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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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en Lmidslcuten gebührt der Vortritt; darum mußte der unten
genannte Engländers wiederholt zurückgeschoben werden, und da
wir beschlossen, Pastor mit ihm zu verkoppeln, so hat auch der
ein reichliches Jährchen warten müssen. Sie orientieren beide sehr
gut über den gegenwärtigen Stand ihrer Wissenschaft, und zwar
über zwei Richtungen dieser Wissenschaft: Pastor vertritt die phantasievolle
Konstruktion, Jones die solide Forschung. Trotz der heutigen Schnelllebigkeit darf
man hoffentlich das, was sie bieten, noch dem gegenwärtigen Stande zurechnen;
wäre es doch schlimm bestellt um die Ergebnisse der Wissenschaft, wenn sie nicht
einmal drei Jahre lang Geltung beanspruchen könnten.

Pastors Buch, nur 283 Seiten, ist das an Umfang kleinere, umspannt
aber einen bei weitem größern Zeitraum als das andre, mit Index 543 Seiten
starke: vom Nebelstadium der Erde bis auf Kaiser Wilhelm den Zweiten. Es
lst ein kühner und geistreicher Versuch, die ganze Menschheitsgeschichte von einem
einzigen Gesichtspunkt aus streng naturwissenschaftlich zu konstruieren. Man
darf das Bild dieser Geschichte, das er entrollt, erhaben nennen, aber vom
Erhabnen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, und hier war nicht einmal ein
Schritt zu tun, denn der streng naturwissenschaftlichen Auffassung der Mensch¬
heitsgeschichte ist das Lächerliche immanent. Der Verfasser geht von dem Anblick
aus, den die Erdoberfläche dem Luftschiffer darbietet. Wald, Wiese und Wasser
erscheinen als ein Netzwerk von "grotesken, unruhigen Linien, als tausend Ver¬
ästelungen einer launischen Filigrankunst". Einen ganz andern Stil zeigt das
Gewebe, das der Mensch darüber spannt. "Kein willkürliches Hin und Her
mehr, kein Spielen mit der Form: die gerade Linie, Bewußtsein und Klarheit
herrscht überall." Geradlinig sind die neuen Straßen der Großstädte, sind die
Eisenbahnen, die Tunnel, die Kanüle. Darin ist nun aber nicht etwa die Be¬
herrschung der Natur durch den Menschengeist zu erkennen, sondern umgekehrt
ist der Menschengeist oder vielmehr, um im naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch
M bleiben, das Menschenhirn nur Organ für den Naturwillen, für den Willen
der Erde, unsers Sterns, der durch dieses Werkzeug seine Oberfläche um--
gestaltet. "Und das Ende? Ein Stern, marsähnlich umgewandelt, in dem
nichts, nichts mehr an die alte Welt erinnert, an den Filigranstil des silbernen



*) Willy Pastor: Die Erde in der Zeit des Menschen. Versuch einer natur¬
wissenschaftlichen Kulturgeschichte. Jena und Leipzig, Eugen Diederichs, 1904. -- LKs og,um
°k Lnropsav (Zivilisation do 0. IlartvsU .Ions", Ksotor ot NntLslÄ, Lurrs?. IxiuÄon,
TsZ-in ?aut, D'-znoli, ama O, IM,, 1903.


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en Lmidslcuten gebührt der Vortritt; darum mußte der unten
genannte Engländers wiederholt zurückgeschoben werden, und da
wir beschlossen, Pastor mit ihm zu verkoppeln, so hat auch der
ein reichliches Jährchen warten müssen. Sie orientieren beide sehr
gut über den gegenwärtigen Stand ihrer Wissenschaft, und zwar
über zwei Richtungen dieser Wissenschaft: Pastor vertritt die phantasievolle
Konstruktion, Jones die solide Forschung. Trotz der heutigen Schnelllebigkeit darf
man hoffentlich das, was sie bieten, noch dem gegenwärtigen Stande zurechnen;
wäre es doch schlimm bestellt um die Ergebnisse der Wissenschaft, wenn sie nicht
einmal drei Jahre lang Geltung beanspruchen könnten.

