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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

teilen gegenüber sind wir wehrlos und daher um so empfindlicher und reizbarer.
Die meisten solcher Nachrichten sind selbstverständlich falsch oder übertrieben oder be¬
ruhen auf unrichtiger Auffassung. Aber sie fliegen auf den englischen Kabeln über
die Erde in die Londoner Zeitungen und tragen nicht wenig dazu bei, dort jene
Stimmung zu nähren, die sich teils aus Groll gegen den Deutschen Kaiser, teils
aus Neid an dem Aufschwung unsers Handels und unsrer Industrie, teils aus einer
unbegreiflichen Furcht vor der deutschen Flotte zusammensetzt. Die beiderseitigen
Zeitungen und größern Revuen sollten sich gegenseitig das Wort geben, ein Jahr
lang nichts gegeneinander zu schreiben, wenigstens jede Verdächtigung und jede Ver¬
hetzung auszuschließen, wohl aber alles zu fördern, was dem gegenseitigen Sichverstehn
dient. Die Organisierung von Besuchen einzelner Berufskategorien, wie sie seit einiger
Zeit stattfindet, dürfte in dieser Hinsicht ein ganz ausgezeichnetes Mittel sein, voraus¬
gesetzt, daß es zweckmäßig angewandt wird. Wir können von England und den
Engländern manches lernen, ebenso haben diese schon eingesehen, daß auch in Deutsch¬
land manches Vorbildliche zu finden ist. Mindestens sollten die beiden Nationen
auf einem Fuß bleiben, der die Drohung mit Flottenüberfällen, wie sie im vorigen
Jahre von englischer Seite laut wurden, ausschließt.

Seit mehr als Jahr und Tag ist in den Grenzboten der Gedanke eines
Reichs-Oberhauses aufgenommen und vertreten worden; durch Einschaltung dieser
neuen gesetzgebenden Macht sollten die unheilvollen Wirkungen des jetzigen Reichs¬
wahlrechts abgeschwächt und einigermaßen paralysiert werden. Im Laufe des letzten
Winters hat auch Staatssekretär Graf Posadowsky im Reichstage Andeutungen ge¬
macht, die immerhin darauf schließen lassen, daß die im Jahre 1870 vom damaligen
Kronprinzen und einer Anzahl deutscher Fürsten sehr warm vertretne Oberhaus¬
idee, die an der Abneigung Bismarcks scheiterte, in den maßgebenden Kreisen von
neuem in Erwägung gezogen worden ist. Es hätte sehr nahe gelegen, wenn man
die Reichsverfassung doch durch Einführung der Diäten abändern wollte, diese
weitere Demokratisierung der Reichsgrundlagen durch das Gegengewicht eines
Oberhauses auszugleichen. Diese Maßregel läßt sich aber so kurzerhand nicht er¬
ledigen und bedarf so eingehender Erwägungen und umfangreicher Verhandlungen,
daß es schwer durchführbar gewesen wäre, beide Maßnahmen miteinander zu ver¬
binden, falls das Diätengesetz noch in diesem Frühjahre zur Entscheidung kommen
sollte. Nun haben neuerdings die Hamburger Nachrichten die Frage ganz im
Sinne der Grenzboten behandelt. Demgegenüber ist es auffallend, daß sich die
Kreuzzeitung ablehnend verhält und sich hinter die Hoffnung zurückzieht, es werde
sich eine bessere Zusammensetzung des Reichstags auch mit dem bestehenden Wahl¬
recht erreichen lassen. Die Ansicht, daß der Reichstag für ein Oberhaus nicht zu
haben wäre, ist nicht zutreffend, freisinnige Blätter haben sich keineswegs verneinend
ausgesprochen, ebenso der Abgeordnete Müller-Meiningen. Schließlich würden sich
doch weder die konservativen Gruppen, noch die Nationalliberalen, noch das Zentrum
ablehnend verhalten. Freilich käme es darauf an, wie man sich die Zusammen¬
setzung dieses Oberhauses denkt. Die Vertretung einer Pairie allein wird es nicht
sein dürfen, auch nicht ein gewählter Senat. Aber es sind Kategorien genug vor¬
handen, die durchaus geeignet sind, Vertreter aus ihrer Mitte in das Oberhaus
zu senden. Auch Fürst Bismarck hat in den letzten Jahren seines Lebens einen
prinzipiellen Widerspruch gegen ein Oberhaus nicht mehr erhoben, sondern erkannte
bei wiederholten gelegentlichen Erörterungen dieser Frage an, daß ein Oberhaus
nützlich wirken könne, doch würde das von der Zusammensetzung abhängen. Nicht
nur Amerika, Frankreich und die Schweiz -- die Musterrepubliken -- haben
durchweg Senate als ausgleichende Macht eingeführt, sondern es ist überhaupt kein
einziger Großstaat oder größerer Staat ohne eine Erste Kammer vorhanden. Es
ist schwerlich anzunehmen, daß wir ihrer auf die Dauer werden entraten können.
