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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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An der Nordküste von Kleinasien

Linien erhalten können. Fünfundneunzig Reichsmark sind für die Leistungen
der alten Kähne, die der Lloyd hier laufen läßt, und für die sehr geringe
Höflichkeit des Kapitäns, der unsern jedenfalls genügend erprobten, ehrwürdigen
"Unsitte" führte, immerhin ein nicht allzu bescheidner Preis.

Unsre Abfahrt war ein kleines Melodrama. Zunächst die Paßabstempelung.
Da der uns abfertigende Hafenbeamte gerade eins von den vielen Hammel¬
gerichten verspeiste, die durch die organische Verbindung von Hammeltalg mit
viel Zwiebeln und Knoblauch so besonders anregend auf die Nase unbeteiligter
wirken, mußten wir natürlich warten. Im übrigen vollzog sich die ganze heilige
Handlung, als sie endlich vor sich ging, umgekehrt als bei der Einfahrt, aber
natürlich mit demselben negativen Erfolge für die türkischen Staatsfinanzen.
Dann wurden wir mitsamt unsern vierzehn Gepäckstücken in ein Kalk verstaut,
wozu sich wieder eine Anzahl unberufner Subjekte herandrängte, fuhren über
ziemlich bewegtes Wasser zum Stambuler Quai hinüber und kletterten auf den
schwarzgestrichnen Dampfer hinauf, nicht ohne daß wir einen erneuten Kampf
mit beutegierigen Trägern bestehn mußten. Das Treiben am Quai, von dem
der Unsitte noch Ladung übernahm, war nicht uninteressant, Hafenbeamte,
Handlungsvertreter, Hafenarbeiter mit dem Typus des Völkermischmaschs, An¬
gehörige der Deckpassagiere und Zuschauer wühlten durcheinander; auch der
Lärm fehlte nicht. Als wir uns aber in den zur Verfügung gestellten drei
Kabinen notdürftig eingerichtet hatten, kam der Agent mit der Nachricht, daß
wir möglicherweise Batna wegen der dortigen Unruhen nicht anlaufen, aber
erst in Trapezunt genauere Nachricht darüber erhalten würden. Sollten wir
daraufhin umkehren, wie uns anheimgestellt wurde? Wir blieben auf gut Glück
und sind jetzt dessen froh.

Mit zwei Stunden Verspätung machte der Dampfer los und ging mit
einigen längsseit befestigten Kähnen durch die heute bei dem herrschenden Nord¬
wind ziemlich starke Strömung in zweistündiger Fahrt durch den Bosporus.
Wir hatten genügend Zeit, die Ufergeographie zu wiederholen. Den freundlichen
Eindruck, den die Einfahrt gemacht hatte, vermochte die Ausfahrt freilich nicht
wiederherzustellen: Schneewolken bedeckten die Höhen der asiatischen Seite, leichter
Regen störte das Behagen an Deck, und der Boreas, der die Wogen in den
Bosporus hineintrieb, versprach alles, was man zu der Jahreszeit vom Schwarzen
Meer erwarten kann, nämlich Sturm und schlechte Fahrt. Daß der Unsitte
übermäßiges Vertrauen erweckte, kann nicht behauptet werden. Mit seinen drei
Masten und der wenigen Takelage, der einen Schraube und dem an den Bord¬
seiten frei über Deck laufenden, ewig hämmernden Gestänge des Nudermechanismus
stand er schiffbautechnisch nicht auf der Höhe; und der sogenannte Salon im
Hinterschiff mit den seitlich davon angeordneten Kabinen (zu zwei bis vier
Betten) ließ eigentlich alles vermissen, was man heutzutage an Komfort von
einem Dampfer verlangen kann. Daß er nach links hing, konnte beabsichtigte
Gegenwirkung gegen den von links her erwarteten Wind sein, daß er aber bald


An der Nordküste von Kleinasien

Linien erhalten können. Fünfundneunzig Reichsmark sind für die Leistungen
der alten Kähne, die der Lloyd hier laufen läßt, und für die sehr geringe
Höflichkeit des Kapitäns, der unsern jedenfalls genügend erprobten, ehrwürdigen
„Unsitte" führte, immerhin ein nicht allzu bescheidner Preis.

Unsre Abfahrt war ein kleines Melodrama. Zunächst die Paßabstempelung.
Da der uns abfertigende Hafenbeamte gerade eins von den vielen Hammel¬
gerichten verspeiste, die durch die organische Verbindung von Hammeltalg mit
viel Zwiebeln und Knoblauch so besonders anregend auf die Nase unbeteiligter
wirken, mußten wir natürlich warten. Im übrigen vollzog sich die ganze heilige
Handlung, als sie endlich vor sich ging, umgekehrt als bei der Einfahrt, aber
natürlich mit demselben negativen Erfolge für die türkischen Staatsfinanzen.
Dann wurden wir mitsamt unsern vierzehn Gepäckstücken in ein Kalk verstaut,
wozu sich wieder eine Anzahl unberufner Subjekte herandrängte, fuhren über
ziemlich bewegtes Wasser zum Stambuler Quai hinüber und kletterten auf den
schwarzgestrichnen Dampfer hinauf, nicht ohne daß wir einen erneuten Kampf
mit beutegierigen Trägern bestehn mußten. Das Treiben am Quai, von dem
der Unsitte noch Ladung übernahm, war nicht uninteressant, Hafenbeamte,
Handlungsvertreter, Hafenarbeiter mit dem Typus des Völkermischmaschs, An¬
gehörige der Deckpassagiere und Zuschauer wühlten durcheinander; auch der
Lärm fehlte nicht. Als wir uns aber in den zur Verfügung gestellten drei
Kabinen notdürftig eingerichtet hatten, kam der Agent mit der Nachricht, daß
wir möglicherweise Batna wegen der dortigen Unruhen nicht anlaufen, aber
erst in Trapezunt genauere Nachricht darüber erhalten würden. Sollten wir
daraufhin umkehren, wie uns anheimgestellt wurde? Wir blieben auf gut Glück
und sind jetzt dessen froh.

