Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Elisabeth Barrett-Browning dem Frauenantlitz häufig eine Maske aufgedrückt, die männliches Vorurteil Unsre Dichterin ist in einer großen Entwicklungsperiode Italiens aus Besteht echter Patriotismus etwa darin, daß wir unsre eigne Nation in jeder Solche utopische politische Träume sind dazu angetan, sogar mäßig Grenzboten II 1S06 34
Elisabeth Barrett-Browning dem Frauenantlitz häufig eine Maske aufgedrückt, die männliches Vorurteil Unsre Dichterin ist in einer großen Entwicklungsperiode Italiens aus Besteht echter Patriotismus etwa darin, daß wir unsre eigne Nation in jeder Solche utopische politische Träume sind dazu angetan, sogar mäßig Grenzboten II 1S06 34
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0665" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299706"/> <fw type="header" place="top"> Elisabeth Barrett-Browning</fw><lb/> <p xml:id="ID_2877" prev="#ID_2876"> dem Frauenantlitz häufig eine Maske aufgedrückt, die männliches Vorurteil<lb/> geschaffen hat!</p><lb/> <p xml:id="ID_2878"> Unsre Dichterin ist in einer großen Entwicklungsperiode Italiens aus<lb/> dem Leben geschieden (1861). Diese Zeit war für sie lehrreich, schlug doch<lb/> Herz schon in zartem Kindesalter für alle um ihre Freiheit kämpfenden<lb/> Völker. Schon die kaum Elfjährige hat „Marathon" in Versen gefeiert.<lb/> Diese warme Teilnahme an fremden Völkergeschicken schärfte vor allem ihren<lb/> Blick für das Wesen des wahrhaft edeln Patriotismus. Die Vaterlandsliebe<lb/> dient ihrer Ansicht nach zu häufig als Deckmantel der Selbstsucht und Eng¬<lb/> herzigkeit. Denkwürdig bleibt die Vorrede zu den Folius dskors 0on^s88, in<lb/> der die hochsinnige Frau prophetisch auf politische Greuel der Gegenwart zu<lb/> deuten scheint.</p><lb/> <p xml:id="ID_2879"> Besteht echter Patriotismus etwa darin, daß wir unsre eigne Nation in jeder<lb/> Lage herausstreichen, so wäre ja der Patriot nichts andres als ein Höfling?<lb/> Und das bin ich doch wahrlich nicht, wenn ich auch Napoleon den Dritten in<lb/> Italien besungen habe. Es ist an der Zeit, die Bedeutung, den Sinn gewisser<lb/> Bezeichnungen einzuschränken oder die Bedeutung gewisser Dinge weiter zu fassen.<lb/> Das Vaterlandsgefühl hat an richtiger Stelle seine volle Berechtigung, und der<lb/> Instinkt der Selbsterhaltung wurzelt im Menschen, sich gleichwohl zu cmfopferungs-<lb/> freudiger Tugend weiterentwickelnd. Aber alle Tugend ist nur Mittel zum Zweck<lb/> und muß Nutzen schaffen; und wenn wir ihr Wachstum und Streben nach Aus¬<lb/> dehnung hemmen, degradieren wir sie zur Fäulnis, die die edelsten Organismen<lb/> zerstört. Es ist gewiß eine hohe politische Tugend, sich nicht in die Angelegen¬<lb/> heiten von Nachbarstaaten einzumengen, aber damit ist doch nicht gesagt, daß wir<lb/> gleichgiltig vorübergehn sollen, wenn der Nachbar in die Hände von Dieben fällt —<lb/> sonst trägt ja das Pharisäertum den Sieg über das Christentum davon. Freiheit<lb/> bedeutet ebensogut eine Tugend wie ein Privileg, aber Freiheit auf dem Meere<lb/> ist nicht gleichbedeutend mit Piratentum, und Freiheit auf dem Festlande nicht mit<lb/> Straßenräuberei; Freiheit im Senate bedeutet nicht das Hinausstoßen eines wider¬<lb/> sprechenden Mitgliedes, Freiheit der Presse nicht Freiheit zu verleumden und zu<lb/> lügen I Wenn folglich der Patriotismus eine Tugend ist. so kann dieselbe nicht rück¬<lb/> sichtslose Hingebung an die Interessen unsers Landes bedeuten, denn das wäre<lb/> ja bloß eine andre Form der Hingebung an rein persönliche Interessen, Familien¬<lb/> interessen, Lokalströmungen, die alle auf einen engen Kreis beschränkt gemein und<lb/> unmoralisch sind. Wir nennen einen Menschen beschränkt, dessen Blick nicht über<lb/> das irdische Dasein hinausreicht, was ist auch das für ein Mensch, dessen Blick<lb/> nicht über seine eigne politische Grenze oder See hinausreicht? — Ich gestehe,<lb/> daß ich von dem Tage träume, an dem ein englischer Staatsmann erstehn wird,<lb/> dessen Herz zu groß ist, um bloß England zu umfassen, ein Mann, der den Mut<lb/> haben wird, seinen Landsleuten, die ihm eine bestimmte Politik in Vorschlag<lb/> bringen, ins Gesicht zu sagen: Das ist gut für euern Handel, nötig für euer<lb/> Ansehen als Weltmacht, aber dem Volke in unsrer nächsten Nachbarschaft oder<lb/> jenem Volke weiter draußen wird auf diese Weise Schaden erwachsen; dem Wohle<lb/> der Menschheit wird diese Maßregel nichts nützen, deshalb fort damit! Das ist<lb/> nichts für euch und mich! Wenn ein englischer Minister so zu sprechen wagen<lb/> und das britische Publikum ihm Beifall zollen wird, dann erst kann unsre Nation<lb/> glorreich dastehn. und ihr Lob wird erschallen, nicht drinnen im eignen Lande,<lb/> sondern in der Außenwelt — wie alles Lob, das wirklich Wert hat — um der<lb/> Völkerbündnisse willen, die es gefördert, von den Völkerschaften, die es gerettet hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_2880" next="#ID_2881"> Solche utopische politische Träume sind dazu angetan, sogar mäßig<lb/> weltkluge Spötter zum Lachen zu reizen. Die Weltordnung kann nicht auf</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1S06 34</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0665]
Elisabeth Barrett-Browning
dem Frauenantlitz häufig eine Maske aufgedrückt, die männliches Vorurteil
geschaffen hat!
