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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Der Bopparder Krieg

Nicht lange darauf verkündete ein dumpfer Donner vom Se. Martinskloster
her, daß eine der beiden pfalzgräflichen Hauptbüchsen das erste Wort gesprochen
hatte. Aber es war in den Wind geredet: die Kugel, die der Rheinpforte zugedacht
gewesen war, fuhr in den Strom.

In der Stadt entstand eine gewaltige Bewegung, und die Begeisterung für
den feindlichen Kriegsherrn schlug wieder in das Gegenteil um. Man beschloß, den
Gruß zu erwidern, richtete jedoch die Kartaune, die ihr Sprüchlein hersagen sollte,
wohlweislich so, daß die Kugel am Se. Martinskloster vorüber ebenfalls in den
Rhein schlug. Jetzt tat auch "Snelgin", die zweite der kurfürstlichen Büchsen, ihren
ehernen Mund auf. Die Wirkung war eine doppelte, denn erstens riß das Geschoß,
das das Stadttor neben der kurfürstliche" Burg treffen sollte, an dieser selbst ein
Ecktürmchen ab, und zweitens lockerte die starke Erschütterung beim Schuß das aus
Mauerwerk frisch aufgeführte Lager der Schwesterbüchse "Ungnade", sodaß diese
aus dem Gleichgewicht geriet, ins Rollen kam und schließlich in mächtigen Sprüngen
den Bergabhang hinunterpolterte.

Die Bopparder wurden durch dieses Mißgeschick der Belagerer einigermaßen
getröstet und beschränkten sich darauf, die Knechte, die das desertierte Geschütz auf
einer in der Eile hergerichteten Schleife wieder den Berg hinaufzuschleppen ver¬
suchten, durch einige wohlgezielte Schüsse zu vertreiben. Gegen das feindliche Haupt¬
quartier selbst unternahmen sie jedoch nichts: man müsse, wie sie behauptete", die
Gebäude des Klosters, das an dem ganzen Handel doch unschuldig sei, solange es
anginge, verschonen.

Inzwischen hatte sich auch die Hauptbüchse auf der Filsener Lei an der Unter¬
haltung beteiligt. Ihr erster Schuß war jedoch zu kurz und traf anstatt der Mauer
die Böschung unter dem Leinpfad, die zweite Kugel ging über die Stadt, wühlte
den Acker auf und verschwand in einem Erbsenfeld, und erst die dritte erreichte ihr
Ziel, streifte die Mauerkrone, tat aber keinen weitern Schaden, als daß sie im Hofe
des Gerbermeisters Engel Thull durch die Wand einer Versetzgrube schlug und die
darin aufgeschichteten Häute samt der Lohe gehörig durcheinanderwarf.

Da die Wirkung der feindlichen Artillerie keineswegs den in der Stadt ge¬
hegten Befürchtungen entsprach, so besserte sich die Stimmung der Belagerten von
Stunde zu Stunde; sie beobachteten schließlich jeden einzelnen Schuß mit einem
aus angenehmem Gruseln und heiterm Spott gemischten Interesse und bedauerten
es beinahe, als um die Mittagstunde das zweite Hauptstück der Pfalzgräflichen bei
einem Schusse barst, den Büchsenmeister und zwei der Knechte schwer verwundete
und dadurch dem Feuer auf dieser Seite einstweilen ein Ende machte.

Aber schon ehe der Abend anbrach, ließ das Interesse an den Vorgängen da
draußen bei den meisten Boppardern so stark nach, daß sie kaum den Eintritt der
völligen Dunkelheit erwarten konnten, die den Büchsenmeistern hüben wie drüben
die Lunte aus der Hand nahm.

Morgen war ja Orgelborner Kirmes! Wenn sich die Souue hinter dem
Kamper Walde erhob, durfte man hinaus aus der engen, mit Menschen voll¬
gepfropften Stadt, hinauf zum Kloster und in der schönen Kirche des Stifts oder
doch auf dem geräumigen Platze davor der Messe beiwohnen, die man solange schon
hatte entbehren müssen. Und dann gab es auf dem grünen Anger, wo der Orgel¬
born kristallklar aus dem Felsen sprudelte, Spiel und Tanz, dann kreisten die Becher
von Hand zu Hand und die Mädchen von Arm zu Arm, und man durfte, wenn
auch nur für ein paar flüchtige Stunden, die Not der Zeit beim Klang der Fiedel
und der Sackpfeife vergessen.

