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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Der Bopparder Krieg

Mädchen fühlte, daß die hellen, alles durchdringenden Augen der Matrone heute
ganz besonders prüfend auf ihr ruhten, und errötete.

Nach Tisch zog sich die Domina in ihr Kabinett zurück und bat Regina, ihr
zu folgen. Sie selbst setzte sich in den hohen geschnitzten Lehnsessel am Fenster,
während das Mädchen auf einem Schemel zu ihren Füßen Platz nehmen mußte.
Das war nichts außergewöhnliches. Die Äbtissin war dem muntern, aufgeweckten
Kinde schon zu der Zeit, wo sie noch das Amt der Priorin bekleidet hatte, immer
herzlich zugetan gewesen, und daran hatte auch ihre Erhebung zu der höchsten Würde
nichts zu ändern vermocht. Wenn die Damen im Rebenstock wohnten -- und das
geschah alljährlich gewöhnlich um die Fastnachtszeit und während der Weinlese --,
mußte Regina den ganzen Tag über der Domina zur Verfügung stehn, der es Freude
machte, sich mit ihr zu unterhalten und sie in den mancherlei Künsten und Hand¬
fertigkeiten, wie sie im Kloster geübt wurden, zu unterweisen. So hatte sich zwischen
der hohen Frau, die einem der edelsten Geschlechter des Landes entstammte, und
die schon in ihrer äußern Erscheinung: dem stattlichen Wuchs, der zarten, rosigen
Hautfarbe und den kühlen, blauen Augen das Urbild einer geistlichen Würden-
trägerin war, und dem jungen, braunen Bürgermädchen eine Art von freundschaft¬
licher Zuneigung entwickelt. Regina pflegte der Gönnerin von ihren kleinen Freuden
und Sorgen zu berichten -- besonders von solchen, für die sie bei ihrer tüchtigen
aber derben Mutter kein Verständnis erwarten durfte --, und die Äbtissin hörte
ihr mit ungeheuchelter Teilnahme zu und wußte für alles Rat. So war es schon
vor zehn Jahren gewesen. Damals war Regina aus kindlicher Begeisterung für
das der Kirche geweihte Leben ihrer frommen mütterlichen Freundin auf den Ge¬
danken gekommen, ihre Puppen geistlich werden zu lassen, und die Äbtissin hatte
ihr aus allerlei Läppchen schwarzen Wollenstoffs und weißer Leinwand bereitwillig
Hahns und Kappen für die hölzernen Döcklein zurechtgeschneidert. Als aber die
ältern Damen des hohen Klosters ob dieser von weltlicher Eitelkeit abgewandten
Gesinnung des Kindes große Freude an den Tag gelegt und der Mutter zu der
künftigen jungen Laienschwester gratuliere hatten, da hatte die Domina mit Ent¬
schiedenheit geäußert, Regina passe ganz und gar nicht für den geistlichen Beruf
und werde als ein echtes Weltkind nie daran denken, den Schleier zu nehmen.

Und darin hatte die Domina Recht behalten -- zu ihrer eignen Freude und
Genugtuung. Schon seit etlichen Jahren hatte sie mit liebevoll beobachtenden Auge
bei dem zur Jungfrau erblühenden Kinde nach den kleinen aber untrüglichen Anzeichen
ausgeschaut, die über kurz oder lang dartun mußten, daß ihr Schützling gesonnen
sei, sich noch enger an die Welt zu ketten, aber bis dahin war kein solches An¬
zeichen zu entdecken gewesen. Heute jedoch glaubte die Matrone auf der rechten
Spur zu sein.

Von dem Salmen ist ein gut Teil übrig geblieben, sagte die Äbtissin, während
sie so gleichgiltig wie möglich auf die Gasse hinabschaute, schade, daß wirs nicht
denen in der Burg senden können. Würden uns gewißlich Dank wissen.

Das Mädchen sah erstaunt zu der Äbtissin empor.

Wird wohl nun bald an die sechs Wochen sein, daß sie eingeschlossen sind,
fuhr diese fort, und wer weiß, ob sie sich zuvor mit Speise versehen hatten.

Sechs Wochen und vier Tage Werdens heut, berichtete Regina, der plötzlich
die Tränen in die Augen traten.

Sechs Wochen und vier Tage? Das weißt du ja recht genau. Hast wohl
ein herzliches Mitleid mit ihnen? fragte die Domina teilnehmend.

Das Mädchen preßte beide Hände vor das Antlitz und schluchzte zum Erbarmen.
Die schlimmen Stadtknechte lassen nichts hinein, sagte sie, in der Samstagnacht
haben sie erst wieder drei Hämmel weggefangen. Und so werden die armen Menschen
Hungers sterben müssen.

