Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts Mit unbestrittener und unbestreitbarer Loyalität hat es sich dieser Auf¬ Also in Rußland, in Ungarn, in Österreich zugleich! Wird das Rück¬ Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts Mit unbestrittener und unbestreitbarer Loyalität hat es sich dieser Auf¬ Also in Rußland, in Ungarn, in Österreich zugleich! Wird das Rück¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0631" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299672"/> <fw type="header" place="top"> Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts</fw><lb/> <p xml:id="ID_2791"> Mit unbestrittener und unbestreitbarer Loyalität hat es sich dieser Auf¬<lb/> gabe gewidmet und hat denn auch erreicht, daß die Wahlrechtsunruhen sofort<lb/> aufhörten. Die Deutschen befürchteten anfangs, daß sie durch die Änderung<lb/> eine starke Einbuße an Mandaten erleiden würden. Wenn sie auch überall<lb/> mit einem blauen Auge davon kommen würden, in Mähren würden sie fast<lb/> ausgemerzt werden, weil dort die deutsche Minderheit nicht geschlossen wohnt,<lb/> sondern über das ganze Land verteilt ist. Da erfand man ein System ge¬<lb/> schlossener nationaler Wahlkörper für Mähren, worauf die Deutschen ihre Zu¬<lb/> stimmung gaben. Auch die Tschechen taten es, wenn auch ebenfalls nicht ohne<lb/> Proteste. Da kam die Klippe, an der die ganze Sache scheitern sollte, in<lb/> Galizien zum Vorschein. Galizien ist nur zu 54«/^ vom Hundert polnisch, zu<lb/> 42^ vom Hundert ruthenisch. Die Nuthenen sind nicht nur sprachlich und<lb/> national, sondern auch kirchlich und sozial von den Polen geschieden. Sie<lb/> sind das unterworfne Volk. Die Herrschaft liegt gänzlich in den Händen des<lb/> katholischen polnischen Kleinadels. Er hat fast alle Mandate Galiziens. Das<lb/> konnte natürlich beim allgemeinen Stimmrecht nicht bleiben. Wenn nun auch<lb/> die Regierung Galizien den wohlverdienten Zuwachs an Mandaten im all¬<lb/> gemeinen gewähren wollte, so konnte sie doch damit die Forderungen der Polen<lb/> nicht erfüllen. Diese lehnten die Wahlrechtsreform ab. Da sie an den Ultra¬<lb/> montanen und den Hochkonservativen in den Alpenländern so viel Beistand<lb/> hatten, daß die Reform keine Zweidrittelmehrheit finden konnte, zog der<lb/> Ministerpräsident den unausbleiblichen Schluß daraus, seinen Abschied zu<lb/> nehmen. Man sagt, daß die Polen gute Fühlung mit dem Hofe gehabt hätten,<lb/> dem im Grunde die Ablehnung gar nicht unlieb sein könne. Goluchowski,<lb/> ihr Landsmann und Gesinnungsgenosse, ist notorisch der ausgemachteste Ver¬<lb/> trauensmann des Kaisers. Daran hat sich eine ganze Reihe aufregender<lb/> Ereignisse geknüpft. Der Kaiser nahm den Rücktritt des Freiherrn von Ganthas<lb/> an und ernannte den Prinzen Hohenlohe, den Statthalter von Trieft, zum<lb/> Ministerpräsidenten. Der neue Mann kam mit den Polen zur Verständigung,<lb/> Nun aber bäumten sich wieder die Tschechen auf. Ehe dies zum Austrag<lb/> gebracht werden konnte, entstand ein heftiger Konflikt zwischen den beiden<lb/> Neichshälften. Ungarn verlangte plötzlich, daß der neue Zolltarif, den es<lb/> sachlich annehmen wollte, seinem Reichstag nicht als zu genehmigende Verein¬<lb/> barung mit Österreich, sondern als eignes ungarisches Gesetz eingebracht werde.<lb/> Das war die handgreiflichste Vorbereitung des selbständigen ungarischen Zoll¬<lb/> gebiets und Zolltarifs. Der Kaiser willigte ein und erzeugte damit die größte<lb/> Erbitterung in Österreich. Das kaum gebildete Ministerium Hohenlohe nahm<lb/> seinen Abschied. Einmütig steht der österreichische Reichsrat hinter ihm — gewiß<lb/> ein seltner Fall. Damit ist in Zisleithanien das allgemeine Stimmrecht ebenso<lb/> ins Stocken gekommen wie in Ungarn.</p><lb/> <p xml:id="ID_2792" next="#ID_2793"> Also in Rußland, in Ungarn, in Österreich zugleich! Wird das Rück¬<lb/> wirkungen auf Deutschland haben? Die Reform des preußischen Landtagswahl¬<lb/> rechts, wie sie in diesem Winter angeboten worden ist, ist so knapp bemessen<lb/> worden, daß schwerlich anzunehmen ist, die Regierung und die sie unter¬<lb/> stützenden konservativen Parteien lassen sich wesentlich weiter treiben. Ob es</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0631]
Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts
Mit unbestrittener und unbestreitbarer Loyalität hat es sich dieser Auf¬
gabe gewidmet und hat denn auch erreicht, daß die Wahlrechtsunruhen sofort
aufhörten. Die Deutschen befürchteten anfangs, daß sie durch die Änderung
eine starke Einbuße an Mandaten erleiden würden. Wenn sie auch überall
mit einem blauen Auge davon kommen würden, in Mähren würden sie fast
ausgemerzt werden, weil dort die deutsche Minderheit nicht geschlossen wohnt,
sondern über das ganze Land verteilt ist. Da erfand man ein System ge¬
schlossener nationaler Wahlkörper für Mähren, worauf die Deutschen ihre Zu¬
stimmung gaben. Auch die Tschechen taten es, wenn auch ebenfalls nicht ohne
Proteste. Da kam die Klippe, an der die ganze Sache scheitern sollte, in
Galizien zum Vorschein. Galizien ist nur zu 54«/^ vom Hundert polnisch, zu
42^ vom Hundert ruthenisch. Die Nuthenen sind nicht nur sprachlich und
national, sondern auch kirchlich und sozial von den Polen geschieden. Sie
sind das unterworfne Volk. Die Herrschaft liegt gänzlich in den Händen des
katholischen polnischen Kleinadels. Er hat fast alle Mandate Galiziens. Das
konnte natürlich beim allgemeinen Stimmrecht nicht bleiben. Wenn nun auch
die Regierung Galizien den wohlverdienten Zuwachs an Mandaten im all¬
gemeinen gewähren wollte, so konnte sie doch damit die Forderungen der Polen
nicht erfüllen. Diese lehnten die Wahlrechtsreform ab. Da sie an den Ultra¬
montanen und den Hochkonservativen in den Alpenländern so viel Beistand
hatten, daß die Reform keine Zweidrittelmehrheit finden konnte, zog der
Ministerpräsident den unausbleiblichen Schluß daraus, seinen Abschied zu
nehmen. Man sagt, daß die Polen gute Fühlung mit dem Hofe gehabt hätten,
dem im Grunde die Ablehnung gar nicht unlieb sein könne. Goluchowski,
ihr Landsmann und Gesinnungsgenosse, ist notorisch der ausgemachteste Ver¬
trauensmann des Kaisers. Daran hat sich eine ganze Reihe aufregender
Ereignisse geknüpft. Der Kaiser nahm den Rücktritt des Freiherrn von Ganthas
an und ernannte den Prinzen Hohenlohe, den Statthalter von Trieft, zum
Ministerpräsidenten. Der neue Mann kam mit den Polen zur Verständigung,
Nun aber bäumten sich wieder die Tschechen auf. Ehe dies zum Austrag
gebracht werden konnte, entstand ein heftiger Konflikt zwischen den beiden
Neichshälften. Ungarn verlangte plötzlich, daß der neue Zolltarif, den es
sachlich annehmen wollte, seinem Reichstag nicht als zu genehmigende Verein¬
barung mit Österreich, sondern als eignes ungarisches Gesetz eingebracht werde.
Das war die handgreiflichste Vorbereitung des selbständigen ungarischen Zoll¬
gebiets und Zolltarifs. Der Kaiser willigte ein und erzeugte damit die größte
Erbitterung in Österreich. Das kaum gebildete Ministerium Hohenlohe nahm
seinen Abschied. Einmütig steht der österreichische Reichsrat hinter ihm — gewiß
ein seltner Fall. Damit ist in Zisleithanien das allgemeine Stimmrecht ebenso
ins Stocken gekommen wie in Ungarn.
Also in Rußland, in Ungarn, in Österreich zugleich! Wird das Rück¬
wirkungen auf Deutschland haben? Die Reform des preußischen Landtagswahl¬
rechts, wie sie in diesem Winter angeboten worden ist, ist so knapp bemessen
worden, daß schwerlich anzunehmen ist, die Regierung und die sie unter¬
stützenden konservativen Parteien lassen sich wesentlich weiter treiben. Ob es
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