Pastors Buch, nur 283 Seiten, ist das an Umfang kleinere, umspannt
aber einen bei weitem größern Zeitraum als das andre, mit Index 543 Seiten
starke: vom Nebelstadium der Erde bis auf Kaiser Wilhelm den Zweiten. Es
lst ein kühner und geistreicher Versuch, die ganze Menschheitsgeschichte von einem
einzigen Gesichtspunkt aus streng naturwissenschaftlich zu konstruieren. Man
darf das Bild dieser Geschichte, das er entrollt, erhaben nennen, aber vom
Erhabnen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, und hier war nicht einmal ein
Schritt zu tun, denn der streng naturwissenschaftlichen Auffassung der Mensch¬
heitsgeschichte ist das Lächerliche immanent. Der Verfasser geht von dem Anblick
aus, den die Erdoberfläche dem Luftschiffer darbietet. Wald, Wiese und Wasser
erscheinen als ein Netzwerk von „grotesken, unruhigen Linien, als tausend Ver¬
ästelungen einer launischen Filigrankunst". Einen ganz andern Stil zeigt das
Gewebe, das der Mensch darüber spannt. „Kein willkürliches Hin und Her
mehr, kein Spielen mit der Form: die gerade Linie, Bewußtsein und Klarheit
herrscht überall." Geradlinig sind die neuen Straßen der Großstädte, sind die
Eisenbahnen, die Tunnel, die Kanüle. Darin ist nun aber nicht etwa die Be¬
herrschung der Natur durch den Menschengeist zu erkennen, sondern umgekehrt
ist der Menschengeist oder vielmehr, um im naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch
M bleiben, das Menschenhirn nur Organ für den Naturwillen, für den Willen
der Erde, unsers Sterns, der durch dieses Werkzeug seine Oberfläche um--
gestaltet. „Und das Ende? Ein Stern, marsähnlich umgewandelt, in dem
nichts, nichts mehr an die alte Welt erinnert, an den Filigranstil des silbernen



*) Willy Pastor: Die Erde in der Zeit des Menschen. Versuch einer natur¬
wissenschaftlichen Kulturgeschichte. Jena und Leipzig, Eugen Diederichs, 1904. — LKs og,um
°k Lnropsav (Zivilisation do 0. IlartvsU .Ions», Ksotor ot NntLslÄ, Lurrs?. IxiuÄon,
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[0643] [Abbildung] rvei kulturgeschichtliche Werke i en Lmidslcuten gebührt der Vortritt; darum mußte der unten genannte Engländers wiederholt zurückgeschoben werden, und da wir beschlossen, Pastor mit ihm zu verkoppeln, so hat auch der ein reichliches Jährchen warten müssen. Sie orientieren beide sehr gut über den gegenwärtigen Stand ihrer Wissenschaft, und zwar über zwei Richtungen dieser Wissenschaft: Pastor vertritt die phantasievolle Konstruktion, Jones die solide Forschung. Trotz der heutigen Schnelllebigkeit darf man hoffentlich das, was sie bieten, noch dem gegenwärtigen Stande zurechnen; wäre es doch schlimm bestellt um die Ergebnisse der Wissenschaft, wenn sie nicht einmal drei Jahre lang Geltung beanspruchen könnten. Pastors Buch, nur 283 Seiten, ist das an Umfang kleinere, umspannt aber einen bei weitem größern Zeitraum als das andre, mit Index 543 Seiten starke: vom Nebelstadium der Erde bis auf Kaiser Wilhelm den Zweiten. Es lst ein kühner und geistreicher Versuch, die ganze Menschheitsgeschichte von einem einzigen Gesichtspunkt aus streng naturwissenschaftlich zu konstruieren. Man darf das Bild dieser Geschichte, das er entrollt, erhaben nennen, aber vom Erhabnen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, und hier war nicht einmal ein Schritt zu tun, denn der streng naturwissenschaftlichen Auffassung der Mensch¬ heitsgeschichte ist das Lächerliche immanent. Der Verfasser geht von dem Anblick aus, den die Erdoberfläche dem Luftschiffer darbietet. Wald, Wiese und Wasser erscheinen als ein Netzwerk von „grotesken, unruhigen Linien, als tausend Ver¬ ästelungen einer launischen Filigrankunst". Einen ganz andern Stil zeigt das Gewebe, das der Mensch darüber spannt. „Kein willkürliches Hin und Her mehr, kein Spielen mit der Form: die gerade Linie, Bewußtsein und Klarheit herrscht überall." Geradlinig sind die neuen Straßen der Großstädte, sind die Eisenbahnen, die Tunnel, die Kanüle. Darin ist nun aber nicht etwa die Be¬ herrschung der Natur durch den Menschengeist zu erkennen, sondern umgekehrt ist der Menschengeist oder vielmehr, um im naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch M bleiben, das Menschenhirn nur Organ für den Naturwillen, für den Willen der Erde, unsers Sterns, der durch dieses Werkzeug seine Oberfläche um-- gestaltet. „Und das Ende? Ein Stern, marsähnlich umgewandelt, in dem nichts, nichts mehr an die alte Welt erinnert, an den Filigranstil des silbernen *) Willy Pastor: Die Erde in der Zeit des Menschen. Versuch einer natur¬ wissenschaftlichen Kulturgeschichte. Jena und Leipzig, Eugen Diederichs, 1904. — LKs og,um °k Lnropsav (Zivilisation do 0. IlartvsU .Ions», Ksotor ot NntLslÄ, Lurrs?. IxiuÄon, TsZ-in ?aut, D'-znoli, ama O, IM,, 1903.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/643>, abgerufen am 27.12.2024.