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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

So heißt es nicht LerWum sondern Verging,, nicht'Mlläimir sondern v^til-cllmir;
ferner Luvvürok, Xutüsiok, katzvmliiir (nicht ?otsinNn!).

Aber alle diese ob auch noch so bemerkenswerten Äußerlichkeiten machen
nicht den ästhetischen Charakter einer Sprache aus. Fragt mau nach diesem,
so kann die Antwort nur lauten, daß die russische wie an Reichtum so an
Wohllaut von keiner andern übertroffen wird. Man hat die polnische mit dem
Zwitschern der Vögel verglichen und damit ihre der weiblichen Natur des
Volkes entsprechende Art treffend bezeichnet. Das Russische ist bei aller Ähnlich¬
keit mit seinen vollem, meist vokalischen Endungen, dem (wie im Gotischen)
vorwiegenden A-Laut, den gelegentlichen, sich immer in Einklang auflösenden
Disharmonien kraftvoll, männlich und doch melodienreich. Dieser Grundcharakter
tritt schon in der einfachen Unterhaltung hervor. Denn der Russe spricht zwar
außerordentlich rasch, aber ebenso bis ins kleinste sauber. Er gleicht darin ganz
dem Franzosen und unterscheidet sich in wohltuender Weise von Engländern
und Jaukees, die bekanntlich ihr ohnehin wenig anmutendes Idiom zu Gehör
bringen, als wären andre Nationen verpflichtet, sich mit den Tonsilben zu be¬
gnügen und das übrige zu erraten.

Am schönsten aber klingt das Russische in der Poesie. Es ist die ge-
borne Dichtersprache, wie sonst nur das Altgriechische und das Deutsche.
Einige Proben seien angeführt, auch für die Tonmalerei, wie die beiden Zeilen
aus Alexander Puschkins ö^s^ (die Teufel), die das Geläut des durch den
Wintersturm dahinjagenden Schlittens nachahmen:

("Der Wind heult, der Wind weht, das Glöckchen smachtj kling -- ling -- ling.")
Oder aus dem schon erwähnten "Jewgeni Anjägin" desselben Dichters die Verse,
die Wladimir Lenski am Vorabend seines gewaltsamen Todes niederschreibe:


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Grenzboten III 1906 2?
Die Physiognomie der russischen Sprache

So heißt es nicht LerWum sondern Verging,, nicht'Mlläimir sondern v^til-cllmir;
ferner Luvvürok, Xutüsiok, katzvmliiir (nicht ?otsinNn!).

Aber alle diese ob auch noch so bemerkenswerten Äußerlichkeiten machen
nicht den ästhetischen Charakter einer Sprache aus. Fragt mau nach diesem,
so kann die Antwort nur lauten, daß die russische wie an Reichtum so an
Wohllaut von keiner andern übertroffen wird. Man hat die polnische mit dem
Zwitschern der Vögel verglichen und damit ihre der weiblichen Natur des
Volkes entsprechende Art treffend bezeichnet. Das Russische ist bei aller Ähnlich¬
keit mit seinen vollem, meist vokalischen Endungen, dem (wie im Gotischen)
vorwiegenden A-Laut, den gelegentlichen, sich immer in Einklang auflösenden
Disharmonien kraftvoll, männlich und doch melodienreich. Dieser Grundcharakter
tritt schon in der einfachen Unterhaltung hervor. Denn der Russe spricht zwar
außerordentlich rasch, aber ebenso bis ins kleinste sauber. Er gleicht darin ganz
dem Franzosen und unterscheidet sich in wohltuender Weise von Engländern
und Jaukees, die bekanntlich ihr ohnehin wenig anmutendes Idiom zu Gehör
bringen, als wären andre Nationen verpflichtet, sich mit den Tonsilben zu be¬
gnügen und das übrige zu erraten.

Am schönsten aber klingt das Russische in der Poesie. Es ist die ge-
borne Dichtersprache, wie sonst nur das Altgriechische und das Deutsche.
Einige Proben seien angeführt, auch für die Tonmalerei, wie die beiden Zeilen
aus Alexander Puschkins ö^s^ (die Teufel), die das Geläut des durch den
Wintersturm dahinjagenden Schlittens nachahmen:

(„Der Wind heult, der Wind weht, das Glöckchen smachtj kling — ling — ling.")
Oder aus dem schon erwähnten „Jewgeni Anjägin" desselben Dichters die Verse,
die Wladimir Lenski am Vorabend seines gewaltsamen Todes niederschreibe:


[Beginn Spaltensatz]
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[0213] Die Physiognomie der russischen Sprache So heißt es nicht LerWum sondern Verging,, nicht'Mlläimir sondern v^til-cllmir; ferner Luvvürok, Xutüsiok, katzvmliiir (nicht ?otsinNn!). Aber alle diese ob auch noch so bemerkenswerten Äußerlichkeiten machen nicht den ästhetischen Charakter einer Sprache aus. Fragt mau nach diesem, so kann die Antwort nur lauten, daß die russische wie an Reichtum so an Wohllaut von keiner andern übertroffen wird. Man hat die polnische mit dem Zwitschern der Vögel verglichen und damit ihre der weiblichen Natur des Volkes entsprechende Art treffend bezeichnet. Das Russische ist bei aller Ähnlich¬ keit mit seinen vollem, meist vokalischen Endungen, dem (wie im Gotischen) vorwiegenden A-Laut, den gelegentlichen, sich immer in Einklang auflösenden Disharmonien kraftvoll, männlich und doch melodienreich. Dieser Grundcharakter tritt schon in der einfachen Unterhaltung hervor. Denn der Russe spricht zwar außerordentlich rasch, aber ebenso bis ins kleinste sauber. Er gleicht darin ganz dem Franzosen und unterscheidet sich in wohltuender Weise von Engländern und Jaukees, die bekanntlich ihr ohnehin wenig anmutendes Idiom zu Gehör bringen, als wären andre Nationen verpflichtet, sich mit den Tonsilben zu be¬ gnügen und das übrige zu erraten. Am schönsten aber klingt das Russische in der Poesie. Es ist die ge- borne Dichtersprache, wie sonst nur das Altgriechische und das Deutsche. Einige Proben seien angeführt, auch für die Tonmalerei, wie die beiden Zeilen aus Alexander Puschkins ö^s^ (die Teufel), die das Geläut des durch den Wintersturm dahinjagenden Schlittens nachahmen: („Der Wind heult, der Wind weht, das Glöckchen smachtj kling — ling — ling.") Oder aus dem schon erwähnten „Jewgeni Anjägin" desselben Dichters die Verse, die Wladimir Lenski am Vorabend seines gewaltsamen Todes niederschreibe: Grenzboten III 1906 2?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/213>, abgerufen am 23.07.2024.