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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Genealogisches

und Renan seien bis zur Frivolität oberflächlich. Man müsse sich bescheiden
und sich dem Bekenntnis "eines großen Heroenhistorikers" anschließen: "An
dieser Stelle muß ein Mann gestanden haben, der eine Macht war; wie der
Mann aussah, und wie die Macht sich gerade in ihm aufspeicherte, das wissen
wir nicht, aber wir sehen die Wirkungen, und die Wirkungen festzustellen, das
muß uns genug sein."

Viel Geistreiches, dem wir bald zustimmen können, bald widersprechen
müssen, vernehmen wir über Griechenland und Rom, über deutsches Kaisertum,
Dorf- und Stadtleben, romanische Kunst und Renaissance und über das
Maschinenzeitalter. Was Pastor über die heutigen Aussichten der Deutschen
und zum Preise Wilhelms des Zweiten sagt, wird jeden Patrioten mit der
reinsten Freude erfüllen, nur muß man, um diese Freude zu genießen, den natur¬
wissenschaftlichen Standpunkt des Verfassers vergessen, vergessen, daß dieses
herrliche deutsche Volk doch auch nur eines der Werkzeuge ist, mit denen "der
Stern" sein Oberflächenbild geradlinig gestaltet.




Genealogisches

WM
HMuf welchem wissenschaftlichen Gebiete gibt es für die Forschung
eine Grenze? Die ehedem für undurchdringlich gehaltnen Scheide¬
wände, durch die und über die hinaus der menschliche Geist, das
niemals gesättigte Dürsten nach neuen Quellen des Wissens, am
Ende des Suchens angelangt zu sein schien, sind in der letzten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Höhen und in Tiefen gedrungen, die
vielfach bis dahin in ein mystisches und unerforschbares Nebelmeer getaucht zu
sein schienen. Der menschliche Geist hat sich in seinem rastlosen Streben so
viele Wege aufgedeckt, daß für die Wissenschaft, besonders auf dem Gebiete der
Physik und der Chemie und in ihren der Praxis dienenden Verwendungen,
grundsätzlich nichts mehr für unerreichbar gehalten wird.

Hierzu steht in einem gewissen Gegensatz die genealogische Forschung.
Während sie früher, bis in das neunzehnte Jahrhundert hinauf, kühn und ver¬
wegen in ihren phantasievollen Aufstellungen und Behauptungen in nebelgraue
Fernen zurückging, denen sie mit vieler gespreizter Grandezza die scheinbar
ehrwürdige Toga tiefer Gelehrsamkeit umwarf und mit dem schillernden Schmuck
bombastischer, gehaltloser Redensarten ausstaffierte, hat sie in den letzten Jahr¬
zehnten die Grenzen ihres Forschungsgebiets wesentlich verengt. Sie hat den
Horizont der Ursprungszeiten, in denen sie mehr kühn und gravitätisch als
festen, gediegnen Schrittes umherstolzierte, stark eingezogen. Doch man darf
deshalb keineswegs gering von der Genealogie denken; denn die Genealogie ist
jedenfalls eine der ältesten Wissenschaften, ja höchst wahrscheinlich die älteste.
Mit Recht sagt Gatterer, der 1761 bis 1762 sein "Handbuch der Genealogie


Genealogisches

und Renan seien bis zur Frivolität oberflächlich. Man müsse sich bescheiden
und sich dem Bekenntnis „eines großen Heroenhistorikers" anschließen: „An
dieser Stelle muß ein Mann gestanden haben, der eine Macht war; wie der
Mann aussah, und wie die Macht sich gerade in ihm aufspeicherte, das wissen
wir nicht, aber wir sehen die Wirkungen, und die Wirkungen festzustellen, das
muß uns genug sein."

Viel Geistreiches, dem wir bald zustimmen können, bald widersprechen
müssen, vernehmen wir über Griechenland und Rom, über deutsches Kaisertum,
Dorf- und Stadtleben, romanische Kunst und Renaissance und über das
Maschinenzeitalter. Was Pastor über die heutigen Aussichten der Deutschen
und zum Preise Wilhelms des Zweiten sagt, wird jeden Patrioten mit der
reinsten Freude erfüllen, nur muß man, um diese Freude zu genießen, den natur¬
wissenschaftlichen Standpunkt des Verfassers vergessen, vergessen, daß dieses
herrliche deutsche Volk doch auch nur eines der Werkzeuge ist, mit denen „der
Stern" sein Oberflächenbild geradlinig gestaltet.