Sind gewißlich böse Gesellen, die Kurfürstlichen, und verstockte Sünder, denn
sonst würden Gott und die lieben Heiligen Wohl ein Wunder tun. Hat nicht einst


Der Bopparder Krieg

Mädchen fühlte, daß die hellen, alles durchdringenden Augen der Matrone heute
ganz besonders prüfend auf ihr ruhten, und errötete.

Nach Tisch zog sich die Domina in ihr Kabinett zurück und bat Regina, ihr
zu folgen. Sie selbst setzte sich in den hohen geschnitzten Lehnsessel am Fenster,
während das Mädchen auf einem Schemel zu ihren Füßen Platz nehmen mußte.
Das war nichts außergewöhnliches. Die Äbtissin war dem muntern, aufgeweckten
Kinde schon zu der Zeit, wo sie noch das Amt der Priorin bekleidet hatte, immer
herzlich zugetan gewesen, und daran hatte auch ihre Erhebung zu der höchsten Würde
nichts zu ändern vermocht. Wenn die Damen im Rebenstock wohnten — und das
geschah alljährlich gewöhnlich um die Fastnachtszeit und während der Weinlese —,
mußte Regina den ganzen Tag über der Domina zur Verfügung stehn, der es Freude
machte, sich mit ihr zu unterhalten und sie in den mancherlei Künsten und Hand¬
fertigkeiten, wie sie im Kloster geübt wurden, zu unterweisen. So hatte sich zwischen
der hohen Frau, die einem der edelsten Geschlechter des Landes entstammte, und
die schon in ihrer äußern Erscheinung: dem stattlichen Wuchs, der zarten, rosigen
Hautfarbe und den kühlen, blauen Augen das Urbild einer geistlichen Würden-
trägerin war, und dem jungen, braunen Bürgermädchen eine Art von freundschaft¬
licher Zuneigung entwickelt. Regina pflegte der Gönnerin von ihren kleinen Freuden
und Sorgen zu berichten — besonders von solchen, für die sie bei ihrer tüchtigen
aber derben Mutter kein Verständnis erwarten durfte —, und die Äbtissin hörte
ihr mit ungeheuchelter Teilnahme zu und wußte für alles Rat. So war es schon
vor zehn Jahren gewesen. Damals war Regina aus kindlicher Begeisterung für
das der Kirche geweihte Leben ihrer frommen mütterlichen Freundin auf den Ge¬
danken gekommen, ihre Puppen geistlich werden zu lassen, und die Äbtissin hatte
ihr aus allerlei Läppchen schwarzen Wollenstoffs und weißer Leinwand bereitwillig
Hahns und Kappen für die hölzernen Döcklein zurechtgeschneidert. Als aber die
ältern Damen des hohen Klosters ob dieser von weltlicher Eitelkeit abgewandten
Gesinnung des Kindes große Freude an den Tag gelegt und der Mutter zu der
künftigen jungen Laienschwester gratuliere hatten, da hatte die Domina mit Ent¬
schiedenheit geäußert, Regina passe ganz und gar nicht für den geistlichen Beruf
und werde als ein echtes Weltkind nie daran denken, den Schleier zu nehmen.

Und darin hatte die Domina Recht behalten — zu ihrer eignen Freude und
Genugtuung. Schon seit etlichen Jahren hatte sie mit liebevoll beobachtenden Auge
bei dem zur Jungfrau erblühenden Kinde nach den kleinen aber untrüglichen Anzeichen
ausgeschaut, die über kurz oder lang dartun mußten, daß ihr Schützling gesonnen
sei, sich noch enger an die Welt zu ketten, aber bis dahin war kein solches An¬
zeichen zu entdecken gewesen. Heute jedoch glaubte die Matrone auf der rechten
Spur zu sein.

Von dem Salmen ist ein gut Teil übrig geblieben, sagte die Äbtissin, während
sie so gleichgiltig wie möglich auf die Gasse hinabschaute, schade, daß wirs nicht
denen in der Burg senden können. Würden uns gewißlich Dank wissen.

Das Mädchen sah erstaunt zu der Äbtissin empor.

Wird wohl nun bald an die sechs Wochen sein, daß sie eingeschlossen sind,
fuhr diese fort, und wer weiß, ob sie sich zuvor mit Speise versehen hatten.

Sechs Wochen und vier Tage Werdens heut, berichtete Regina, der plötzlich
die Tränen in die Augen traten.

Sechs Wochen und vier Tage? Das weißt du ja recht genau. Hast wohl
ein herzliches Mitleid mit ihnen? fragte die Domina teilnehmend.

Das Mädchen preßte beide Hände vor das Antlitz und schluchzte zum Erbarmen.
Die schlimmen Stadtknechte lassen nichts hinein, sagte sie, in der Samstagnacht
haben sie erst wieder drei Hämmel weggefangen. Und so werden die armen Menschen
Hungers sterben müssen.