Unsre Dichterin ist in einer großen Entwicklungsperiode Italiens aus
dem Leben geschieden (1861). Diese Zeit war für sie lehrreich, schlug doch
Herz schon in zartem Kindesalter für alle um ihre Freiheit kämpfenden
Völker. Schon die kaum Elfjährige hat „Marathon" in Versen gefeiert.
Diese warme Teilnahme an fremden Völkergeschicken schärfte vor allem ihren
Blick für das Wesen des wahrhaft edeln Patriotismus. Die Vaterlandsliebe
dient ihrer Ansicht nach zu häufig als Deckmantel der Selbstsucht und Eng¬
herzigkeit. Denkwürdig bleibt die Vorrede zu den Folius dskors 0on^s88, in
der die hochsinnige Frau prophetisch auf politische Greuel der Gegenwart zu
deuten scheint.
Besteht echter Patriotismus etwa darin, daß wir unsre eigne Nation in jeder
Lage herausstreichen, so wäre ja der Patriot nichts andres als ein Höfling?
Und das bin ich doch wahrlich nicht, wenn ich auch Napoleon den Dritten in
Italien besungen habe. Es ist an der Zeit, die Bedeutung, den Sinn gewisser
Bezeichnungen einzuschränken oder die Bedeutung gewisser Dinge weiter zu fassen.
Das Vaterlandsgefühl hat an richtiger Stelle seine volle Berechtigung, und der
Instinkt der Selbsterhaltung wurzelt im Menschen, sich gleichwohl zu cmfopferungs-
freudiger Tugend weiterentwickelnd. Aber alle Tugend ist nur Mittel zum Zweck
und muß Nutzen schaffen; und wenn wir ihr Wachstum und Streben nach Aus¬
dehnung hemmen, degradieren wir sie zur Fäulnis, die die edelsten Organismen
zerstört. Es ist gewiß eine hohe politische Tugend, sich nicht in die Angelegen¬
heiten von Nachbarstaaten einzumengen, aber damit ist doch nicht gesagt, daß wir
gleichgiltig vorübergehn sollen, wenn der Nachbar in die Hände von Dieben fällt —
sonst trägt ja das Pharisäertum den Sieg über das Christentum davon. Freiheit
bedeutet ebensogut eine Tugend wie ein Privileg, aber Freiheit auf dem Meere
ist nicht gleichbedeutend mit Piratentum, und Freiheit auf dem Festlande nicht mit
Straßenräuberei; Freiheit im Senate bedeutet nicht das Hinausstoßen eines wider¬
sprechenden Mitgliedes, Freiheit der Presse nicht Freiheit zu verleumden und zu
lügen I Wenn folglich der Patriotismus eine Tugend ist. so kann dieselbe nicht rück¬
sichtslose Hingebung an die Interessen unsers Landes bedeuten, denn das wäre
ja bloß eine andre Form der Hingebung an rein persönliche Interessen, Familien¬
interessen, Lokalströmungen, die alle auf einen engen Kreis beschränkt gemein und
unmoralisch sind. Wir nennen einen Menschen beschränkt, dessen Blick nicht über
das irdische Dasein hinausreicht, was ist auch das für ein Mensch, dessen Blick
nicht über seine eigne politische Grenze oder See hinausreicht? — Ich gestehe,
daß ich von dem Tage träume, an dem ein englischer Staatsmann erstehn wird,
dessen Herz zu groß ist, um bloß England zu umfassen, ein Mann, der den Mut
haben wird, seinen Landsleuten, die ihm eine bestimmte Politik in Vorschlag
bringen, ins Gesicht zu sagen: Das ist gut für euern Handel, nötig für euer
Ansehen als Weltmacht, aber dem Volke in unsrer nächsten Nachbarschaft oder
jenem Volke weiter draußen wird auf diese Weise Schaden erwachsen; dem Wohle
der Menschheit wird diese Maßregel nichts nützen, deshalb fort damit! Das ist
nichts für euch und mich! Wenn ein englischer Minister so zu sprechen wagen
und das britische Publikum ihm Beifall zollen wird, dann erst kann unsre Nation
glorreich dastehn. und ihr Lob wird erschallen, nicht drinnen im eignen Lande,
sondern in der Außenwelt — wie alles Lob, das wirklich Wert hat — um der
Völkerbündnisse willen, die es gefördert, von den Völkerschaften, die es gerettet hat.
Solche utopische politische Träume sind dazu angetan, sogar mäßig
weltkluge Spötter zum Lachen zu reizen. Die Weltordnung kann nicht auf
Grenzboten II 1S06 34
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