Auch die Reichsverfassung von 1849 hatte ein "Staatenhaus" von 192 Mitgliedern,
die zur Hälfte durch die Regierungen, zur Hälfte durch die Volksvertretungen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

teilen gegenüber sind wir wehrlos und daher um so empfindlicher und reizbarer.
Die meisten solcher Nachrichten sind selbstverständlich falsch oder übertrieben oder be¬
ruhen auf unrichtiger Auffassung. Aber sie fliegen auf den englischen Kabeln über
die Erde in die Londoner Zeitungen und tragen nicht wenig dazu bei, dort jene
Stimmung zu nähren, die sich teils aus Groll gegen den Deutschen Kaiser, teils
aus Neid an dem Aufschwung unsers Handels und unsrer Industrie, teils aus einer
unbegreiflichen Furcht vor der deutschen Flotte zusammensetzt. Die beiderseitigen
Zeitungen und größern Revuen sollten sich gegenseitig das Wort geben, ein Jahr
lang nichts gegeneinander zu schreiben, wenigstens jede Verdächtigung und jede Ver¬
hetzung auszuschließen, wohl aber alles zu fördern, was dem gegenseitigen Sichverstehn
dient. Die Organisierung von Besuchen einzelner Berufskategorien, wie sie seit einiger
Zeit stattfindet, dürfte in dieser Hinsicht ein ganz ausgezeichnetes Mittel sein, voraus¬
gesetzt, daß es zweckmäßig angewandt wird. Wir können von England und den
Engländern manches lernen, ebenso haben diese schon eingesehen, daß auch in Deutsch¬
land manches Vorbildliche zu finden ist. Mindestens sollten die beiden Nationen
auf einem Fuß bleiben, der die Drohung mit Flottenüberfällen, wie sie im vorigen
Jahre von englischer Seite laut wurden, ausschließt.

