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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung des deutschen Liedes

ist aus ähnlichen fadenscheinigen Gründen verpönt. Fricke ist seit dreißig Jahren
Rezensent für Schulliederbücher und hat im Laufe dieser Zeit, auch in der neusten,
Hunderte von Belegen gesammelt, zumal da er als Mitherausgeber der Lieder¬
bücher von Fricke und Maas unausgesetzt Quellenstudien hat machen müssen.
Meint man denn wirklich, sagt er, mit solchen Streichungen das Erotische aus
dem Volksliede beseitigen zu können? Sogar das Lob des Weines darf neuer¬
dings nicht mehr gesungen werden. Statt: Bekränzt mit Laub den lieben vollen
Becher -- heißt es jetzt in den Liederbüchern: Bekränzt mit Laub die Hüte und
die Mützen.

Es ist wohl das erstemal, daß über diese Verunstaltung unsrer schönen
Lieder in einem größern Kreise verhandelt worden ist; bisher gingen nur von
Zeit zu Zeit Mitteilungen durch die Zeitungen, wonach wieder einmal hier oder
da an einem Liede willkürliche Änderungen vorgenommen worden sein sollten,
um einen sittenverderbenden, für die Jugend Anstoß erregenden Gedanken oder
Ausdruck im Liede zu beseitigen. Das größte Aufsehen verursachte die Ver¬
unstaltung des Liedes: In einem kühlen Grunde -- als plötzlich nicht mehr
die Liebste, sondern der Onkel verschwunden sein sollte. Es ist weidlich darüber
gelacht, gespöttelt und geschimpft worden: aber daß gegen den Unfug allgemein
eingeschritten worden wäre, ist nicht bekannt geworden.

Das schönste, was wir Deutschen haben, ist unser Lied; es ist eine große
Sache, vielleicht die größte, die wir erfunden und ausgebildet haben. So äußerte
sich kürzlich ein deutscher Schriftsteller in Paris, als er über den großen Erfolg
berichtete, den Alt-Heidelberg dort errungen hatte. Und diesen Erfolg verdankt
das Stück dem deutschen Liede. Andre Völker singen und dichten zwar auch, aber
das deutsche Lied ist der Ausdruck der innern Gemütsbewegung, die Äußerung
innerer Erlebnisse in dichterischer und musikalischer Gestaltung. Uhland sagt über
die Entstehung des deutschen Liedes: Auf allen Straßen und in allen Herbergen,
unter der Dorflinde und im Walde beim fröhlichen Jagen wurde gesungen, was
erlebt oder innerlich erfahren war. Daher die Lebenswahrheit und der gesunde
Realismus, daher die Frische und Ungeschminktheit des Gefühls und das volle
Ausklingen des deutschen Gemüts, das sich in allen diesen Liedern ungesucht
und ungekünstelt geltend macht. Man weiß von kaum einem dieser Lieder, wer
sie gedichtet, wo sie zuerst erklungen:

Die Lieder sind also ein unantastbares Eigentum des deutschen Volkes, und
niemand hat das Recht, eigenmächtig Änderungen vorzunehmen; sie sind ebenso
Denkmäler vergangner Zeiten wie die Kunst- und Baudenkmäler früherer Jahr¬
hunderte und zeugen uicht minder von der Anschauung und dem Geiste unsrer
Vorfahren wie die Überreste aus Stein und Erz; die Lieder lassen im Gegenteil
einen tiefern Einblick in das Volksleben und in die Volksseele jener Zeiten tun,


Die Verunstaltung des deutschen Liedes

ist aus ähnlichen fadenscheinigen Gründen verpönt. Fricke ist seit dreißig Jahren
Rezensent für Schulliederbücher und hat im Laufe dieser Zeit, auch in der neusten,
Hunderte von Belegen gesammelt, zumal da er als Mitherausgeber der Lieder¬
bücher von Fricke und Maas unausgesetzt Quellenstudien hat machen müssen.
Meint man denn wirklich, sagt er, mit solchen Streichungen das Erotische aus
dem Volksliede beseitigen zu können? Sogar das Lob des Weines darf neuer¬
dings nicht mehr gesungen werden. Statt: Bekränzt mit Laub den lieben vollen
Becher — heißt es jetzt in den Liederbüchern: Bekränzt mit Laub die Hüte und
die Mützen.

Es ist wohl das erstemal, daß über diese Verunstaltung unsrer schönen
Lieder in einem größern Kreise verhandelt worden ist; bisher gingen nur von
Zeit zu Zeit Mitteilungen durch die Zeitungen, wonach wieder einmal hier oder
da an einem Liede willkürliche Änderungen vorgenommen worden sein sollten,
um einen sittenverderbenden, für die Jugend Anstoß erregenden Gedanken oder
Ausdruck im Liede zu beseitigen. Das größte Aufsehen verursachte die Ver¬
unstaltung des Liedes: In einem kühlen Grunde — als plötzlich nicht mehr
die Liebste, sondern der Onkel verschwunden sein sollte. Es ist weidlich darüber
gelacht, gespöttelt und geschimpft worden: aber daß gegen den Unfug allgemein
eingeschritten worden wäre, ist nicht bekannt geworden.

