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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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An der Nordküste von Kleinasien

Leute nicht ausreichte. Auf einem von Trapezunt her angekommnen türkischen
Dampfer, der uns beim Einlaufen beinahe anrannte, war das herüberschallende
Geschrei noch lauter; gedrängt voll stand die Bordwand, und der Gedanke, dort
nächtigen zu müssen, erweckte schauderndes Mißbehagen, nachdem wir bei einer
Morgenpromenade an unserm Deck sich eine Anzahl Türken über dem Mcischinen-
inume noch in Matten und Decken hatten räkeln sehen.

Kerassund, auf einer beiderseits wieder eingebuchteten Halbinsel an die steil
aufsteigenden Felshänge geklebt und rechts und links davon sich ausdehnend,
einst von einem starken Schloß auf der isolierten Hohe der Halbinsel beherrscht,
gewährt einen besonders malerischen Anblick und hätte vielleicht einen Aufent¬
halt gelohnt. Nirgends treten sonst die damals mit Schnee bedeckten schroffen
Bergformen so stimmungsvoll an einen größern Ort heran, nirgends ist die
Szenerie so wechselvoll, als bei der Küstenfahrt an dieser Stelle, wo sich einst
die letzten Neste der Zehntausend einschifften, nachdem sie die Schwachen und
Kranken, Weiber und Kinder schon in Trapezunt gebrechlichen Fahrzeugen an¬
vertraut hatten.

Bei wunderbarem Wetter und immer klarer werdender Luft wurde gegen
zehn Uhr Morgens die Fahrt nach Trapezunt fortgesetzt. Wie ein herrliches
Gemälde zog die reich gegliederte Gebirgslandschaft, zogen die hellbestrahlten
Hänge, dahinter schneebedeckte blendend weiße Gipfel von fast 3000 Metern
Höhe vor der tiefblauen, ganz leicht gekräuselten, manchmal spiegelglatten See
vorüber. Kaum gibt es wohl eine schönere Meerfahrt als dieses Hingleiten
auf den Spuren der Argonauten. So gehts an Tireboli, an dem weithin er¬
kennbaren Kap Zephyros vorbei. Stellenweise werden Uferstraßen mit der
Telegraphenleitung sichtbar, folgen einem schmalen Saume zwischen Berg und
Brandung und winden sich in Zickzacks die Berge hinauf, wo sie über steile
Felsstürze hinwegklettern. Tot ist dennoch auch diese Landschaft, ein trauriges
Zeichen des mangelnden Vermögens der Türken, Kultur zu erhalten, geschweige
denn zu verbreiten. Kein Dampfer läßt sich sehen, kein Segel, soweit das Auge
reicht, wenig Nachen, als wir größere Orte passieren. Nur Delphine spielen
auf dem Wasser, in dessen Tiefen wegen des Schwefelgehalts kein größeres
Lebewesen existiert. Erst Trapezunt zeigt mehr Leben und verbreitet solches in
die weitere Umgebung. Hier treten die höhern Kämme, der Kolat Dagh
(3410 Meter), etwas weiter zurück und eröffnen einer reichern Vegetation die
Möglichkeit des Gedeihens. Bei unsrer Winterfahrt konnte man nur ahnen,
w welcher Pracht diese Landschaft im Frühlingsgrün erglänzen muß. Was sie
mit den schönsten Teilen Norwegens vergleichen läßt, ist die Verbindung von
Wasser, Gebirge und Schneefeld. Taut dieses weg, so verschwindet der Ein¬
druck des Düstern und zur Schwermut stimmenden der norwegischen Felsen¬
ufer, und dann ist die Sonne sehr bald kräftig genug, mit hatten warmem
Scheine die Vegetation schnell zu üppiger Blüte und Frucht zu reifen. Darum
ist es kein Wunder, daß dieses Land am Pontus Euxinus griechischen Kolonisten,


An der Nordküste von Kleinasien

Leute nicht ausreichte. Auf einem von Trapezunt her angekommnen türkischen
Dampfer, der uns beim Einlaufen beinahe anrannte, war das herüberschallende
Geschrei noch lauter; gedrängt voll stand die Bordwand, und der Gedanke, dort
nächtigen zu müssen, erweckte schauderndes Mißbehagen, nachdem wir bei einer
Morgenpromenade an unserm Deck sich eine Anzahl Türken über dem Mcischinen-
inume noch in Matten und Decken hatten räkeln sehen.

Kerassund, auf einer beiderseits wieder eingebuchteten Halbinsel an die steil
aufsteigenden Felshänge geklebt und rechts und links davon sich ausdehnend,
einst von einem starken Schloß auf der isolierten Hohe der Halbinsel beherrscht,
gewährt einen besonders malerischen Anblick und hätte vielleicht einen Aufent¬
halt gelohnt. Nirgends treten sonst die damals mit Schnee bedeckten schroffen
Bergformen so stimmungsvoll an einen größern Ort heran, nirgends ist die
Szenerie so wechselvoll, als bei der Küstenfahrt an dieser Stelle, wo sich einst
die letzten Neste der Zehntausend einschifften, nachdem sie die Schwachen und
Kranken, Weiber und Kinder schon in Trapezunt gebrechlichen Fahrzeugen an¬
vertraut hatten.

