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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Während ihrer fünfundzwanzigjührigen Dienstzeit gewiß völlig rvmamsiert und
erhielten bei ihrer ehrenvollen Entlassung (nonestg. uüssio) das römische Bürger¬
recht mit einer Landanweisung, bis 212 alle Provinziellen freien Standes in die
römische Bürgerschaft aufgenommen wurden. So wurde ganz Rätier sprachlich
allmählich romanisiert. Sind doch die vorgermanischen Orts- und Flurnamen
des ganzen Landes nur zum kleinsten Teil rätisch, in ihrer Masse romanisch, nur
in einer durch das rauhe rätische Organ und Idiom stark umgestalteten, deshalb
oft schwer erkennbaren Form, wie im Zillertale Bretsall (prato bsllo oder pr^o
as palis), Lamarga (I^irmrog,), Pinaid (xineto), Perdill (pratillo), im Duxer
Tale Gstan (o^Selous), Nisan (rivollo), Vallrng (val as roeoch, im Stubai-
tale Praxmar (?rato as os-hö, irr^lor), Gleirsch (Zlg-riss), Pfurtschell (tdroslla).
Im ganzen sind in dem jetzigen Deutschtirol, in Vorarlberg und in Graubünden
über 1500 Ortsnamen romanischen Ursprungs. Wie sich das Lateinische im
Munde der Roter umgestaltet hat, das zeigen noch heute die ladinischen Mund¬
arten im Enneberg, im Grödner Tal und in Graubünden, und romanisch ist
das südliche Tirol längs der Brennerstraße bis zur Einmündung der None in
die Etsch (bei Mezzo lombardo), wenn auch nicht bis zur alten Provinzgrenze
bei Klausen geblieben.

Wie in Gallien so hat jedenfalls die christliche Kirche, die im ganzen
Abendlande die literaturlosen Volksmundarten ablehnte und nur Lateinisch
sprach, auch in Rätier die Romcmisierung vollendet. Auf der Brennerstraße
ist durch den Verkehr auch das Christentum eingedrungen; der erste Bischofssitz
lag an dieser in Gaben über Klausen (um 550 zuerst erwähnt) und hielt sich
zu Aquileja. Inwieweit die Teilung der Provinz in listig, xriing. mit der
Hauptstadt Chur (Curia) und Rastia ssormäg. mit der Hauptstadt Augsburg
unter dem großen Reformator Diocletianus um 300 n. Chr. mit ihrer Ver¬
stärkung der Beamtenschaft und der Zentralisation die Romanisierung gefördert
hat, läßt sich nicht bestimmen; jedenfalls war das ganze heutige Tirol ein
romanisches Land, als die Germanen hereinbrachen.

Auf der Brennerstraße waren schon im dritten Jahrhundert germanische
Hansen südwärts gezogen: Kaiser Claudius der Zweite schlug die Alamannen
268 am Gardasee. Als um 400 die Militärgrenze an der obern Donan zerfiel,
zogen die ostgotischen, vandalischen und alanischen Scharen des Radagais 404
über den Brenner. Der große Ostgotenkönig Theoderich (489 bis 536), der
oft in Verona, am südlichen Ausgange der Brennerstraße, residierte und danach
in der deutschen Heldensage Dietrich vou Bern heißt, hielt das innere Rätier,
das heutige Tirol und Granbünden, kraftvoll fest und teilte es wieder in zwei
Bezirke, die liÄötia Liuriensis oder Rastia prima. (Graubünden, das Engadin,
Vintschgau und Vorarlberg) mit der Hauptstadt Chur (daher später Churrätien)
und die Rastia ssounäa (das mittlere und östliche Tirol). Auch stationierte
er eine Besatzung in ^uZustMis olauZuris, die sich nicht näher bestimmen lassen
(vielleicht die Schnrnitz), und ein aux kommandierte in Rätier wie in der letzten