Seit mehr als Jahr und Tag ist in den Grenzboten der Gedanke eines
Reichs-Oberhauses aufgenommen und vertreten worden; durch Einschaltung dieser
neuen gesetzgebenden Macht sollten die unheilvollen Wirkungen des jetzigen Reichs¬
wahlrechts abgeschwächt und einigermaßen paralysiert werden. Im Laufe des letzten
Winters hat auch Staatssekretär Graf Posadowsky im Reichstage Andeutungen ge¬
macht, die immerhin darauf schließen lassen, daß die im Jahre 1870 vom damaligen
Kronprinzen und einer Anzahl deutscher Fürsten sehr warm vertretne Oberhaus¬
idee, die an der Abneigung Bismarcks scheiterte, in den maßgebenden Kreisen von
neuem in Erwägung gezogen worden ist. Es hätte sehr nahe gelegen, wenn man
die Reichsverfassung doch durch Einführung der Diäten abändern wollte, diese
weitere Demokratisierung der Reichsgrundlagen durch das Gegengewicht eines
Oberhauses auszugleichen. Diese Maßregel läßt sich aber so kurzerhand nicht er¬
ledigen und bedarf so eingehender Erwägungen und umfangreicher Verhandlungen,
daß es schwer durchführbar gewesen wäre, beide Maßnahmen miteinander zu ver¬
binden, falls das Diätengesetz noch in diesem Frühjahre zur Entscheidung kommen
sollte. Nun haben neuerdings die Hamburger Nachrichten die Frage ganz im
Sinne der Grenzboten behandelt. Demgegenüber ist es auffallend, daß sich die
Kreuzzeitung ablehnend verhält und sich hinter die Hoffnung zurückzieht, es werde
sich eine bessere Zusammensetzung des Reichstags auch mit dem bestehenden Wahl¬
recht erreichen lassen. Die Ansicht, daß der Reichstag für ein Oberhaus nicht zu
haben wäre, ist nicht zutreffend, freisinnige Blätter haben sich keineswegs verneinend
ausgesprochen, ebenso der Abgeordnete Müller-Meiningen. Schließlich würden sich
doch weder die konservativen Gruppen, noch die Nationalliberalen, noch das Zentrum
ablehnend verhalten. Freilich käme es darauf an, wie man sich die Zusammen¬
setzung dieses Oberhauses denkt. Die Vertretung einer Pairie allein wird es nicht
sein dürfen, auch nicht ein gewählter Senat. Aber es sind Kategorien genug vor¬
handen, die durchaus geeignet sind, Vertreter aus ihrer Mitte in das Oberhaus
zu senden. Auch Fürst Bismarck hat in den letzten Jahren seines Lebens einen
prinzipiellen Widerspruch gegen ein Oberhaus nicht mehr erhoben, sondern erkannte
bei wiederholten gelegentlichen Erörterungen dieser Frage an, daß ein Oberhaus
nützlich wirken könne, doch würde das von der Zusammensetzung abhängen. Nicht
nur Amerika, Frankreich und die Schweiz — die Musterrepubliken — haben
durchweg Senate als ausgleichende Macht eingeführt, sondern es ist überhaupt kein
einziger Großstaat oder größerer Staat ohne eine Erste Kammer vorhanden. Es
ist schwerlich anzunehmen, daß wir ihrer auf die Dauer werden entraten können.
Auch die Reichsverfassung von 1849 hatte ein „Staatenhaus" von 192 Mitgliedern,
die zur Hälfte durch die Regierungen, zur Hälfte durch die Volksvertretungen


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[0676] Maßgebliches und Unmaßgebliches teilen gegenüber sind wir wehrlos und daher um so empfindlicher und reizbarer. Die meisten solcher Nachrichten sind selbstverständlich falsch oder übertrieben oder be¬ ruhen auf unrichtiger Auffassung. Aber sie fliegen auf den englischen Kabeln über die Erde in die Londoner Zeitungen und tragen nicht wenig dazu bei, dort jene Stimmung zu nähren, die sich teils aus Groll gegen den Deutschen Kaiser, teils aus Neid an dem Aufschwung unsers Handels und unsrer Industrie, teils aus einer unbegreiflichen Furcht vor der deutschen Flotte zusammensetzt. Die beiderseitigen Zeitungen und größern Revuen sollten sich gegenseitig das Wort geben, ein Jahr lang nichts gegeneinander zu