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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Selbstverständlich befestigten die Scaliger weiter südlich auch den Punkt, wo in
völlig flacher Gegend der Mincio den See verläßt, Peschiera, die "Fischerstadt",
das alte Arctica. Ein festes Bollwerk gegen Bergamo und Brescia nennt sie
Dante, und der Venezianer Marino Sanuto rühmt sie als uneinnehmbar (1483).
Doch ihre volle historische Bedeutung gewann die Festung erst als das nord¬
westliche Bollwerk des einst berühmten Festnngsvierecks in den Kämpfen um
die Befreiung und Einigung Italiens, und mahnend schauen aus dem flachen
Hügellande im Süden des Gardasees, dem blutgetränkten Schlachtfelde dieser
Kriege, auf stundenweite nach allen Richtungen auch bis zur Mitte des Sees
hin sichtbar, die beiden Türme herüber, näher der kolossale runde Turm bei
San Martino della Vattaglia, ein Nationaldenkmal für die Einheitskriege über¬
haupt, aus größerer Entfernung der mittelalterliche Burgturm von Solferino
(24. Juni 1859), "die Warte Italiens" (spis. et'IWIia). Ein Kastell der Scaliger
beschützt und beherrscht noch heute auch den südöstlichsten Punkt am Gardasee,
Desenzcmo, das im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert einer der be¬
deutendsten Märkte Oberitaliens, besonders für Getreide, war und noch jetzt an
jedem Dienstag einen vielbesuchten Wochenmarkt abhält.

Ziemlich in der Mitte zwischen Desenzano und Peschiera streckt sich eine
schmale niedrige Landzunge 4 Kilometer nordwärts in den See hinaus, die in
einer breitern, höhern und felsigen Halbinsel endet. Nach der altrömischen Post-
station (roansio) an der Straße von Verona nach Brixia heißt sie noch heute
Sirmione. Man kommt dorthin entweder zu Lande von Desenzano aus oder
angenehmer von Salv her zu Schiff, das zwischen der Isola ti Garda und
dem Festlande bei den Klippenreihen, die beide verbinden, hindurch an dem
Vorgebirge Mcmerba und dem weinreichen Valtenese mit seinen stattlichen Ort¬
schaften und Burgen vorübersteuert. Das Städtchen, an dessen Westseite es
landet, füllt den Raum bis zur Ostseite aus, ein paar Gäßchen um einen großen,
nach Westen geöffneten Platz mit mehreren ansehnlichen Gasthöfen. Denn
Sirmone ist jetzt ein besonders von Mitte Juni ab vielbesuchtes Schwefelbad,
dessen schon von den Römern benutzte starke Quelle mit 64,8 Grad Celsius
Wärme wunderlicherweise auf der Ostseite 300 Meter vom Ufer entfernt und
17 Meter unter der Oberfläche des Sees entspringt und in Röhren nach dem
stattlichen königlichen Badehotel geleitet wird. Hinter den Häusern und von der
Stadt durch einen breiten Wassergraben getrennt ragt die mächtige Scaligerburg
auf, die auch den versandeten Osthafen in ihren Zinnenmauern einschließt
und jetzt das Municipw (Rathaus) beherbergt. Die prachtvolle Aussicht vom
Mauerkranz und vom 30 Meter hohen Hauptturme macht die Erbauung der
Burg an dieser abgelegnen Stelle begreiflich, denn das Auge übersieht hier das
ganze weite südliche Becken des Sees, und eine Verbindung mit den nahen
Scciligerburgen des Festlandes ließ sich hier durch Signale leicht herstellen.
Daß hier schon in römischer Zeit eine Niederlassung bestand, bezeugen mehrere
Inschriften unter dem Bogen des nordwärts führenden Tores. In langobardischer


Über den Brenner

Selbstverständlich befestigten die Scaliger weiter südlich auch den Punkt, wo in
völlig flacher Gegend der Mincio den See verläßt, Peschiera, die „Fischerstadt",
das alte Arctica. Ein festes Bollwerk gegen Bergamo und Brescia nennt sie
Dante, und der Venezianer Marino Sanuto rühmt sie als uneinnehmbar (1483).
Doch ihre volle historische Bedeutung gewann die Festung erst als das nord¬
westliche Bollwerk des einst berühmten Festnngsvierecks in den Kämpfen um
die Befreiung und Einigung Italiens, und mahnend schauen aus dem flachen
Hügellande im Süden des Gardasees, dem blutgetränkten Schlachtfelde dieser
Kriege, auf stundenweite nach allen Richtungen auch bis zur Mitte des Sees
hin sichtbar, die beiden Türme herüber, näher der kolossale runde Turm bei
San Martino della Vattaglia, ein Nationaldenkmal für die Einheitskriege über¬
haupt, aus größerer Entfernung der mittelalterliche Burgturm von Solferino
(24. Juni 1859), „die Warte Italiens" (spis. et'IWIia). Ein Kastell der Scaliger
beschützt und beherrscht noch heute auch den südöstlichsten Punkt am Gardasee,
Desenzcmo, das im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert einer der be¬
deutendsten Märkte Oberitaliens, besonders für Getreide, war und noch jetzt an
jedem Dienstag einen vielbesuchten Wochenmarkt abhält.