Bei wunderbarem Wetter und immer klarer werdender Luft wurde gegen
zehn Uhr Morgens die Fahrt nach Trapezunt fortgesetzt. Wie ein herrliches
Gemälde zog die reich gegliederte Gebirgslandschaft, zogen die hellbestrahlten
Hänge, dahinter schneebedeckte blendend weiße Gipfel von fast 3000 Metern
Höhe vor der tiefblauen, ganz leicht gekräuselten, manchmal spiegelglatten See
vorüber. Kaum gibt es wohl eine schönere Meerfahrt als dieses Hingleiten
auf den Spuren der Argonauten. So gehts an Tireboli, an dem weithin er¬
kennbaren Kap Zephyros vorbei. Stellenweise werden Uferstraßen mit der
Telegraphenleitung sichtbar, folgen einem schmalen Saume zwischen Berg und
Brandung und winden sich in Zickzacks die Berge hinauf, wo sie über steile
Felsstürze hinwegklettern. Tot ist dennoch auch diese Landschaft, ein trauriges
Zeichen des mangelnden Vermögens der Türken, Kultur zu erhalten, geschweige
denn zu verbreiten. Kein Dampfer läßt sich sehen, kein Segel, soweit das Auge
reicht, wenig Nachen, als wir größere Orte passieren. Nur Delphine spielen
auf dem Wasser, in dessen Tiefen wegen des Schwefelgehalts kein größeres
Lebewesen existiert. Erst Trapezunt zeigt mehr Leben und verbreitet solches in
die weitere Umgebung. Hier treten die höhern Kämme, der Kolat Dagh
(3410 Meter), etwas weiter zurück und eröffnen einer reichern Vegetation die
Möglichkeit des Gedeihens. Bei unsrer Winterfahrt konnte man nur ahnen,
w welcher Pracht diese Landschaft im Frühlingsgrün erglänzen muß. Was sie
mit den schönsten Teilen Norwegens vergleichen läßt, ist die Verbindung von
Wasser, Gebirge und Schneefeld. Taut dieses weg, so verschwindet der Ein¬
druck des Düstern und zur Schwermut stimmenden der norwegischen Felsen¬
ufer, und dann ist die Sonne sehr bald kräftig genug, mit hatten warmem
Scheine die Vegetation schnell zu üppiger Blüte und Frucht zu reifen. Darum
ist es kein Wunder, daß dieses Land am Pontus Euxinus griechischen Kolonisten,


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[0267] An der Nordküste von Kleinasien Leute nicht ausreichte. Auf einem von Trapezunt her angekommnen türkischen Dampfer, der uns beim Einlaufen beinahe anrannte, war das herüberschallende Geschrei noch lauter; gedrängt voll stand die Bordwand, und der Gedanke, dort nächtigen zu müssen, erweckte schauderndes Mißbehagen, nachdem wir bei einer Morgenpromenade an unserm Deck sich eine Anzahl Türken über dem Mcischinen- inume noch in Matten und Decken hatten räkeln sehen. Kerassund, auf einer beiderseits wieder eingebuchteten Halbinsel an die steil aufsteigenden Felshänge geklebt und rechts und links davon sich ausdehnend, einst von einem starken Schloß auf der isolierten Hohe der Halbinsel beherrscht, gewährt einen besonders malerischen Anblick und hätte vielleicht einen Aufent¬ halt gelohnt. Nirgends treten sonst die damals mit Schnee bedeckten schroffen Bergformen so stimmungsvoll an einen größern Ort heran, nirgends ist die Szenerie so wechselvoll, als bei der Küstenfahrt an dieser Stelle, wo sich einst die letzten Neste der Zehntausend einschifften, nachdem sie die Schwachen und Kranken, Weiber und Kinder schon in Trapezunt gebrechlichen Fahrzeugen an¬ vertraut hatten. Bei wunderbarem Wetter und immer klarer werdender Luft wurde gegen zehn Uhr Morgens die Fahrt nach Trapezunt fortgesetzt. Wie ein herrliches Gemälde zog die reich gegliederte Gebirgslandschaft, zogen die hellbestrahlten Hänge, dahinter schneebedeckte blendend weiße Gipfel von fast 3000 Metern Höhe vor der tiefblauen, ganz leicht gekräuselten, manchmal spiegelglatten See vorüber. Kaum gibt es wohl eine schönere Meerfahrt als dieses Hingleiten auf den Spuren der Argonauten. So gehts an Tireboli, an dem weithin er¬ kennbaren Kap Zephyros vorbei. Stellenweise werden Uferstraßen mit der Telegraphenleitung sichtbar, folgen einem schmalen Saume zwischen Berg und Brandung und winden sich in Zickzacks die Berge hinauf, wo sie über steile Felsstürze hinwegklettern. Tot ist dennoch auch diese Landschaft, ein trauriges Zeichen des mangelnden Vermögens der Türken, Kultur zu erhalten, geschweige denn zu verbreiten. Kein Dampfer läßt sich sehen, kein Segel, soweit das Auge reicht, wenig Nachen, als wir größere Orte passieren. Nur Delphine spielen auf dem Wasser, in dessen Tiefen wegen des Schwefelgehalts kein größeres Lebewesen existiert. Erst Trapezunt zeigt mehr Leben und verbreitet solches in die weitere Umgebung. Hier treten die höhern Kämme, der Kolat Dagh (3410 Meter), etwas weiter zurück und eröffnen einer reichern Vegetation die Möglichkeit des Gedeihens. Bei unsrer Winterfahrt konnte man nur ahnen, w welcher Pracht diese Landschaft im Frühlingsgrün erglänzen muß. Was sie mit den schönsten Teilen Norwegens vergleichen läßt, ist die Verbindung von Wasser, Gebirge und Schneefeld. Taut dieses weg, so verschwindet der Ein¬ druck des Düstern und zur Schwermut stimmenden der norwegischen Felsen¬ ufer, und dann ist die Sonne sehr bald kräftig genug, mit hatten warmem Scheine die Vegetation schnell zu üppiger Blüte und Frucht zu reifen. Darum ist es kein Wunder, daß dieses Land am Pontus Euxinus griechischen Kolonisten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/267>, abgerufen am 23.07.2024.