Mit zwei Stunden Verspätung machte der Dampfer los und ging mit
einigen längsseit befestigten Kähnen durch die heute bei dem herrschenden Nord¬
wind ziemlich starke Strömung in zweistündiger Fahrt durch den Bosporus.
Wir hatten genügend Zeit, die Ufergeographie zu wiederholen. Den freundlichen
Eindruck, den die Einfahrt gemacht hatte, vermochte die Ausfahrt freilich nicht
wiederherzustellen: Schneewolken bedeckten die Höhen der asiatischen Seite, leichter
Regen störte das Behagen an Deck, und der Boreas, der die Wogen in den
Bosporus hineintrieb, versprach alles, was man zu der Jahreszeit vom Schwarzen
Meer erwarten kann, nämlich Sturm und schlechte Fahrt. Daß der Unsitte
übermäßiges Vertrauen erweckte, kann nicht behauptet werden. Mit seinen drei
Masten und der wenigen Takelage, der einen Schraube und dem an den Bord¬
seiten frei über Deck laufenden, ewig hämmernden Gestänge des Nudermechanismus
stand er schiffbautechnisch nicht auf der Höhe; und der sogenannte Salon im
Hinterschiff mit den seitlich davon angeordneten Kabinen (zu zwei bis vier
Betten) ließ eigentlich alles vermissen, was man heutzutage an Komfort von
einem Dampfer verlangen kann. Daß er nach links hing, konnte beabsichtigte
Gegenwirkung gegen den von links her erwarteten Wind sein, daß er aber bald


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[0263] An der Nordküste von Kleinasien Linien erhalten können. Fünfundneunzig Reichsmark sind für die Leistungen der alten Kähne, die der Lloyd hier laufen läßt, und für die sehr geringe Höflichkeit des Kapitäns, der unsern jedenfalls genügend erprobten, ehrwürdigen „Unsitte" führte, immerhin ein nicht allzu bescheidner Preis. Unsre Abfahrt war ein kleines Melodrama. Zunächst die Paßabstempelung. Da der uns abfertigende Hafenbeamte gerade eins von den vielen Hammel¬ gerichten verspeiste, die durch die organische Verbindung von Hammeltalg mit viel Zwiebeln und Knoblauch so besonders anregend auf die Nase unbeteiligter wirken, mußten wir natürlich warten. Im übrigen vollzog sich die ganze heilige Handlung, als sie endlich vor sich ging, umgekehrt als bei der Einfahrt, aber natürlich mit demselben negativen Erfolge für die türkischen Staatsfinanzen. Dann wurden wir mitsamt unsern vierzehn Gepäckstücken in ein Kalk verstaut, wozu sich wieder eine Anzahl unberufner Subjekte herandrängte, fuhren über ziemlich bewegtes Wasser zum Stambuler Quai hinüber und kletterten auf den schwarzgestrichnen Dampfer hinauf, nicht ohne daß wir einen erneuten Kampf mit beutegierigen Trägern bestehn mußten. Das Treiben am Quai, von dem der Unsitte noch Ladung übernahm, war nicht uninteressant, Hafenbeamte, Handlungsvertreter, Hafenarbeiter mit dem Typus des Völkermischmaschs, An¬ gehörige der Deckpassagiere und Zuschauer wühlten durcheinander; auch der Lärm fehlte nicht. Als wir uns aber in den zur Verfügung gestellten drei Kabinen notdürftig eingerichtet hatten, kam der Agent mit der Nachricht, daß wir möglicherweise Batna wegen der dortigen Unruhen nicht anlaufen, aber erst in Trapezunt genauere Nachricht darüber erhalten würden. Sollten wir daraufhin umkehren, wie uns anheimgestellt wurde? Wir blieben auf gut Glück und sind jetzt dessen froh. Mit zwei Stunden Verspätung machte der Dampfer los und ging mit einigen längsseit befestigten Kähnen durch die heute bei dem herrschenden Nord¬ wind ziemlich starke Strömung in zweistündiger Fahrt durch den Bosporus. Wir hatten genügend Zeit, die Ufergeographie zu wiederholen. Den freundlichen Eindruck, den die Einfahrt gemacht hatte, vermochte die Ausfahrt freilich nicht wiederherzustellen: Schneewolken bedeckten die Höhen der asiatischen Seite, leichter Regen störte das Behagen an Deck, und der Boreas, der die Wogen in den Bosporus hineintrieb, versprach alles, was man zu der Jahreszeit vom Schwarzen Meer erwarten kann, nämlich Sturm und schlechte Fahrt. Daß der Unsitte übermäßiges Vertrauen erweckte, kann nicht behauptet werden. Mit seinen drei Masten und der wenigen Takelage, der einen Schraube und dem an den Bord¬ seiten frei über Deck laufenden, ewig hämmernden Gestänge des Nudermechanismus stand er schiffbautechnisch nicht auf der Höhe; und der sogenannte Salon im Hinterschiff mit den seitlich davon angeordneten Kabinen (zu zwei bis vier Betten) ließ eigentlich alles vermissen, was man heutzutage an Komfort von einem Dampfer verlangen kann. Daß er nach links hing, konnte beabsichtigte Gegenwirkung gegen den von links her erwarteten Wind sein, daß er aber bald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/263>, abgerufen am 27.12.2024.