Sind gewißlich böse Gesellen, die Kurfürstlichen, und verstockte Sünder, denn
sonst würden Gott und die lieben Heiligen Wohl ein Wunder tun. Hat nicht einst


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[0672] Der Bopparder Krieg Mädchen fühlte, daß die hellen, alles durchdringenden Augen der Matrone heute ganz besonders prüfend auf ihr ruhten, und errötete. Nach Tisch zog sich die Domina in ihr Kabinett zurück und bat Regina, ihr zu folgen. Sie selbst setzte sich in den hohen geschnitzten Lehnsessel am Fenster, während das Mädchen auf einem Schemel zu ihren Füßen Platz nehmen mußte. Das war nichts außergewöhnliches. Die Äbtissin war dem muntern, aufgeweckten Kinde schon zu der Zeit, wo sie noch das Amt der Priorin bekleidet hatte, immer herzlich zugetan gewesen, und daran hatte auch ihre Erhebung zu der höchsten Würde nichts zu ändern vermocht. Wenn die Damen im Rebenstock wohnten — und das geschah alljährlich gewöhnlich um die Fastnachtszeit und während der Weinlese —, mußte Regina den ganzen Tag über der Domina zur Verfügung stehn, der es Freude machte, sich mit ihr zu unterhalten und sie in den mancherlei Künsten und Hand¬ fertigkeiten, wie sie im Kloster geübt wurden, zu unterweisen. So hatte sich zwischen der hohen Frau, die einem der edelsten Geschlechter des Landes entstammte, und die schon in ihrer äußern Erscheinung: dem stattlichen Wuchs, der zarten, rosigen Hautfarbe und den kühlen, blauen Augen das Urbild einer geistlichen Würden- trägerin war, und dem jungen, braunen Bürgermädchen eine Art von freundschaft¬ licher Zuneigung entwickelt. Regina pflegte der Gönnerin von ihren kleinen Freuden und Sorgen zu berichten — besonders von solchen, für die sie bei ihrer tüchtigen aber derben Mutter kein Verständnis erwarten durfte —, und die Äbtissin hörte ihr mit ungeheuchelter Teilnahme zu und wußte für alles Rat. So war es schon vor zehn Jahren gewesen. Damals war Regina aus kindlicher Begeisterung für das der Kirche geweihte Leben ihrer frommen mütterlichen Freundin auf den Ge¬ danken gekommen, ihre Puppen geistlich werden zu lassen, und die Äbtissin hatte ihr aus allerlei Läppchen schwarzen Wollenstoffs und weißer Leinwand bereitwillig Hahns und Kappen für die hölzernen Döcklein zurechtgeschneidert. Als aber die ältern Damen des hohen Klosters ob dieser von weltlicher Eitelkeit abgewandten Gesinnung des Kindes große Freude an den Tag gelegt und der Mutter zu der künftigen jungen Laienschwester gratuliere hatten, da hatte die Domina mit Ent¬ schiedenheit geäußert, Regina passe ganz und gar nicht für den geistlichen Beruf und werde als ein echtes Weltkind nie daran denken, den Schleier zu nehmen. Und darin hatte die Domina Recht behalten — zu ihrer eignen Freude und Genugtuung. Schon seit etlichen Jahren hatte sie mit liebevoll beobachtenden Auge bei dem zur Jungfrau erblühenden Kinde nach den kleinen aber untrüglichen Anzeichen ausgeschaut, die über kurz oder lang dartun mußten, daß ihr Schützling gesonnen sei, sich noch enger an die Welt zu ketten, aber bis dahin war kein solches An¬ zeichen zu entdecken gewesen. Heute jedoch glaubte die Matrone auf der rechten Spur zu sein. Von dem Salmen ist ein gut Teil übrig geblieben, sagte die Äbtissin, während sie so gleichgiltig wie möglich auf die Gasse hinabschaute, schade, daß wirs nicht denen in der Burg senden können. Würden uns gewißlich Dank wissen. Das Mädchen sah erstaunt zu der Äbtissin empor. Wird wohl nun bald an die sechs Wochen sein, daß sie eingeschlossen sind, fuhr diese fort, und wer weiß, ob sie sich zuvor mit Speise versehen hatten. Sechs Wochen und vier Tage Werdens heut, berichtete Regina, der plötzlich die Tränen in die Augen traten. Sechs Wochen und vier Tage? Das weißt du ja recht genau. Hast wohl ein herzliches Mitleid mit ihnen? fragte die Domina teilnehmend. Das Mädchen preßte beide Hände vor das Antlitz und schluchzte zum Erbarmen. Die schlimmen Stadtknechte lassen nichts hinein, sagte sie, in der Samstagnacht haben sie erst wieder drei Hämmel weggefangen. Und so werden die armen Menschen Hungers sterben müssen. Sind gewißlich böse Gesellen, die Kurfürstlichen, und verstockte Sünder, denn sonst würden Gott und die lieben Heiligen Wohl ein Wunder tun. Hat nicht einst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/672>, abgerufen am 24.07.2024.