Während ihrer fünfundzwanzigjührigen Dienstzeit gewiß völlig rvmamsiert und
erhielten bei ihrer ehrenvollen Entlassung (nonestg. uüssio) das römische Bürger¬
recht mit einer Landanweisung, bis 212 alle Provinziellen freien Standes in die
römische Bürgerschaft aufgenommen wurden. So wurde ganz Rätier sprachlich
allmählich romanisiert. Sind doch die vorgermanischen Orts- und Flurnamen
des ganzen Landes nur zum kleinsten Teil rätisch, in ihrer Masse romanisch, nur
in einer durch das rauhe rätische Organ und Idiom stark umgestalteten, deshalb
oft schwer erkennbaren Form, wie im Zillertale Bretsall (prato bsllo oder pr^o
as palis), Lamarga (I^irmrog,), Pinaid (xineto), Perdill (pratillo), im Duxer
Tale Gstan (o^Selous), Nisan (rivollo), Vallrng (val as roeoch, im Stubai-
tale Praxmar (?rato as os-hö, irr^lor), Gleirsch (Zlg-riss), Pfurtschell (tdroslla).
Im ganzen sind in dem jetzigen Deutschtirol, in Vorarlberg und in Graubünden
über 1500 Ortsnamen romanischen Ursprungs. Wie sich das Lateinische im
Munde der Roter umgestaltet hat, das zeigen noch heute die ladinischen Mund¬
arten im Enneberg, im Grödner Tal und in Graubünden, und romanisch ist
das südliche Tirol längs der Brennerstraße bis zur Einmündung der None in
die Etsch (bei Mezzo lombardo), wenn auch nicht bis zur alten Provinzgrenze
bei Klausen geblieben.

Wie in Gallien so hat jedenfalls die christliche Kirche, die im ganzen
Abendlande die literaturlosen Volksmundarten ablehnte und nur Lateinisch
sprach, auch in Rätier die Romcmisierung vollendet. Auf der Brennerstraße
ist durch den Verkehr auch das Christentum eingedrungen; der erste Bischofssitz
lag an dieser in Gaben über Klausen (um 550 zuerst erwähnt) und hielt sich
zu Aquileja. Inwieweit die Teilung der Provinz in listig, xriing. mit der
Hauptstadt Chur (Curia) und Rastia ssormäg. mit der Hauptstadt Augsburg
unter dem großen Reformator Diocletianus um 300 n. Chr. mit ihrer Ver¬
stärkung der Beamtenschaft und der Zentralisation die Romanisierung gefördert
hat, läßt sich nicht bestimmen; jedenfalls war das ganze heutige Tirol ein
romanisches Land, als die Germanen hereinbrachen.

Auf der Brennerstraße waren schon im dritten Jahrhundert germanische
Hansen südwärts gezogen: Kaiser Claudius der Zweite schlug die Alamannen
268 am Gardasee. Als um 400 die Militärgrenze an der obern Donan zerfiel,
zogen die ostgotischen, vandalischen und alanischen Scharen des Radagais 404
über den Brenner. Der große Ostgotenkönig Theoderich (489 bis 536), der
oft in Verona, am südlichen Ausgange der Brennerstraße, residierte und danach
in der deutschen Heldensage Dietrich vou Bern heißt, hielt das innere Rätier,
das heutige Tirol und Granbünden, kraftvoll fest und teilte es wieder in zwei
Bezirke, die liÄötia Liuriensis oder Rastia prima. (Graubünden, das Engadin,
Vintschgau und Vorarlberg) mit der Hauptstadt Chur (daher später Churrätien)
und die Rastia ssounäa (das mittlere und östliche Tirol). Auch stationierte
er eine Besatzung in ^uZustMis olauZuris, die sich nicht näher bestimmen lassen
(vielleicht die Schnrnitz), und ein aux kommandierte in Rätier wie in der letzten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/15>, abgerufen am 23.07.2024.