Und der Morgen kam. Der Turmwächter von Se. Severus, der mit seinem
Horn den Sonnenaufgang verkündete, hätte sich heute seinen Frühruf sparen können,


Der Bopparder Krieg

Nicht lange darauf verkündete ein dumpfer Donner vom Se. Martinskloster
her, daß eine der beiden pfalzgräflichen Hauptbüchsen das erste Wort gesprochen
hatte. Aber es war in den Wind geredet: die Kugel, die der Rheinpforte zugedacht
gewesen war, fuhr in den Strom.

In der Stadt entstand eine gewaltige Bewegung, und die Begeisterung für
den feindlichen Kriegsherrn schlug wieder in das Gegenteil um. Man beschloß, den
Gruß zu erwidern, richtete jedoch die Kartaune, die ihr Sprüchlein hersagen sollte,
wohlweislich so, daß die Kugel am Se. Martinskloster vorüber ebenfalls in den
Rhein schlug. Jetzt tat auch „Snelgin", die zweite der kurfürstlichen Büchsen, ihren
ehernen Mund auf. Die Wirkung war eine doppelte, denn erstens riß das Geschoß,
das das Stadttor neben der kurfürstliche» Burg treffen sollte, an dieser selbst ein
Ecktürmchen ab, und zweitens lockerte die starke Erschütterung beim Schuß das aus
Mauerwerk frisch aufgeführte Lager der Schwesterbüchse „Ungnade", sodaß diese
aus dem Gleichgewicht geriet, ins Rollen kam und schließlich in mächtigen Sprüngen
den Bergabhang hinunterpolterte.

Die Bopparder wurden durch dieses Mißgeschick der Belagerer einigermaßen
getröstet und beschränkten sich darauf, die Knechte, die das desertierte Geschütz auf
einer in der Eile hergerichteten Schleife wieder den Berg hinaufzuschleppen ver¬
suchten, durch einige wohlgezielte Schüsse zu vertreiben. Gegen das feindliche Haupt¬
quartier selbst unternahmen sie jedoch nichts: man müsse, wie sie behauptete», die
Gebäude des Klosters, das an dem ganzen Handel doch unschuldig sei, solange es
anginge, verschonen.

Inzwischen hatte sich auch die Hauptbüchse auf der Filsener Lei an der Unter¬
haltung beteiligt. Ihr erster Schuß war jedoch zu kurz und traf anstatt der Mauer
die Böschung unter dem Leinpfad, die zweite Kugel ging über die Stadt, wühlte
den Acker auf und verschwand in einem Erbsenfeld, und erst die dritte erreichte ihr
Ziel, streifte die Mauerkrone, tat aber keinen weitern Schaden, als daß sie im Hofe
des Gerbermeisters Engel Thull durch die Wand einer Versetzgrube schlug und die
darin aufgeschichteten Häute samt der Lohe gehörig durcheinanderwarf.

Da die Wirkung der feindlichen Artillerie keineswegs den in der Stadt ge¬
hegten Befürchtungen entsprach, so besserte sich die Stimmung der Belagerten von
Stunde zu Stunde; sie beobachteten schließlich jeden einzelnen Schuß mit einem
aus angenehmem Gruseln und heiterm Spott gemischten Interesse und bedauerten
es beinahe, als um die Mittagstunde das zweite Hauptstück der Pfalzgräflichen bei
einem Schusse barst, den Büchsenmeister und zwei der Knechte schwer verwundete
und dadurch dem Feuer auf dieser Seite einstweilen ein Ende machte.

Aber schon ehe der Abend anbrach, ließ das Interesse an den Vorgängen da
draußen bei den meisten Boppardern so stark nach, daß sie kaum den Eintritt der
völligen Dunkelheit erwarten konnten, die den Büchsenmeistern hüben wie drüben
die Lunte aus der Hand nahm.

Morgen war ja Orgelborner Kirmes! Wenn sich die Souue hinter dem
Kamper Walde erhob, durfte man hinaus aus der engen, mit Menschen voll¬
gepfropften Stadt, hinauf zum Kloster und in der schönen Kirche des Stifts oder
doch auf dem geräumigen Platze davor der Messe beiwohnen, die man solange schon
hatte entbehren müssen. Und dann gab es auf dem grünen Anger, wo der Orgel¬
born kristallklar aus dem Felsen sprudelte, Spiel und Tanz, dann kreisten die Becher
von Hand zu Hand und die Mädchen von Arm zu Arm, und man durfte, wenn
auch nur für ein paar flüchtige Stunden, die Not der Zeit beim Klang der Fiedel
und der Sackpfeife vergessen.