Das schönste, was wir Deutschen haben, ist unser Lied; es ist eine große
Sache, vielleicht die größte, die wir erfunden und ausgebildet haben. So äußerte
sich kürzlich ein deutscher Schriftsteller in Paris, als er über den großen Erfolg
berichtete, den Alt-Heidelberg dort errungen hatte. Und diesen Erfolg verdankt
das Stück dem deutschen Liede. Andre Völker singen und dichten zwar auch, aber
das deutsche Lied ist der Ausdruck der innern Gemütsbewegung, die Äußerung
innerer Erlebnisse in dichterischer und musikalischer Gestaltung. Uhland sagt über
die Entstehung des deutschen Liedes: Auf allen Straßen und in allen Herbergen,
unter der Dorflinde und im Walde beim fröhlichen Jagen wurde gesungen, was
erlebt oder innerlich erfahren war. Daher die Lebenswahrheit und der gesunde
Realismus, daher die Frische und Ungeschminktheit des Gefühls und das volle
Ausklingen des deutschen Gemüts, das sich in allen diesen Liedern ungesucht
und ungekünstelt geltend macht. Man weiß von kaum einem dieser Lieder, wer
sie gedichtet, wo sie zuerst erklungen:

Die Lieder sind also ein unantastbares Eigentum des deutschen Volkes, und
niemand hat das Recht, eigenmächtig Änderungen vorzunehmen; sie sind ebenso
Denkmäler vergangner Zeiten wie die Kunst- und Baudenkmäler früherer Jahr¬
hunderte und zeugen uicht minder von der Anschauung und dem Geiste unsrer
Vorfahren wie die Überreste aus Stein und Erz; die Lieder lassen im Gegenteil
einen tiefern Einblick in das Volksleben und in die Volksseele jener Zeiten tun,


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[0259] Die Verunstaltung des deutschen Liedes ist aus ähnlichen fadenscheinigen Gründen verpönt. Fricke ist seit dreißig Jahren Rezensent für Schulliederbücher und hat im Laufe dieser Zeit, auch in der neusten, Hunderte von Belegen gesammelt, zumal da er als Mitherausgeber der Lieder¬ bücher von Fricke und Maas unausgesetzt Quellenstudien hat machen müssen. Meint man denn wirklich, sagt er, mit solchen Streichungen das Erotische aus dem Volksliede beseitigen zu können? Sogar das Lob des Weines darf neuer¬ dings nicht mehr gesungen werden. Statt: Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher — heißt es jetzt in den Liederbüchern: Bekränzt mit Laub die Hüte und die Mützen. Es ist wohl das erstemal, daß über diese Verunstaltung unsrer schönen Lieder in einem größern Kreise verhandelt worden ist; bisher gingen nur von Zeit zu Zeit Mitteilungen durch die Zeitungen, wonach wieder einmal hier oder da an einem Liede willkürliche Änderungen vorgenommen worden sein sollten, um einen sittenverderbenden, für die Jugend Anstoß erregenden Gedanken oder Ausdruck im Liede zu beseitigen. Das größte Aufsehen verursachte die Ver¬ unstaltung des Liedes: In einem kühlen Grunde — als plötzlich nicht mehr die Liebste, sondern der Onkel verschwunden sein sollte. Es ist weidlich darüber gelacht, gespöttelt und geschimpft worden: aber daß gegen den Unfug allgemein eingeschritten worden wäre, ist nicht bekannt geworden. Das schönste, was wir Deutschen haben, ist unser Lied; es ist eine große Sache, vielleicht die größte, die wir erfunden und ausgebildet haben. So äußerte sich kürzlich ein deutscher Schriftsteller in Paris, als er über den großen Erfolg berichtete, den Alt-Heidelberg dort errungen hatte. Und diesen Erfolg verdankt das Stück dem deutschen Liede. Andre Völker singen und dichten zwar auch, aber das deutsche Lied ist der Ausdruck der innern Gemütsbewegung, die Äußerung innerer Erlebnisse in dichterischer und musikalischer Gestaltung. Uhland sagt über die Entstehung des deutschen Liedes: Auf allen Straßen und in allen Herbergen, unter der Dorflinde und im Walde beim fröhlichen Jagen wurde gesungen, was erlebt oder innerlich erfahren war. Daher die Lebenswahrheit und der gesunde Realismus, daher die Frische und Ungeschminktheit des Gefühls und das volle Ausklingen des deutschen Gemüts, das sich in allen diesen Liedern ungesucht und ungekünstelt geltend macht. Man weiß von kaum einem dieser Lieder, wer sie gedichtet, wo sie zuerst erklungen: Die Lieder sind also ein unantastbares Eigentum des deutschen Volkes, und niemand hat das Recht, eigenmächtig Änderungen vorzunehmen; sie sind ebenso Denkmäler vergangner Zeiten wie die Kunst- und Baudenkmäler früherer Jahr¬ hunderte und zeugen uicht minder von der Anschauung und dem Geiste unsrer Vorfahren wie die Überreste aus Stein und Erz; die Lieder lassen im Gegenteil einen tiefern Einblick in das Volksleben und in die Volksseele jener Zeiten tun,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/259>, abgerufen am 23.07.2024.