigkeit des Geistes
betätigt haben, die dem öffentlichen Interesse nur frommte, und zu der sich die
Gewählten des Volkes nur schwer erheben konnten. Wenn trotzdem der Ruf
nach der Entfernung dieser Männer aus der zweiten Kammer immer stärker
erscholl, so kam das von dem Erstarken des demokratischen Geistes im neun¬
zehnten Jahrhundert her, dem die Anwesenheit bevorrechteter Gesetzgeber im
Landtag grundsätzlich zuwider war; sollten etliche 80 ritterschaftliche Familien
die Stimmen von 13 Oberämtern, 6 kraft ihres Amts berufne General¬
superintendenten und 3 katholische Kirchenmünner die von 9 aufwiegen? All¬
mählich aber wurde die Reformbedürftigkeit auch der ersten Kammer, in der
17 katholische Mitglieder 12 evangelischen gegenüberstanden, wo außer den
sechs durch den König ernannten nur Prinzen und Magnaten saßen, in einem
Lande tief empfunden, dessen Volk fast zu 71 Prozent evangelisch ist, und in
dem der kleine und mittlere Besitz den Großbesitz bei weitem überwiegt. So
bildete sich eine immer mehr wachsende Einheit der Überzeugung aller Parteien


Die württembergische Verfassungsreform

ernannten Mitgliedern, acht Rittern, zwei evangelischen Generalsuperintendenten,
den Präsidenten des evangelischen Konsistoriums und der evangelischen Landes¬
synode, einem Vertreter des bischöflichen Ordinariats, einem von seinen Amts¬
genossen gewählten katholischen Dekan, einem Abgeordneten der Universität
Tübingen und einem der technischen Hochschule in Stuttgart, zwei Vertretern
der Landwirtschaftskammern, zwei der Handelskammern und der damit ver-
bundnen Industrie, einem Vertreter der Handwerkerkammern. Das ergibt
zusammen 50 Mitglieder statt bisher 29. Die zweite Kammer wird sich
zusammensetzen aus 69 Abgeordneten der Bezirkswahlen, nämlich aus Ver¬
tretern der 63 Oberamtsbezirke und der 6 „guten" Städte Ellwangen, Heil¬
bronn, Ludwigsburg, Neutlingen, Tübingen und Ulm, und aus 23 Abge¬
ordneten der Proporzwahlen, nämlich 6 Vertretern der „guten" Stadt Stuttgart
und 17 Abgesandten der zwei Landeswahlkreise. Die Gesamtzahl der Mit¬
glieder zur zweiten Kammer wird 92 sein, wie bisher auch, da der katholische
Bischof tatsächlich seinen Sitz in der zweiten Kammer fast gar nie einge¬
nommen hat.

Was nun aus dieser Neugestaltung der Landstünde für Württemberg
hervorgehn wird, das vorherzusagen möchten wir uns nicht unterfangen. Eins
ist gewiß: wenn allmählich eine unaufhaltsame Strömung auf diese Reform hin¬
drängte, die sogar Widerstrebende ergriff, so ist es nicht das Gefühl von der
Schädlichkeit der Zusammensetzung der zweiten Kammer, das hier entscheidend
gewirkt hat. Vielmehr haben Freund und Feind mehr als einmal es den
Rittern und Prälaten zugestanden, daß die zweite Kammer an ihnen sehr wert¬
volle Mitglieder gehabt hat, daß sie ohne Ausnahme gebildete, ja zum Teil
hochgebildete Männer waren, die mit freieren Blick als viele Gewählte des
Volkes die staatlichen Aufgaben und Bedürfnisse erfaßten; daß sie keinen
wahren und gesunden Fortschritt je verhindert, wohl aber jeden solchen ge¬
fördert; und daß sie Tagesgötzen gegenüber oft eine Unabhängigkeit des Geistes
betätigt haben, die dem öffentlichen Interesse nur frommte, und zu der sich die
Gewählten des Volkes nur schwer erheben konnten. Wenn trotzdem der Ruf
nach der Entfernung dieser Männer aus der zweiten Kammer immer stärker
erscholl, so kam das von dem Erstarken des demokratischen Geistes im neun¬
zehnten Jahrhundert her, dem die Anwesenheit bevorrechteter Gesetzgeber im
Landtag grundsätzlich zuwider war; sollten etliche 80 ritterschaftliche Familien
die Stimmen von 13 Oberämtern, 6 kraft ihres Amts berufne General¬
superintendenten und 3 katholische Kirchenmünner die von 9 aufwiegen? All¬
mählich aber wurde die Reformbedürftigkeit auch der ersten Kammer, in der
17 katholische Mitglieder 12 evangelischen gegenüberstanden, wo außer den
sechs durch den König ernannten nur Prinzen und Magnaten saßen, in einem
Lande tief empfunden, dessen Volk fast zu 71 Prozent evangelisch ist, und in
dem der kleine und mittlere Besitz den Großbesitz bei weitem überwiegt. So
bildete sich eine immer mehr wachsende Einheit der Überzeugung aller Parteien


