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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

was für ein sehnlicher! Das Buch ist "ein herrnhu tischer Bubenroman", und
unter dem Pseudonym "Girdein" verbirgt oder vielmehr offenbart sich die berühmte
Erziehungsanstalt Niesky. Das ist es, was uns bestimmt, auf das schon vor zwei
Jahren erschienene Buch unsre Leser aufmerksam zu machen. Die meisten von
ihnen werden, wenn sie es zur Hand nehmen, gerade so überrascht wie Rezensent
die ungeahnte Entdeckung machen, daß die Herrnhutergemeinden so ziemlich das
Gegenteil von dem sind, was man sich gewöhnlich unter ihnen vorstellt. Eng¬
herzige Frömmelei kommt ja vor, wie der Verfasser durchblicken läßt, aber nicht
in ihren Schulen. Mag auch das Leben in Niesky hier idealisiert dargestellt sein --
wenn die Darstellung nicht geradezu, was doch undenkbar wäre, eine Lüge ist,
wenn die Grundzüge richtig gezeichnet sind, dann möchte man wünschen, noch ein¬
mal Junge werden und das Pädagogium von Niesky besuchen zu können. Das
brüderliche Verhältnis der Lehrer zu den Schülern, der feine pädagogische Takt
der meisten Lehrer -- daß sich mitunter ein Ungeschickter in dieses Elitekollegium
verirrt, wird nicht verschwiegen --, die wohlorganisierte Selbstregierung der Schüler,
deren auf strenge Disziplin gegründete Freiheit, die hervorragende Stellung, die
den Leibesübungen und Spielen im Erziehungsplan eingeräumt ist, lassen schon
alles das verwirklicht erscheinen, was von zahlreichen Reformern für unsre öffent¬
lichen Schulen erst angestrebt wird. Von Engherzigkeit und Ängstlichkeit, von
Frömmelei und Bekehrungssucht keine Spur. Die Leiter der beiden Anstalten (die
untern und die obern Gymnasialklassen machen je eine besondre Anstalt aus) kommen
zwar unserm Gottfried einigemal in Seelennöten, wo er sie wirklich braucht, zu
Hilfe, überlassen ihn aber sonst seinem dunkeln Drange, seinem Gott und seiner
Selbsterziehung in der Überzeugung, daß wenn er den rechten Weg nicht selbst
findet, kein andrer Mensch ihn darauf bringen kann. Auch machen sie keinen Ver¬
such, ihn, der nicht sehr fromm ist und wenig Interesse für religiöse Fragen hat,
für den Dienst der Brüdergemeinde zu gewinnen; sie wollen nur, daß er ein recht¬
schaffner tüchtiger Mann werde. Daß er sich beim Abschied vom Pädagogium -- so
weit führt der Verfasser seinen Helden -- doch noch entschließt, in Gotteshaag
(Gräberfeld?) Theologie zu studieren, überrascht einigermaßen. Man sagt sich am
Schluß des Buches: hier ist richtige Erziehung, und hier ist echtes Christentum,
womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß die herrnhutische die einzige Form des
echten Christentums sei.


Lebensfreude.

Es ist ab und zu notwendig, alten Wein auf neue Fässer
abzuziehn. Die Worte aus der Bibel und die alten, guten geistlichen Strophen, die
in diesem Bande als Kolumnenköpfe eines im übrigen von dem Besitzer zu füllenden
Gedenkkalenders (Lebensfreude. Ein Gedenkbuch von E. Reimer. München,
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck) zusammengestellt sind, verdienen
meist das schöne moderne Gewand, worin sie hier den Jüngeren angeboten werden.
Wir wünschen dem Buche viele Benutzer, zum Besten ernstlich zusammengefaßten
Lebens.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

was für ein sehnlicher! Das Buch ist „ein herrnhu tischer Bubenroman", und
unter dem Pseudonym „Girdein" verbirgt oder vielmehr offenbart sich die berühmte
Erziehungsanstalt Niesky. Das ist es, was uns bestimmt, auf das schon vor zwei
Jahren erschienene Buch unsre Leser aufmerksam zu machen. Die meisten von
ihnen werden, wenn sie es zur Hand nehmen, gerade so überrascht wie Rezensent
die ungeahnte Entdeckung machen, daß die Herrnhutergemeinden so ziemlich das
Gegenteil von dem sind, was man sich gewöhnlich unter ihnen vorstellt. Eng¬
herzige Frömmelei kommt ja vor, wie der Verfasser durchblicken läßt, aber nicht
in ihren Schulen. Mag auch das Leben in Niesky hier idealisiert dargestellt sein —
wenn die Darstellung nicht geradezu, was doch undenkbar wäre, eine Lüge ist,
wenn die Grundzüge richtig gezeichnet sind, dann möchte man wünschen, noch ein¬
mal Junge werden und das Pädagogium von Niesky besuchen zu können. Das
brüderliche Verhältnis der Lehrer zu den Schülern, der feine pädagogische Takt
der meisten Lehrer — daß sich mitunter ein Ungeschickter in dieses Elitekollegium
verirrt, wird nicht verschwiegen —, die wohlorganisierte Selbstregierung der Schüler,
deren auf strenge Disziplin gegründete Freiheit, die hervorragende Stellung, die
den Leibesübungen und Spielen im Erziehungsplan eingeräumt ist, lassen schon
alles das verwirklicht erscheinen, was von zahlreichen Reformern für unsre öffent¬
lichen Schulen erst angestrebt wird. Von Engherzigkeit und Ängstlichkeit, von
Frömmelei und Bekehrungssucht keine Spur. Die Leiter der beiden Anstalten (die
untern und die obern Gymnasialklassen machen je eine besondre Anstalt aus) kommen
zwar unserm Gottfried einigemal in Seelennöten, wo er sie wirklich braucht, zu
Hilfe, überlassen ihn aber sonst seinem dunkeln Drange, seinem Gott und seiner
Selbsterziehung in der Überzeugung, daß wenn er den rechten Weg nicht selbst
findet, kein andrer Mensch ihn darauf bringen kann. Auch machen sie keinen Ver¬
such, ihn, der nicht sehr fromm ist und wenig Interesse für religiöse Fragen hat,
für den Dienst der Brüdergemeinde zu gewinnen; sie wollen nur, daß er ein recht¬
schaffner tüchtiger Mann werde. Daß er sich beim Abschied vom Pädagogium — so
weit führt der Verfasser seinen Helden — doch noch entschließt, in Gotteshaag
(Gräberfeld?) Theologie zu studieren, überrascht einigermaßen. Man sagt sich am
Schluß des Buches: hier ist richtige Erziehung, und hier ist echtes Christentum,
womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß die herrnhutische die einzige Form des
echten Christentums sei.


