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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Aus der Hauptstadt des Sultans

Schüler Bachs, erzählt einmal, wie er als Jüngling dem Meister -- zu dessen
Lieblingen er offenbar gehörte -- am Cembalo beim Einstudieren der Kantaten
helfen durfte: "Man kann wohl vermuten, daß man sich mit einer magern
Generalbaßbegleitung ohnehin nicht vorwagen durfte. Dem ohnerachtet mußte
man sich darauf gefaßt machen, daß sich oft Bachs Hände und Finger unter
die Hände und Finger des Spielers mischten und, ohne diesen weiter zu genieren,
das Attvmpagnement mit Massen von Harmonien ausstaffierten, die noch mehr
imponierten als die unvermutete nahe Gegenwart des strengen Lehrers." Solche
gelegentliche Erinnerungen zeigen, was bei der Wiedergabe dieser Werke
Alfred heil Wesentlich ist.




Aus der Hauptstadt des Sultans
Toepfer Reiseerinnerungen von

en Unterschied zwischen Reich und Arm sieht man nirgends deut-
I licher, als wenn man in Konstantinopel aus dem Dolma-Bagtsche-
Itor hinaustritt und die Große Galatastraße entlang zur Brücke
fährt. Hier hat man das Äußere und das Leben und Treiben
eines Hafenviertels, worin nur einige Niederlagen und eine Anzahl
Kondore an die Stelle alter Hütten und Spelunken getreten sind. An die
Hafenstraße schließt sich ein Gewirr kleiner, enger, schmutziger Gassen, durch
das man sich mühsam drängt und stößt, und wo ein Völkermischmasch ohne¬
gleichen den Aufenthalt ebenso unbehaglich wie ethnographisch interessant macht.
Die Straßen sind mit offnen Luder sür Früchte, Tabak, Manufakturen und
mancherlei europäischen Schund, mit Wechselstuben, Barbierstuben, Garküchen
und Bäckereien besetzt, sind winklig, dunkel, muffig, die Häuser noch vielfach
mangelhaft zurechtgezimmerte, in Sturm und Drang und Not verbogne Holz¬
baracken, die zusammenzustürzen drohen. Unmerklich geht dieses Gewirr in den
höher liegenden, nach Licht und Lust strebenden Stadtteil Pera, das Freuden¬
viertel, über. Wo Feuer oder Spekulation mit dem Gerümpel geräumt hat,
sind neue Gebäude, in den Hauptstraßen ganze Züge von Geschäftshäusern ent¬
standen, nicht gerade Prachtbauten, aber doch bessere, zweckmüßigere Häuser, die
nur mangels vernünftiger Baupolizei nicht immer in einer Flucht stehn. So
macht die Große Percistraße, die man von Galata aus zu Fuß auf der Treppen¬
straße Jüksek Kaldyrym oder mit der Drahtseilbahn oder zu Wagen westlich
ausholend erreichen kann, keineswegs den Eindruck einer Prachtstraße, obgleich
sie durch größere Gebäudekomplexe wie zum Beispiel die in Gurten zurückge¬
zognen Paläste der russischen Botschaft und der schwedischen Gesandtschaft unter¬
brochen ist. Imponierend stattlich steht nicht allzuweit von der Artilleriekaserne,
einem Friedhof gegenüber an der Höhe über Fundukli das einfach stilisierte
Palais der deutschen Botschaft, das von seiner Terrasse aus einen ebenso
schönen Überblick auf Stambul und auf das Ostgestade des Bosporus gewährt
wie die Serailterrasse. Fast ebenso günstig liegt das Perapalnsthotel am


Grenzboten II 1906 9V
Aus der Hauptstadt des Sultans

Schüler Bachs, erzählt einmal, wie er als Jüngling dem Meister — zu dessen
Lieblingen er offenbar gehörte — am Cembalo beim Einstudieren der Kantaten
helfen durfte: „Man kann wohl vermuten, daß man sich mit einer magern
Generalbaßbegleitung ohnehin nicht vorwagen durfte. Dem ohnerachtet mußte
man sich darauf gefaßt machen, daß sich oft Bachs Hände und Finger unter
die Hände und Finger des Spielers mischten und, ohne diesen weiter zu genieren,
das Attvmpagnement mit Massen von Harmonien ausstaffierten, die noch mehr
imponierten als die unvermutete nahe Gegenwart des strengen Lehrers." Solche
gelegentliche Erinnerungen zeigen, was bei der Wiedergabe dieser Werke
Alfred heil Wesentlich ist.




