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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die württembergische Verfassungsreform

Schaffung, Erhöhung und Verringerung aller Steuern, deren Satz gesetzlich
bestimmt ist, ein Veto haben soll; damit ist etwaigen aus Popularitütshascherei
hervorgehenden finanzpolitischen Experimenten etwaiger radikaler Mehrheiten
der zweiten Kammer ein Riegel vorgeschoben. Solche Steuern mit festem
Satz sind u. a. das Umgeld auf Wein und die Einkommensteuer.

In der zweiten Kammer verlangten die Konservativen, Bauernbündler
und die Ritter sowie das Zentrum statt der ausscheidenden Bevorrechteten
einen Ersatz durch berufsständische Vertreter; aber über das Wie konnten sich
diese Parteien selbst nicht einigen, und die andern Parteien brachten allerlei
gewichtige Einwände dagegen vor. Schließlich siegte der Vorschlag, den Ersatz
durch siebzehn im ganzen Lande als einem Wahlkreis zu wählende Proporz¬
abgeordnete zu beschaffen, mit sehr starker Mehrheit; der an sich gar nicht
unebene Vorschlag der Regierung, es bei der "kleinen Kammer" von 75 Ab¬
geordneten bewenden zu lassen, wurde als Zumutung zu einer Art von Selbst-
Verstümmlung der bisher 93 Köpfe zählenden zweiten Kammer empfunden und
fast von allen Seiten unwillig abgelehnt. Schließlich ging der Proporz in
der Tat durch, aber aus Verlangen der ersten Kammer, die das Gespenst
eines schwäbischen Boulanger an dem Zukunftshorizont aufsteigen sah, in der
Form, daß das Land für den Proporz in zwei Wahlkreise zerlegt werden soll,
einen nördlichen (Neckar- und Jagstkreis) mit neun und einen südlichen (Schwarz¬
wald- und Donaukreis) mit acht Abgeordneten. So sollte die Möglichkeit
einer das ganze "Lündle" mit sich fortreißenden plebiszitären Bewegung abge¬
schnitten werden. Auf diesen Grundlagen kam am 9. Juli 1906 in der Tat
die Reform zustande, in der zweiten Kammer mit 66 gegen 21 Stimmen, in
der Kammer der Standesherren sogar einstimmig; auch die vier katholischen
königlichen Prinzen Philipp und seine drei Söhne Albrecht, Robert und Ulrich
stimmten mit Ja. Das Nein wurde, abgesehen von einigen Rittern (v. Breitschwert
und v. Gaisberg-Schöckingen), nur vom Zentrum gesprochen, das mit steigender
Verbissenheit der Reform bald demokratische, bald konservative Erwägungen
entgegenhielt, in neuer Betätigung seiner immer skrupelloser jesuitischen Taktik,
das sich aber von allen seinen sonstigen Heergesellen, von Konservativen wie
von Demokraten und Sozialdemokraten, diesesmal gänzlich verlassen sah und am
Ende gar den großen Schmerz erleben mußte, daß sogar die katholischen
Magnaten des Oberhauses auf sein Locken wie sein Drohen nicht mehr hörten.
Die Klage des Zentrums, daß die Reform gegen den katholischen Volksteil
und dessen Religion gemünzt sei, wurde durch das Verhalten des hohen
katholischen Adels völlig wirkungslos, ja lächerlich gemacht.

Nach dem neuen Recht, das am 1. Dezember 1906 in Kraft treten wird,
besteht nun die erste Kammer, wie sie künftig heißen wird, aus den voll¬
jährigen königlichen Prinzen (zurzeit vier an der Zahl; alle katholisch), den
siebzehn Standesherren (davon elf katholisch), den zwei erblich berechtigten
gräflichen Familien Rechberg und Neipperg (beide katholisch), sechs vom König


Die württembergische Verfassungsreform

Schaffung, Erhöhung und Verringerung aller Steuern, deren Satz gesetzlich
bestimmt ist, ein Veto haben soll; damit ist etwaigen aus Popularitütshascherei
hervorgehenden finanzpolitischen Experimenten etwaiger radikaler Mehrheiten
der zweiten Kammer ein Riegel vorgeschoben. Solche Steuern mit festem
Satz sind u. a. das Umgeld auf Wein und die Einkommensteuer.

