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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

Situation bei, daß man förmlich ein behagliches Lächeln um die Lippen des
Dichters spielen sieht. In welchem Grade Ausdrücke, die in jeder andern
Kultursprache beschimpfend sein würden, im Munde des Russen diesen Charakter
verloren haben, ergab sich mir eines Tags aus der Äußerung eines sehr vor¬
nehmen Herrn, der mit der Tochter eines kleinen Beamten eine Liebesheirat ge¬
schlossen hatte. "Mein Schwiegervater hatte knapp so viel Gehalt, um die
Stickerei auf seinem Uniformkragen bezahlen zu können. Was sollte er machen?
Er mußte stehlen!"

Nirgends aber prägt sich die sprachliche Eigentümlichkeit des Russen in
solchem Maße aus, wie in seiner unbegrenzten Fähigkeit und Neigung, Dimi¬
nutive zu bilden. Das Verkleinerungs- und Kosewort beherrscht die Sprache
geradezu. Daß man denen, die man lieb hat, gern etwas Liebes sagt, ist
selbstverständlich, und so wird zunächst dem Rufnamen in der persönlichen
Anrede die zärtlichste Form verliehen, die aber auch angewandt wird, wenn
man von dem abwesenden Dritten ohne Hinzufügung des väterlichen Vor¬
namens spricht. UivQgÄ Uilnl-Mvitseu heißt im Familienkreise NlMtiÄ,
IrMli ^.rku-clisvitsod: Irg.8<zU6, Aal-UM I'ii.vto on": UatÄsodg, oder Ug,ti5,8ousnM.
Für "Peterchen" (oder Peterlein) sagt der Russe oder ?Mrüs(ZUa; zu
^IsKsiLnSr und ^1öl8".iiärg. gehört zunächst die beiden gemeinsame Kose¬
form 8ii>8vim, die sich aber für den weiblichen Teil noch zu LasvusiiM ver¬
feinert. Doch finden sich ähnliche Bildungen ja auch in unsrer dnrch ihre
Biegsamkeit berühmten Muttersprache. Ein wesentlicher Unterschied tritt erst
dann hervor, wenn der russische Sprachgeist zu Umformungen greift, die mit
der ursprünglichen Gestalt kaum noch eine Ähnlichkeit haben. So verwandelt
sich viuutri in Ulten und NitM, 'Uig.äiwir in ^VÄocija, WKörM in Imlcsrja,
Ivüll in ^VcinM, 'Wanjüeng. und ^in^üsoukg., während aus dem griechischen
Eudoxici zunächst -sekclolchg., dann ^kävtjg., vüujg, und DrmMoua,, aus X8"vija
(d- i. Xenia) ^Ksinjg. (siehe Schillers Demetrinsfragment) und ^,k8Mvug. wird.
Aber weit bemerkenswerter ist doch die allgemeine Erscheinung. Wie die
Sonne von ihren Planeten, wird jedes Hauptwort von einer mehr oder minder
Zahlreichen Schar von Verkleinerungswörtern begleitet, aber auch Eigenschafts¬
wort und Adverbium bilden Diminutiva. I>jo<zlM heißt leicht, aber IjöKöoM
spielend leicht oder etwas leicht, "leichtchen"; tlollo ruhig, tioKoriM "sachtchcn"
(der Berliner hat wirklich ein "sachteken" erfunden!); oIiÄr68vIü gut, oIig.r68oKknM
^ehe niedlich. Das Hauptmittel aber, um der Sprechweise den Charakter des
^fälligen. Anmutigen, auch schlechthin Höflichen zu geben, ist die Anfügung
euies s an ein einzelnes Wort oder an das letzte Wort eines Satzes. Anstatt
ehrlichen aber plumpen fondo? (was?) fragt der gebildete Russe 8vno-8?
"der in besonderm Falle 8<meo vam uAoäuo-8 (was ist Ihnen gefällig?), wüh-
rend das einfache ussöcluc" hinreichen würde, den Gedanken auszudrücken. Mit
diesem s läßt sich schließlich jedes Wort verkleinern, jede Vorstellung vermied-
^ben, sogar die der Bejahung und Verneinung. Bezeichnend ist die Art,