Ziemlich in der Mitte zwischen Desenzano und Peschiera streckt sich eine
schmale niedrige Landzunge 4 Kilometer nordwärts in den See hinaus, die in
einer breitern, höhern und felsigen Halbinsel endet. Nach der altrömischen Post-
station (roansio) an der Straße von Verona nach Brixia heißt sie noch heute
Sirmione. Man kommt dorthin entweder zu Lande von Desenzano aus oder
angenehmer von Salv her zu Schiff, das zwischen der Isola ti Garda und
dem Festlande bei den Klippenreihen, die beide verbinden, hindurch an dem
Vorgebirge Mcmerba und dem weinreichen Valtenese mit seinen stattlichen Ort¬
schaften und Burgen vorübersteuert. Das Städtchen, an dessen Westseite es
landet, füllt den Raum bis zur Ostseite aus, ein paar Gäßchen um einen großen,
nach Westen geöffneten Platz mit mehreren ansehnlichen Gasthöfen. Denn
Sirmone ist jetzt ein besonders von Mitte Juni ab vielbesuchtes Schwefelbad,
dessen schon von den Römern benutzte starke Quelle mit 64,8 Grad Celsius
Wärme wunderlicherweise auf der Ostseite 300 Meter vom Ufer entfernt und
17 Meter unter der Oberfläche des Sees entspringt und in Röhren nach dem
stattlichen königlichen Badehotel geleitet wird. Hinter den Häusern und von der
Stadt durch einen breiten Wassergraben getrennt ragt die mächtige Scaligerburg
auf, die auch den versandeten Osthafen in ihren Zinnenmauern einschließt
und jetzt das Municipw (Rathaus) beherbergt. Die prachtvolle Aussicht vom
Mauerkranz und vom 30 Meter hohen Hauptturme macht die Erbauung der
Burg an dieser abgelegnen Stelle begreiflich, denn das Auge übersieht hier das
ganze weite südliche Becken des Sees, und eine Verbindung mit den nahen
Scciligerburgen des Festlandes ließ sich hier durch Signale leicht herstellen.
Daß hier schon in römischer Zeit eine Niederlassung bestand, bezeugen mehrere
Inschriften unter dem Bogen des nordwärts führenden Tores. In langobardischer


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[0162] Über den Brenner Selbstverständlich befestigten die Scaliger weiter südlich auch den Punkt, wo in völlig flacher Gegend der Mincio den See verläßt, Peschiera, die „Fischerstadt", das alte Arctica. Ein festes Bollwerk gegen Bergamo und Brescia nennt sie Dante, und der Venezianer Marino Sanuto rühmt sie als uneinnehmbar (1483). Doch ihre volle historische Bedeutung gewann die Festung erst als das nord¬ westliche Bollwerk des einst berühmten Festnngsvierecks in den Kämpfen um die Befreiung und Einigung Italiens, und mahnend schauen aus dem flachen Hügellande im Süden des Gardasees, dem blutgetränkten Schlachtfelde dieser Kriege, auf stundenweite nach allen Richtungen auch bis zur Mitte des Sees hin sichtbar, die beiden Türme herüber, näher der kolossale runde Turm bei San Martino della Vattaglia, ein Nationaldenkmal für die Einheitskriege über¬ haupt, aus größerer Entfernung der mittelalterliche Burgturm von Solferino (24. Juni 1859), „die Warte Italiens" (spis. et'IWIia). Ein Kastell der Scaliger beschützt und beherrscht noch heute auch den südöstlichsten Punkt am Gardasee, Desenzcmo, das im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert einer der be¬ deutendsten Märkte Oberitaliens, besonders für Getreide, war und noch jetzt an jedem Dienstag einen vielbesuchten Wochenmarkt abhält. Ziemlich in der Mitte zwischen Desenzano und Peschiera streckt sich eine schmale niedrige Landzunge 4 Kilometer nordwärts in den See hinaus, die in einer breitern, höhern und felsigen Halbinsel endet. Nach der altrömischen Post- station (roansio) an der Straße von Verona nach Brixia heißt sie noch heute Sirmione. Man kommt dorthin entweder zu Lande von Desenzano aus oder angenehmer von Salv her zu Schiff, das zwischen der Isola ti Garda und dem Festlande bei den Klippenreihen, die beide verbinden, hindurch an dem Vorgebirge Mcmerba und dem weinreichen Valtenese mit seinen stattlichen Ort¬ schaften und Burgen vorübersteuert. Das Städtchen, an dessen Westseite es landet, füllt den Raum bis zur Ostseite aus, ein paar Gäßchen um einen großen, nach Westen geöffneten Platz mit mehreren ansehnlichen Gasthöfen. Denn Sirmone ist jetzt ein besonders von Mitte Juni ab vielbesuchtes Schwefelbad, dessen schon von den Römern benutzte starke Quelle mit 64,8 Grad Celsius Wärme wunderlicherweise auf der Ostseite 300 Meter vom Ufer entfernt und 17 Meter unter der Oberfläche des Sees entspringt und in Röhren nach dem stattlichen königlichen Badehotel geleitet wird. Hinter den Häusern und von der Stadt durch einen breiten Wassergraben getrennt ragt die mächtige Scaligerburg auf, die auch den versandeten Osthafen in ihren Zinnenmauern einschließt und jetzt das Municipw (Rathaus) beherbergt. Die prachtvolle Aussicht vom Mauerkranz und vom 30 Meter hohen Hauptturme macht die Erbauung der Burg an dieser abgelegnen Stelle begreiflich, denn das Auge übersieht hier das ganze weite südliche Becken des Sees, und eine Verbindung mit den nahen Scciligerburgen des Festlandes ließ sich hier durch Signale leicht herstellen. Daß hier schon in römischer Zeit eine Niederlassung bestand, bezeugen mehrere Inschriften unter dem Bogen des nordwärts führenden Tores. In langobardischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/162>, abgerufen am 23.07.2024.