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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts

können. Ob Peter die Streichen hinrichten ließ, ob Katharina und ihre
Helfershelfer den unglücklichen Peter den Dritten zu Tode peitschen ließen,
ob Paul der Erste unter den Mordstreichen von Beamten und Offizieren sein
Leben aushauchte: das russische Volk hat sich jedesmal die ans Ruder ge¬
langende Regierung gefallen lassen. Katharina die Zweite bot gegen den
Betrüger Pugatscheff Truppen auf, dem Volke war das Auftreten dieses
Prätendenten gleichgiltig, wenn nicht sympathisch. Als der Dekabristenaufstand
ausbrach, blieb die Stadt Petersburg -- weiter reichten seine Flammen nicht --
unberührt. Der Kampf wurde ausgefochten zwischen den Regimentern, die
den Verschwornen folgten, und denen, die dem jungen Kaiser Nikolaus dem
Ersten treu blieben. Später fanden die Verschwörungen ihre Stätte nicht
mehr in der Armee, sondern in den Kreisen der armen "Intelligenz". Dabei
allein kam etwas echte Anhänglichkeit für den Zaren zum Vorschein, indem
die Handwerker und die Fabrikarbeiter meist gegen die Studenten Partei
nahmen. Längst ist das vorüber. Auch die Bauern haben sich nicht der
Reaktion zur Verfügung gestellt. Sie folgen denen, die ihnen mehr Land
und weniger Steuern versprechen. Kein Zar hat jemals sagen können, daß
er sein Haupt jedem Untertan in den Schoß legen könne. Alle haben sie
ihre Sicherheit nur in der Polizei, in wohlgefüllten Kasernen, in Kosaken¬
kompagnien sehen können.

Dieser Mangel an Beziehung zum eigentlichen Volke verführte sie, jede
konstitutionelle Einrichtung zu meiden- Keine Volksvertretung, keine freie
Presse, keine Redefreiheit gab die Möglichkeit, das Beamtentum zu kontrollieren.
Dadurch riß in den Reihen der hohen wie der niedern Bureaukratie eine
heillose Mißwirtschaft und Korruption ein. Über den verhängnisvollen Zu¬
sammenhang dieses Umstandes mit den Niederlagen des Heeres und der Flotte
braucht kein Wort verloren zu werden. Ebenso klar liegt es auf der Hand,
daß dieser arge Übelstand das zarische Regiment immer verhaßter gemacht hat.
Die Korruption ist die Ursache des Nihilismus gewesen, der so viele Opfer
gefordert hat. Und je mehr der Nihilismus, je mehr auch die nicht ver¬
brecherischen Formen des demokratischen Gedankens ins Volk drangen, desto
mehr fürchteten sich Zarismus und Beamtentum vor Volksvertretung, vor
Freiheit in Schrift und Rede.

Die revolutionäre Bewegung mußte deshalb mit innerer Notwendigkeit
zum Ausbruch kommen. Vom Oktober 1905 bis zum Januar 1906 nahm
sie höchst bedrohliche Formen an. Der allgemeine Aufstand schien zweimal
das alte Regime in seinen Grundfesten zu erschüttern. Aber eben das er¬
rettete es noch einmal vor seinen Feinden. Denn die sozialdemokratische
Partei, die auf den Kutschbock der Bewegung sprang, brachte das Gefährt
bald in ein solches Poltern über Stock und Stein, daß sich alle besonnenern
Elemente mit Abscheu abwandten. Die Regierung konnte wieder nach den
Zügeln greifen; sie brachte sie in ihre Hand, und damit war der Wendepunkt
gekommen.