Die Physiognomie der russischen Sprache

Situation bei, daß man förmlich ein behagliches Lächeln um die Lippen des
Dichters spielen sieht. In welchem Grade Ausdrücke, die in jeder andern
Kultursprache beschimpfend sein würden, im Munde des Russen diesen Charakter
verloren haben, ergab sich mir eines Tags aus der Äußerung eines sehr vor¬
nehmen Herrn, der mit der Tochter eines kleinen Beamten eine Liebesheirat ge¬
schlossen hatte. „Mein Schwiegervater hatte knapp so viel Gehalt, um die
Stickerei auf seinem Uniformkragen bezahlen zu können. Was sollte er machen?
Er mußte stehlen!"

Nirgends aber prägt sich die sprachliche Eigentümlichkeit des Russen in
solchem Maße aus, wie in seiner unbegrenzten Fähigkeit und Neigung, Dimi¬
nutive zu bilden. Das Verkleinerungs- und Kosewort beherrscht die Sprache
geradezu. Daß man denen, die man lieb hat, gern etwas Liebes sagt, ist
selbstverständlich, und so wird zunächst dem Rufnamen in der persönlichen
Anrede die zärtlichste Form verliehen, die aber auch angewandt wird, wenn
man von dem abwesenden Dritten ohne Hinzufügung des väterlichen Vor¬
namens spricht. UivQgÄ Uilnl-Mvitseu heißt im Familienkreise NlMtiÄ,
IrMli ^.rku-clisvitsod: Irg.8<zU6, Aal-UM I'ii.vto on»: UatÄsodg, oder Ug,ti5,8ousnM.
Für „Peterchen" (oder Peterlein) sagt der Russe oder ?Mrüs(ZUa; zu
^IsKsiLnSr und ^1öl8».iiärg. gehört zunächst die beiden gemeinsame Kose¬
form 8ii>8vim, die sich aber für den weiblichen Teil noch zu LasvusiiM ver¬
feinert. Doch finden sich ähnliche Bildungen ja auch in unsrer dnrch ihre
Biegsamkeit berühmten Muttersprache. Ein wesentlicher Unterschied tritt erst
dann hervor, wenn der russische Sprachgeist zu Umformungen greift, die mit
der ursprünglichen Gestalt kaum noch eine Ähnlichkeit haben. So verwandelt
sich viuutri in Ulten und NitM, 'Uig.äiwir in ^VÄocija, WKörM in Imlcsrja,
Ivüll in ^VcinM, 'Wanjüeng. und ^in^üsoukg., während aus dem griechischen
Eudoxici zunächst -sekclolchg., dann ^kävtjg., vüujg, und DrmMoua,, aus X8«vija
(d- i. Xenia) ^Ksinjg. (siehe Schillers Demetrinsfragment) und ^,k8Mvug. wird.
Aber weit bemerkenswerter ist doch die allgemeine Erscheinung. Wie die
Sonne von ihren Planeten, wird jedes Hauptwort von einer mehr oder minder
Zahlreichen Schar von Verkleinerungswörtern begleitet, aber auch Eigenschafts¬
wort und Adverbium bilden Diminutiva. I>jo<zlM heißt leicht, aber IjöKöoM
spielend leicht oder etwas leicht, „leichtchen"; tlollo ruhig, tioKoriM „sachtchcn"
(der Berliner hat wirklich ein „sachteken" erfunden!); oIiÄr68vIü gut, oIig.r68oKknM
^ehe niedlich. Das Hauptmittel aber, um der Sprechweise den Charakter des
^fälligen. Anmutigen, auch schlechthin Höflichen zu geben, ist die Anfügung
euies s an ein einzelnes Wort oder an das letzte Wort eines Satzes. Anstatt
ehrlichen aber plumpen fondo? (was?) fragt der gebildete Russe 8vno-8?
"der in besonderm Falle 8<meo vam uAoäuo-8 (was ist Ihnen gefällig?), wüh-
rend das einfache ussöcluc» hinreichen würde, den Gedanken auszudrücken. Mit
diesem s läßt sich schließlich jedes Wort verkleinern, jede Vorstellung vermied-
^ben, sogar die der Bejahung und Verneinung. Bezeichnend ist die Art,