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[0296] Die württembergische Verfassungsreform ernannten Mitgliedern, acht Rittern, zwei evangelischen Generalsuperintendenten, den Präsidenten des evangelischen Konsistoriums und der evangelischen Landes¬ synode, einem Vertreter des bischöflichen Ordinariats, einem von seinen Amts¬ genossen gewählten katholischen Dekan, einem Abgeordneten der Universität Tübingen und einem der technischen Hochschule in Stuttgart, zwei Vertretern der Landwirtschaftskammern, zwei der Handelskammern und der damit ver- bundnen Industrie, einem Vertreter der Handwerkerkammern. Das ergibt zusammen 50 Mitglieder statt bisher 29. Die zweite Kammer wird sich zusammensetzen aus 69 Abgeordneten der Bezirkswahlen, nämlich aus Ver¬ tretern der 63 Oberamtsbezirke und der 6 „guten" Städte Ellwangen, Heil¬ bronn, Ludwigsburg, Neutlingen, Tübingen und Ulm, und aus 23 Abge¬ ordneten der Proporzwahlen, nämlich 6 Vertretern der „guten" Stadt Stuttgart und 17 Abgesandten der zwei Landeswahlkreise. Die Gesamtzahl der Mit¬ glieder zur zweiten Kammer wird 92 sein, wie bisher auch, da der katholische Bischof tatsächlich seinen Sitz in der zweiten Kammer fast gar nie einge¬ nommen hat. Was nun aus dieser Neugestaltung der Landstünde für Württemberg hervorgehn wird, das vorherzusagen möchten wir uns nicht unterfangen. Eins ist gewiß: wenn allmählich eine unaufhaltsame Strömung auf diese Reform hin¬ drängte, die sogar Widerstrebende ergriff, so ist es nicht das Gefühl von der Schädlichkeit der Zusammensetzung der zweiten Kammer, das hier entscheidend gewirkt hat. Vielmehr haben Freund und Feind mehr als einmal es den Rittern und Prälaten zugestanden, daß die zweite Kammer an ihnen sehr wert¬ volle Mitglieder gehabt hat, daß sie ohne Ausnahme gebildete, ja zum Teil hochgebildete Männer waren, die mit freieren Blick als viele Gewählte des Volkes die staatlichen Aufgaben und Bedürfnisse erfaßten; daß sie keinen wahren und gesunden Fortschritt je verhindert, wohl aber jeden solchen ge¬ fördert; und daß sie Tagesgötzen gegenüber oft eine Unabhängigkeit des Geistes betätigt haben, die dem öffentlichen Interesse nur frommte, und zu der sich die Gewählten des Volkes nur schwer erheben konnten. Wenn trotzdem der Ruf nach der Entfernung dieser Männer aus der zweiten Kammer immer stärker erscholl, so kam das von dem Erstarken des demokratischen Geistes im neun¬ zehnten Jahrhundert her, dem die Anwesenheit bevorrechteter Gesetzgeber im Landtag grundsätzlich zuwider war; sollten etliche 80 ritterschaftliche Familien die Stimmen von 13 Oberämtern, 6 kraft ihres Amts berufne General¬ superintendenten und 3 katholische Kirchenmünner die von 9 aufwiegen? All¬ mählich aber wurde die Reformbedürftigkeit auch der ersten Kammer, in der 17 katholische Mitglieder 12 evangelischen gegenüberstanden, wo außer den sechs durch den König ernannten nur Prinzen und Magnaten saßen, in einem Lande tief empfunden, dessen Volk fast zu 71 Prozent evangelisch ist, und in dem der kleine und mittlere Besitz den Großbesitz bei weitem überwiegt. So bildete sich eine immer mehr wachsende Einheit der Überzeugung aller Parteien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/296>, abgerufen am 27.12.2024.