schreiben, wenigstens jede Verdächtigung und jede Ver¬ hetzung auszuschließen, wohl aber alles zu fördern, was dem gegenseitigen Sichverstehn dient. Die Organisierung von Besuchen einzelner Berufskategorien, wie sie seit einiger Zeit stattfindet, dürfte in dieser Hinsicht ein ganz ausgezeichnetes Mittel sein, voraus¬ gesetzt, daß es zweckmäßig angewandt wird. Wir können von England und den Engländern manches lernen, ebenso haben diese schon eingesehen, daß auch in Deutsch¬ land manches Vorbildliche zu finden ist. Mindestens sollten die beiden Nationen auf einem Fuß bleiben, der die Drohung mit Flottenüberfällen, wie sie im vorigen Jahre von englischer Seite laut wurden, ausschließt. Seit mehr als Jahr und Tag ist in den Grenzboten der Gedanke eines Reichs-Oberhauses aufgenommen und vertreten worden; durch Einschaltung dieser neuen gesetzgebenden Macht sollten die unheilvollen Wirkungen des jetzigen Reichs¬ wahlrechts abgeschwächt und einigermaßen paralysiert werden. Im Laufe des letzten Winters hat auch Staatssekretär Graf Posadowsky im Reichstage Andeutungen ge¬ macht, die immerhin darauf schließen lassen, daß die im Jahre 1870 vom damaligen Kronprinzen und einer Anzahl deutscher Fürsten sehr warm vertretne Oberhaus¬ idee, die an der Abneigung Bismarcks scheiterte, in den maßgebenden Kreisen von neuem in Erwägung gezogen worden ist. Es hätte sehr nahe gelegen, wenn man die Reichsverfassung doch durch Einführung der Diäten abändern wollte, diese weitere Demokratisierung der Reichsgrundlagen durch das Gegengewicht eines Oberhauses auszugleichen. Diese Maßregel läßt sich aber so kurzerhand nicht er¬ ledigen und bedarf so eingehender Erwägungen und umfangreicher Verhandlungen, daß es schwer durchführbar gewesen wäre, beide Maßnahmen miteinander zu ver¬ binden, falls das Diätengesetz noch in diesem Frühjahre zur Entscheidung kommen sollte. Nun haben neuerdings die Hamburger Nachrichten die Frage ganz im Sinne der Grenzboten behandelt. Demgegenüber ist es auffallend, daß sich die Kreuzzeitung ablehnend verhält und sich hinter die Hoffnung zurückzieht, es werde sich eine bessere Zusammensetzung des Reichstags auch mit dem bestehenden Wahl¬ recht erreichen lassen. Die Ansicht, daß der Reichstag für ein Oberhaus nicht zu haben wäre, ist nicht zutreffend, freisinnige Blätter haben sich keineswegs verneinend ausgesprochen, ebenso der Abgeordnete Müller-Meiningen. Schließlich würden sich doch weder die konservativen Gruppen, noch die Nationalliberalen, noch das Zentrum ablehnend verhalten. Freilich käme es darauf an, wie man sich die Zusammen¬ setzung dieses Oberhauses denkt. Die Vertretung einer Pairie allein wird es nicht sein dürfen, auch nicht ein gewählter Senat. Aber es sind Kategorien genug vor¬ handen, die durchaus geeignet sind, Vertreter aus ihrer Mitte in das Oberhaus zu senden. Auch Fürst Bismarck hat in den letzten Jahren seines Lebens einen prinzipiellen Widerspruch gegen ein Oberhaus nicht mehr erhoben, sondern erkannte bei wiederholten gelegentlichen Erörterungen dieser Frage an, daß ein Oberhaus nützlich wirken könne, doch würde das von der Zusammensetzung abhängen. Nicht nur Amerika, Frankreich und die Schweiz — die Musterrepubliken — haben durchweg Senate als ausgleichende Macht eingeführt, sondern es ist überhaupt kein einziger Großstaat oder größerer Staat ohne eine Erste Kammer vorhanden. Es ist schwerlich anzunehmen, daß wir ihrer auf die Dauer werden entraten können. Auch die Reichsverfassung von 1849 hatte ein „Staatenhaus" von 192 Mitgliedern, die zur Hälfte durch die Regierungen, zur Hälfte durch die Volksvertretungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/676>, abgerufen am 27.12.2024.