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[0209] Die Physiognomie der russischen Sprache Situation bei, daß man förmlich ein behagliches Lächeln um die Lippen des Dichters spielen sieht. In welchem Grade Ausdrücke, die in jeder andern Kultursprache beschimpfend sein würden, im Munde des Russen diesen Charakter verloren haben, ergab sich mir eines Tags aus der Äußerung eines sehr vor¬ nehmen Herrn, der mit der Tochter eines kleinen Beamten eine Liebesheirat ge¬ schlossen hatte. „Mein Schwiegervater hatte knapp so viel Gehalt, um die Stickerei auf seinem Uniformkragen bezahlen zu können. Was sollte er machen? Er mußte stehlen!" Nirgends aber prägt sich die sprachliche Eigentümlichkeit des Russen in solchem Maße aus, wie in seiner unbegrenzten Fähigkeit und Neigung, Dimi¬ nutive zu bilden. Das Verkleinerungs- und Kosewort beherrscht die Sprache geradezu. Daß man denen, die man lieb hat, gern etwas Liebes sagt, ist selbstverständlich, und so wird zunächst dem Rufnamen in der persönlichen Anrede die zärtlichste Form verliehen, die aber auch angewandt wird, wenn man von dem abwesenden Dritten ohne Hinzufügung des väterlichen Vor¬ namens spricht. UivQgÄ Uilnl-Mvitseu heißt im Familienkreise NlMtiÄ, IrMli ^.rku-clisvitsod: Irg.8<zU6, Aal-UM I'ii.vto on»: UatÄsodg, oder Ug,ti5,8ousnM. Für „Peterchen" (oder Peterlein) sagt der Russe oder ?Mrüs(ZUa; zu ^IsKsiLnSr und ^1öl8».iiärg. gehört zunächst die beiden gemeinsame Kose¬ form 8ii>8vim, die sich aber für den weiblichen Teil noch zu LasvusiiM ver¬ feinert. Doch finden sich ähnliche Bildungen ja auch in unsrer dnrch ihre Biegsamkeit berühmten Muttersprache. Ein wesentlicher Unterschied tritt erst dann hervor, wenn der russische Sprachgeist zu Umformungen greift, die mit der ursprünglichen Gestalt kaum noch eine Ähnlichkeit haben. So verwandelt sich viuutri in Ulten und NitM, 'Uig.äiwir in ^VÄocija, WKörM in Imlcsrja, Ivüll in ^VcinM, 'Wanjüeng. und ^in^üsoukg., während aus dem griechischen Eudoxici zunächst -sekclolchg., dann ^kävtjg., vüujg, und DrmMoua,, aus X8«vija (d- i. Xenia) ^Ksinjg. (siehe Schillers Demetrinsfragment) und ^,k8Mvug. wird. Aber weit bemerkenswerter ist doch die allgemeine Erscheinung. Wie die Sonne von ihren Planeten, wird jedes Hauptwort von einer mehr oder minder Zahlreichen Schar von Verkleinerungswörtern begleitet, aber auch Eigenschafts¬ wort und Adverbium bilden Diminutiva. I>jo<zlM heißt leicht, aber IjöKöoM spielend leicht oder etwas leicht, „leichtchen"; tlollo ruhig, tioKoriM „sachtchcn" (der Berliner hat wirklich ein „sachteken" erfunden!); oIiÄr68vIü gut, oIig.r68oKknM ^ehe niedlich. Das Hauptmittel aber, um der Sprechweise den Charakter des ^fälligen. Anmutigen, auch schlechthin Höflichen zu geben, ist die Anfügung euies s an ein einzelnes Wort oder an das letzte Wort eines Satzes. Anstatt ehrlichen aber plumpen fondo? (was?) fragt der gebildete Russe 8vno-8? "der in besonderm Falle 8<meo vam uAoäuo-8 (was ist Ihnen gefällig?), wüh- rend das einfache ussöcluc» hinreichen würde, den Gedanken auszudrücken. Mit diesem s läßt sich schließlich jedes Wort verkleinern, jede Vorstellung vermied- ^ben, sogar die der Bejahung und Verneinung. Bezeichnend ist die Art,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/209>, abgerufen am 28.12.2024.