Genealogisches

WM
HMuf welchem wissenschaftlichen Gebiete gibt es für die Forschung
eine Grenze? Die ehedem für undurchdringlich gehaltnen Scheide¬
wände, durch die und über die hinaus der menschliche Geist, das
niemals gesättigte Dürsten nach neuen Quellen des Wissens, am
Ende des Suchens angelangt zu sein schien, sind in der letzten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Höhen und in Tiefen gedrungen, die
vielfach bis dahin in ein mystisches und unerforschbares Nebelmeer getaucht zu
sein schienen. Der menschliche Geist hat sich in seinem rastlosen Streben so
viele Wege aufgedeckt, daß für die Wissenschaft, besonders auf dem Gebiete der
Physik und der Chemie und in ihren der Praxis dienenden Verwendungen,
grundsätzlich nichts mehr für unerreichbar gehalten wird.

Hierzu steht in einem gewissen Gegensatz die genealogische Forschung.
Während sie früher, bis in das neunzehnte Jahrhundert hinauf, kühn und ver¬
wegen in ihren phantasievollen Aufstellungen und Behauptungen in nebelgraue
Fernen zurückging, denen sie mit vieler gespreizter Grandezza die scheinbar
ehrwürdige Toga tiefer Gelehrsamkeit umwarf und mit dem schillernden Schmuck
bombastischer, gehaltloser Redensarten ausstaffierte, hat sie in den letzten Jahr¬
zehnten die Grenzen ihres Forschungsgebiets wesentlich verengt. Sie hat den
Horizont der Ursprungszeiten, in denen sie mehr kühn und gravitätisch als
festen, gediegnen Schrittes umherstolzierte, stark eingezogen. Doch man darf
deshalb keineswegs gering von der Genealogie denken; denn die Genealogie ist
jedenfalls eine der ältesten Wissenschaften, ja höchst wahrscheinlich die älteste.
Mit Recht sagt Gatterer, der 1761 bis 1762 sein „Handbuch der Genealogie


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[0651] Genealogisches und Renan seien bis zur Frivolität oberflächlich. Man müsse sich bescheiden und sich dem Bekenntnis „eines großen Heroenhistorikers" anschließen: „An dieser Stelle muß ein Mann gestanden haben, der eine Macht war; wie der Mann aussah, und wie die Macht sich gerade in ihm aufspeicherte, das wissen wir nicht, aber wir sehen die Wirkungen, und die Wirkungen festzustellen, das muß uns genug sein." Viel Geistreiches, dem wir bald zustimmen können, bald widersprechen müssen, vernehmen wir über Griechenland und Rom, über deutsches Kaisertum, Dorf- und Stadtleben, romanische Kunst und Renaissance und über das Maschinenzeitalter. Was Pastor über die heutigen Aussichten der Deutschen und zum Preise Wilhelms des Zweiten sagt, wird jeden Patrioten mit der reinsten Freude erfüllen, nur muß man, um diese Freude zu genießen, den natur¬ wissenschaftlichen Standpunkt des Verfassers vergessen, vergessen, daß dieses herrliche deutsche Volk doch auch nur eines der Werkzeuge ist, mit denen „der Stern" sein Oberflächenbild geradlinig gestaltet. Genealogisches WM HMuf welchem wissenschaftlichen Gebiete gibt es für die Forschung eine Grenze? Die ehedem für undurchdringlich gehaltnen Scheide¬ wände, durch die und über die hinaus der menschliche Geist, das niemals gesättigte Dürsten nach neuen Quellen des Wissens, am Ende des Suchens angelangt zu sein schien, sind in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Höhen und in Tiefen gedrungen, die vielfach bis dahin in ein mystisches und unerforschbares Nebelmeer getaucht zu sein schienen. Der menschliche Geist hat sich in seinem rastlosen Streben so viele Wege aufgedeckt, daß für die Wissenschaft, besonders auf dem Gebiete der Physik und der Chemie und in ihren der Praxis dienenden Verwendungen, grundsätzlich nichts mehr für unerreichbar gehalten wird. Hierzu steht in einem gewissen Gegensatz die genealogische Forschung. Während sie früher, bis in das neunzehnte Jahrhundert hinauf, kühn und ver¬ wegen in ihren phantasievollen Aufstellungen und Behauptungen in nebelgraue Fernen zurückging, denen sie mit vieler gespreizter Grandezza die scheinbar ehrwürdige Toga tiefer Gelehrsamkeit umwarf und mit dem schillernden Schmuck bombastischer, gehaltloser Redensarten ausstaffierte, hat sie in den letzten Jahr¬ zehnten die Grenzen ihres Forschungsgebiets wesentlich verengt. Sie hat den Horizont der Ursprungszeiten, in denen sie mehr kühn und gravitätisch als festen, gediegnen Schrittes umherstolzierte, stark eingezogen. Doch man darf deshalb keineswegs gering von der Genealogie denken; denn die Genealogie ist jedenfalls eine der ältesten Wissenschaften, ja höchst wahrscheinlich die älteste. Mit Recht sagt Gatterer, der 1761 bis 1762 sein „Handbuch der Genealogie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/651>, abgerufen am 27.12.2024.