Und der Morgen kam. Der Turmwächter von Se. Severus, der mit seinem
Horn den Sonnenaufgang verkündete, hätte sich heute seinen Frühruf sparen können,


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[0109] Der Bopparder Krieg Nicht lange darauf verkündete ein dumpfer Donner vom Se. Martinskloster her, daß eine der beiden pfalzgräflichen Hauptbüchsen das erste Wort gesprochen hatte. Aber es war in den Wind geredet: die Kugel, die der Rheinpforte zugedacht gewesen war, fuhr in den Strom. In der Stadt entstand eine gewaltige Bewegung, und die Begeisterung für den feindlichen Kriegsherrn schlug wieder in das Gegenteil um. Man beschloß, den Gruß zu erwidern, richtete jedoch die Kartaune, die ihr Sprüchlein hersagen sollte, wohlweislich so, daß die Kugel am Se. Martinskloster vorüber ebenfalls in den Rhein schlug. Jetzt tat auch „Snelgin", die zweite der kurfürstlichen Büchsen, ihren ehernen Mund auf. Die Wirkung war eine doppelte, denn erstens riß das Geschoß, das das Stadttor neben der kurfürstliche» Burg treffen sollte, an dieser selbst ein Ecktürmchen ab, und zweitens lockerte die starke Erschütterung beim Schuß das aus Mauerwerk frisch aufgeführte Lager der Schwesterbüchse „Ungnade", sodaß diese aus dem Gleichgewicht geriet, ins Rollen kam und schließlich in mächtigen Sprüngen den Bergabhang hinunterpolterte. Die Bopparder wurden durch dieses Mißgeschick der Belagerer einigermaßen getröstet und beschränkten sich darauf, die Knechte, die das desertierte Geschütz auf einer in der Eile hergerichteten Schleife wieder den Berg hinaufzuschleppen ver¬ suchten, durch einige wohlgezielte Schüsse zu vertreiben. Gegen das feindliche Haupt¬ quartier selbst unternahmen sie jedoch nichts: man müsse, wie sie behauptete», die Gebäude des Klosters, das an dem ganzen Handel doch unschuldig sei, solange es anginge, verschonen. Inzwischen hatte sich auch die Hauptbüchse auf der Filsener Lei an der Unter¬ haltung beteiligt. Ihr erster Schuß war jedoch zu kurz und traf anstatt der Mauer die Böschung unter dem Leinpfad, die zweite Kugel ging über die Stadt, wühlte den Acker auf und verschwand in einem Erbsenfeld, und erst die dritte erreichte ihr Ziel, streifte die Mauerkrone, tat aber keinen weitern Schaden, als daß sie im Hofe des Gerbermeisters Engel Thull durch die Wand einer Versetzgrube schlug und die darin aufgeschichteten Häute samt der Lohe gehörig durcheinanderwarf. Da die Wirkung der feindlichen Artillerie keineswegs den in der Stadt ge¬ hegten Befürchtungen entsprach, so besserte sich die Stimmung der Belagerten von Stunde zu Stunde; sie beobachteten schließlich jeden einzelnen Schuß mit einem aus angenehmem Gruseln und heiterm Spott gemischten Interesse und bedauerten es beinahe, als um die Mittagstunde das zweite Hauptstück der Pfalzgräflichen bei einem Schusse barst, den Büchsenmeister und zwei der Knechte schwer verwundete und dadurch dem Feuer auf dieser Seite einstweilen ein Ende machte. Aber schon ehe der Abend anbrach, ließ das Interesse an den Vorgängen da draußen bei den meisten Boppardern so stark nach, daß sie kaum den Eintritt der völligen Dunkelheit erwarten konnten, die den Büchsenmeistern hüben wie drüben die Lunte aus der Hand nahm. Morgen war ja Orgelborner Kirmes! Wenn sich die Souue hinter dem Kamper Walde erhob, durfte man hinaus aus der engen, mit Menschen voll¬ gepfropften Stadt, hinauf zum Kloster und in der schönen Kirche des Stifts oder doch auf dem geräumigen Platze davor der Messe beiwohnen, die man solange schon hatte entbehren müssen. Und dann gab es auf dem grünen Anger, wo der Orgel¬ born kristallklar aus dem Felsen sprudelte, Spiel und Tanz, dann kreisten die Becher von Hand zu Hand und die Mädchen von Arm zu Arm, und man durfte, wenn auch nur für ein paar flüchtige Stunden, die Not der Zeit beim Klang der Fiedel und der Sackpfeife vergessen. Und der Morgen kam. Der Turmwächter von Se. Severus, der mit seinem Horn den Sonnenaufgang verkündete, hätte sich heute seinen Frühruf sparen können,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/109>, abgerufen am 27.12.2024.