Lebensfreude.

Es ist ab und zu notwendig, alten Wein auf neue Fässer
abzuziehn. Die Worte aus der Bibel und die alten, guten geistlichen Strophen, die
in diesem Bande als Kolumnenköpfe eines im übrigen von dem Besitzer zu füllenden
Gedenkkalenders (Lebensfreude. Ein Gedenkbuch von E. Reimer. München,
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck) zusammengestellt sind, verdienen
meist das schöne moderne Gewand, worin sie hier den Jüngeren angeboten werden.
Wir wünschen dem Buche viele Benutzer, zum Besten ernstlich zusammengefaßten
Lebens.




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[0124] Maßgebliches und Unmaßgebliches was für ein sehnlicher! Das Buch ist „ein herrnhu tischer Bubenroman", und unter dem Pseudonym „Girdein" verbirgt oder vielmehr offenbart sich die berühmte Erziehungsanstalt Niesky. Das ist es, was uns bestimmt, auf das schon vor zwei Jahren erschienene Buch unsre Leser aufmerksam zu machen. Die meisten von ihnen werden, wenn sie es zur Hand nehmen, gerade so überrascht wie Rezensent die ungeahnte Entdeckung machen, daß die Herrnhutergemeinden so ziemlich das Gegenteil von dem sind, was man sich gewöhnlich unter ihnen vorstellt. Eng¬ herzige Frömmelei kommt ja vor, wie der Verfasser durchblicken läßt, aber nicht in ihren Schulen. Mag auch das Leben in Niesky hier idealisiert dargestellt sein — wenn die Darstellung nicht geradezu, was doch undenkbar wäre, eine Lüge ist, wenn die Grundzüge richtig gezeichnet sind, dann möchte man wünschen, noch ein¬ mal Junge werden und das Pädagogium von Niesky besuchen zu können. Das brüderliche Verhältnis der Lehrer zu den Schülern, der feine pädagogische Takt der meisten Lehrer — daß sich mitunter ein Ungeschickter in dieses Elitekollegium verirrt, wird nicht verschwiegen —, die wohlorganisierte Selbstregierung der Schüler, deren auf strenge Disziplin gegründete Freiheit, die hervorragende Stellung, die den Leibesübungen und Spielen im Erziehungsplan eingeräumt ist, lassen schon alles das verwirklicht erscheinen, was von zahlreichen Reformern für unsre öffent¬ lichen Schulen erst angestrebt wird. Von Engherzigkeit und Ängstlichkeit, von Frömmelei und Bekehrungssucht keine Spur. Die Leiter der beiden Anstalten (die untern und die obern Gymnasialklassen machen je eine besondre Anstalt aus) kommen zwar unserm Gottfried einigemal in Seelennöten, wo er sie wirklich braucht, zu Hilfe, überlassen ihn aber sonst seinem dunkeln Drange, seinem Gott und seiner Selbsterziehung in der Überzeugung, daß wenn er den rechten Weg nicht selbst findet, kein andrer Mensch ihn darauf bringen kann. Auch machen sie keinen Ver¬ such, ihn, der nicht sehr fromm ist und wenig Interesse für religiöse Fragen hat, für den Dienst der Brüdergemeinde zu gewinnen; sie wollen nur, daß er ein recht¬ schaffner tüchtiger Mann werde. Daß er sich beim Abschied vom Pädagogium — so weit führt der Verfasser seinen Helden — doch noch entschließt, in Gotteshaag (Gräberfeld?) Theologie zu studieren, überrascht einigermaßen. Man sagt sich am Schluß des Buches: hier ist richtige Erziehung, und hier ist echtes Christentum, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß die herrnhutische die einzige Form des echten Christentums sei. Lebensfreude. Es ist ab und zu notwendig, alten Wein auf neue Fässer abzuziehn. Die Worte aus der Bibel und die alten, guten geistlichen Strophen, die in diesem Bande als Kolumnenköpfe eines im übrigen von dem Besitzer zu füllenden Gedenkkalenders (Lebensfreude. Ein Gedenkbuch von E. Reimer. München, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck) zusammengestellt sind, verdienen meist das schöne moderne Gewand, worin sie hier den Jüngeren angeboten werden. Wir wünschen dem Buche viele Benutzer, zum Besten ernstlich zusammengefaßten Lebens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/124>, abgerufen am 27.12.2024.