In der zweiten Kammer verlangten die Konservativen, Bauernbündler
und die Ritter sowie das Zentrum statt der ausscheidenden Bevorrechteten
einen Ersatz durch berufsständische Vertreter; aber über das Wie konnten sich
diese Parteien selbst nicht einigen, und die andern Parteien brachten allerlei
gewichtige Einwände dagegen vor. Schließlich siegte der Vorschlag, den Ersatz
durch siebzehn im ganzen Lande als einem Wahlkreis zu wählende Proporz¬
abgeordnete zu beschaffen, mit sehr starker Mehrheit; der an sich gar nicht
unebene Vorschlag der Regierung, es bei der „kleinen Kammer" von 75 Ab¬
geordneten bewenden zu lassen, wurde als Zumutung zu einer Art von Selbst-
Verstümmlung der bisher 93 Köpfe zählenden zweiten Kammer empfunden und
fast von allen Seiten unwillig abgelehnt. Schließlich ging der Proporz in
der Tat durch, aber aus Verlangen der ersten Kammer, die das Gespenst
eines schwäbischen Boulanger an dem Zukunftshorizont aufsteigen sah, in der
Form, daß das Land für den Proporz in zwei Wahlkreise zerlegt werden soll,
einen nördlichen (Neckar- und Jagstkreis) mit neun und einen südlichen (Schwarz¬
wald- und Donaukreis) mit acht Abgeordneten. So sollte die Möglichkeit
einer das ganze „Lündle" mit sich fortreißenden plebiszitären Bewegung abge¬
schnitten werden. Auf diesen Grundlagen kam am 9. Juli 1906 in der Tat
die Reform zustande, in der zweiten Kammer mit 66 gegen 21 Stimmen, in
der Kammer der Standesherren sogar einstimmig; auch die vier katholischen
königlichen Prinzen Philipp und seine drei Söhne Albrecht, Robert und Ulrich
stimmten mit Ja. Das Nein wurde, abgesehen von einigen Rittern (v. Breitschwert
und v. Gaisberg-Schöckingen), nur vom Zentrum gesprochen, das mit steigender
Verbissenheit der Reform bald demokratische, bald konservative Erwägungen
entgegenhielt, in neuer Betätigung seiner immer skrupelloser jesuitischen Taktik,
das sich aber von allen seinen sonstigen Heergesellen, von Konservativen wie
von Demokraten und Sozialdemokraten, diesesmal gänzlich verlassen sah und am
Ende gar den großen Schmerz erleben mußte, daß sogar die katholischen
Magnaten des Oberhauses auf sein Locken wie sein Drohen nicht mehr hörten.
Die Klage des Zentrums, daß die Reform gegen den katholischen Volksteil
und dessen Religion gemünzt sei, wurde durch das Verhalten des hohen
katholischen Adels völlig wirkungslos, ja lächerlich gemacht.

Nach dem neuen Recht, das am 1. Dezember 1906 in Kraft treten wird,
besteht nun die erste Kammer, wie sie künftig heißen wird, aus den voll¬
jährigen königlichen Prinzen (zurzeit vier an der Zahl; alle katholisch), den
siebzehn Standesherren (davon elf katholisch), den zwei erblich berechtigten
gräflichen Familien Rechberg und Neipperg (beide katholisch), sechs vom König


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[0295] Die württembergische Verfassungsreform Schaffung, Erhöhung und Verringerung aller Steuern, deren Satz gesetzlich bestimmt ist, ein Veto haben soll; damit ist etwaigen aus Popularitütshascherei hervorgehenden finanzpolitischen Experimenten etwaiger radikaler Mehrheiten der zweiten Kammer ein Riegel vorgeschoben. Solche Steuern mit festem Satz sind u. a. das Umgeld auf Wein und die Einkommensteuer. In der zweiten Kammer verlangten die Konservativen, Bauernbündler und die Ritter sowie das Zentrum statt der ausscheidenden Bevorrechteten einen Ersatz durch berufsständische Vertreter; aber über das Wie konnten sich diese Parteien selbst nicht einigen, und die andern Parteien brachten allerlei gewichtige Einwände dagegen vor. Schließlich siegte der Vorschlag, den Ersatz durch siebzehn im ganzen Lande als einem Wahlkreis zu wählende Proporz¬ abgeordnete zu beschaffen, mit sehr starker Mehrheit; der an sich gar nicht unebene Vorschlag der Regierung, es bei der „kleinen Kammer" von 75 Ab¬ geordneten bewenden zu lassen, wurde als Zumutung zu einer Art von Selbst- Verstümmlung der bisher 93 Köpfe zählenden zweiten Kammer empfunden und fast von allen Seiten unwillig abgelehnt. Schließlich ging der Proporz in der Tat durch, aber aus Verlangen der ersten Kammer, die das Gespenst eines schwäbischen Boulanger an dem Zukunftshorizont aufsteigen sah, in der Form, daß das Land für den Proporz in zwei Wahlkreise zerlegt werden soll, einen nördlichen (Neckar- und Jagstkreis) mit neun und einen südlichen (Schwarz¬ wald- und Donaukreis) mit acht Abgeordneten. So sollte die Möglichkeit einer das ganze „Lündle" mit sich fortreißenden plebiszitären Bewegung abge¬ schnitten werden. Auf diesen Grundlagen kam am 9. Juli 1906 in der Tat die Reform zustande, in der zweiten Kammer mit 66 gegen 21 Stimmen, in der Kammer der Standesherren sogar einstimmig; auch die vier katholischen königlichen Prinzen Philipp und seine drei Söhne Albrecht, Robert und Ulrich stimmten mit Ja. Das Nein wurde, abgesehen von einigen Rittern (v. Breitschwert und v. Gaisberg-Schöckingen), nur vom Zentrum gesprochen, das mit steigender Verbissenheit der Reform bald demokratische, bald konservative Erwägungen entgegenhielt, in neuer Betätigung seiner immer skrupelloser jesuitischen Taktik, das sich aber von allen seinen sonstigen Heergesellen, von Konservativen wie von Demokraten und Sozialdemokraten, diesesmal gänzlich verlassen sah und am Ende gar den großen Schmerz erleben mußte, daß sogar die katholischen Magnaten des Oberhauses auf sein Locken wie sein Drohen nicht mehr hörten. Die Klage des Zentrums, daß die Reform gegen den katholischen Volksteil und dessen Religion gemünzt sei, wurde durch das Verhalten des hohen katholischen Adels völlig wirkungslos, ja lächerlich gemacht. Nach dem neuen Recht, das am 1. Dezember 1906 in Kraft treten wird, besteht nun die erste Kammer, wie sie künftig heißen wird, aus den voll¬ jährigen königlichen Prinzen (zurzeit vier an der Zahl; alle katholisch), den siebzehn Standesherren (davon elf katholisch), den zwei erblich berechtigten gräflichen Familien Rechberg und Neipperg (beide katholisch), sechs vom König

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/295>, abgerufen am 25.08.2024.