Aus der Hauptstadt des Sultans
Toepfer Reiseerinnerungen von

en Unterschied zwischen Reich und Arm sieht man nirgends deut-
I licher, als wenn man in Konstantinopel aus dem Dolma-Bagtsche-
Itor hinaustritt und die Große Galatastraße entlang zur Brücke
fährt. Hier hat man das Äußere und das Leben und Treiben
eines Hafenviertels, worin nur einige Niederlagen und eine Anzahl
Kondore an die Stelle alter Hütten und Spelunken getreten sind. An die
Hafenstraße schließt sich ein Gewirr kleiner, enger, schmutziger Gassen, durch
das man sich mühsam drängt und stößt, und wo ein Völkermischmasch ohne¬
gleichen den Aufenthalt ebenso unbehaglich wie ethnographisch interessant macht.
Die Straßen sind mit offnen Luder sür Früchte, Tabak, Manufakturen und
mancherlei europäischen Schund, mit Wechselstuben, Barbierstuben, Garküchen
und Bäckereien besetzt, sind winklig, dunkel, muffig, die Häuser noch vielfach
mangelhaft zurechtgezimmerte, in Sturm und Drang und Not verbogne Holz¬
baracken, die zusammenzustürzen drohen. Unmerklich geht dieses Gewirr in den
höher liegenden, nach Licht und Lust strebenden Stadtteil Pera, das Freuden¬
viertel, über. Wo Feuer oder Spekulation mit dem Gerümpel geräumt hat,
sind neue Gebäude, in den Hauptstraßen ganze Züge von Geschäftshäusern ent¬
standen, nicht gerade Prachtbauten, aber doch bessere, zweckmüßigere Häuser, die
nur mangels vernünftiger Baupolizei nicht immer in einer Flucht stehn. So
macht die Große Percistraße, die man von Galata aus zu Fuß auf der Treppen¬
straße Jüksek Kaldyrym oder mit der Drahtseilbahn oder zu Wagen westlich
ausholend erreichen kann, keineswegs den Eindruck einer Prachtstraße, obgleich
sie durch größere Gebäudekomplexe wie zum Beispiel die in Gurten zurückge¬
zognen Paläste der russischen Botschaft und der schwedischen Gesandtschaft unter¬
brochen ist. Imponierend stattlich steht nicht allzuweit von der Artilleriekaserne,
einem Friedhof gegenüber an der Höhe über Fundukli das einfach stilisierte
Palais der deutschen Botschaft, das von seiner Terrasse aus einen ebenso
schönen Überblick auf Stambul und auf das Ostgestade des Bosporus gewährt
wie die Serailterrasse. Fast ebenso günstig liegt das Perapalnsthotel am


Grenzboten II 1906 9V
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[0713] Aus der Hauptstadt des Sultans Schüler Bachs, erzählt einmal, wie er als Jüngling dem Meister — zu dessen Lieblingen er offenbar gehörte — am Cembalo beim Einstudieren der Kantaten helfen durfte: „Man kann wohl vermuten, daß man sich mit einer magern Generalbaßbegleitung ohnehin nicht vorwagen durfte. Dem ohnerachtet mußte man sich darauf gefaßt machen, daß sich oft Bachs Hände und Finger unter die Hände und Finger des Spielers mischten und, ohne diesen weiter zu genieren, das Attvmpagnement mit Massen von Harmonien ausstaffierten, die noch mehr imponierten als die unvermutete nahe Gegenwart des strengen Lehrers." Solche gelegentliche Erinnerungen zeigen, was bei der Wiedergabe dieser Werke Alfred heil Wesentlich ist. Aus der Hauptstadt des Sultans Toepfer Reiseerinnerungen von en Unterschied zwischen Reich und Arm sieht man nirgends deut- I licher, als wenn man in Konstantinopel aus dem Dolma-Bagtsche- Itor hinaustritt und die Große Galatastraße entlang zur Brücke fährt. Hier hat man das Äußere und das Leben und Treiben eines Hafenviertels, worin nur einige Niederlagen und eine Anzahl Kondore an die Stelle alter Hütten und Spelunken getreten sind. An die Hafenstraße schließt sich ein Gewirr kleiner, enger, schmutziger Gassen, durch das man sich mühsam drängt und stößt, und wo ein Völkermischmasch ohne¬ gleichen den Aufenthalt ebenso unbehaglich wie ethnographisch interessant macht. Die Straßen sind mit offnen Luder sür Früchte, Tabak, Manufakturen und mancherlei europäischen Schund, mit Wechselstuben, Barbierstuben, Garküchen und Bäckereien besetzt, sind winklig, dunkel, muffig, die Häuser noch vielfach mangelhaft zurechtgezimmerte, in Sturm und Drang und Not verbogne Holz¬ baracken, die zusammenzustürzen drohen. Unmerklich geht dieses Gewirr in den höher liegenden, nach Licht und Lust strebenden Stadtteil Pera, das Freuden¬ viertel, über. Wo Feuer oder Spekulation mit dem Gerümpel geräumt hat, sind neue Gebäude, in den Hauptstraßen ganze Züge von Geschäftshäusern ent¬ standen, nicht gerade Prachtbauten, aber doch bessere, zweckmüßigere Häuser, die nur mangels vernünftiger Baupolizei nicht immer in einer Flucht stehn. So macht die Große Percistraße, die man von Galata aus zu Fuß auf der Treppen¬ straße Jüksek Kaldyrym oder mit der Drahtseilbahn oder zu Wagen westlich ausholend erreichen kann, keineswegs den Eindruck einer Prachtstraße, obgleich sie durch größere Gebäudekomplexe wie zum Beispiel die in Gurten zurückge¬ zognen Paläste der russischen Botschaft und der schwedischen Gesandtschaft unter¬ brochen ist. Imponierend stattlich steht nicht allzuweit von der Artilleriekaserne, einem Friedhof gegenüber an der Höhe über Fundukli das einfach stilisierte Palais der deutschen Botschaft, das von seiner Terrasse aus einen ebenso schönen Überblick auf Stambul und auf das Ostgestade des Bosporus gewährt wie die Serailterrasse. Fast ebenso günstig liegt das Perapalnsthotel am Grenzboten II 1906 9V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/713>, abgerufen am 27.12.2024.