Vorher hatte es mehr als einmal geschienen, als müsse Rußland unter
den anspornender Geißelhieben der Revolution den waghalsigen Kopfsprung


Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts

können. Ob Peter die Streichen hinrichten ließ, ob Katharina und ihre
Helfershelfer den unglücklichen Peter den Dritten zu Tode peitschen ließen,
ob Paul der Erste unter den Mordstreichen von Beamten und Offizieren sein
Leben aushauchte: das russische Volk hat sich jedesmal die ans Ruder ge¬
langende Regierung gefallen lassen. Katharina die Zweite bot gegen den
Betrüger Pugatscheff Truppen auf, dem Volke war das Auftreten dieses
Prätendenten gleichgiltig, wenn nicht sympathisch. Als der Dekabristenaufstand
ausbrach, blieb die Stadt Petersburg — weiter reichten seine Flammen nicht —
unberührt. Der Kampf wurde ausgefochten zwischen den Regimentern, die
den Verschwornen folgten, und denen, die dem jungen Kaiser Nikolaus dem
Ersten treu blieben. Später fanden die Verschwörungen ihre Stätte nicht
mehr in der Armee, sondern in den Kreisen der armen „Intelligenz". Dabei
allein kam etwas echte Anhänglichkeit für den Zaren zum Vorschein, indem
die Handwerker und die Fabrikarbeiter meist gegen die Studenten Partei
nahmen. Längst ist das vorüber. Auch die Bauern haben sich nicht der
Reaktion zur Verfügung gestellt. Sie folgen denen, die ihnen mehr Land
und weniger Steuern versprechen. Kein Zar hat jemals sagen können, daß
er sein Haupt jedem Untertan in den Schoß legen könne. Alle haben sie
ihre Sicherheit nur in der Polizei, in wohlgefüllten Kasernen, in Kosaken¬
kompagnien sehen können.

Dieser Mangel an Beziehung zum eigentlichen Volke verführte sie, jede
konstitutionelle Einrichtung zu meiden- Keine Volksvertretung, keine freie
Presse, keine Redefreiheit gab die Möglichkeit, das Beamtentum zu kontrollieren.
Dadurch riß in den Reihen der hohen wie der niedern Bureaukratie eine
heillose Mißwirtschaft und Korruption ein. Über den verhängnisvollen Zu¬
sammenhang dieses Umstandes mit den Niederlagen des Heeres und der Flotte
braucht kein Wort verloren zu werden. Ebenso klar liegt es auf der Hand,
daß dieser arge Übelstand das zarische Regiment immer verhaßter gemacht hat.
Die Korruption ist die Ursache des Nihilismus gewesen, der so viele Opfer
gefordert hat. Und je mehr der Nihilismus, je mehr auch die nicht ver¬
brecherischen Formen des demokratischen Gedankens ins Volk drangen, desto
mehr fürchteten sich Zarismus und Beamtentum vor Volksvertretung, vor
Freiheit in Schrift und Rede.

Die revolutionäre Bewegung mußte deshalb mit innerer Notwendigkeit
zum Ausbruch kommen. Vom Oktober 1905 bis zum Januar 1906 nahm
sie höchst bedrohliche Formen an. Der allgemeine Aufstand schien zweimal
das alte Regime in seinen Grundfesten zu erschüttern. Aber eben das er¬
rettete es noch einmal vor seinen Feinden. Denn die sozialdemokratische
Partei, die auf den Kutschbock der Bewegung sprang, brachte das Gefährt
bald in ein solches Poltern über Stock und Stein, daß sich alle besonnenern
Elemente mit Abscheu abwandten. Die Regierung konnte wieder nach den
Zügeln greifen; sie brachte sie in ihre Hand, und damit war der Wendepunkt
gekommen.

Vorher hatte es mehr als einmal geschienen, als müsse Rußland unter
den anspornender Geißelhieben der Revolution den waghalsigen Kopfsprung


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[0627] Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts können. Ob Peter die Streichen hinrichten ließ, ob Katharina und ihre Helfershelfer den unglücklichen Peter den Dritten zu Tode peitschen ließen, ob Paul der Erste unter den Mordstreichen von Beamten und Offizieren sein Leben aushauchte: das russische Volk hat sich jedesmal die ans Ruder ge¬ langende Regierung gefallen lassen. Katharina die Zweite bot gegen den Betrüger Pugatscheff Truppen auf, dem Volke war das Auftreten dieses Prätendenten gleichgiltig, wenn nicht sympathisch. Als der Dekabristenaufstand ausbrach, blieb die Stadt Petersburg — weiter reichten seine Flammen nicht — unberührt. Der Kampf wurde ausgefochten zwischen den Regimentern, die den Verschwornen folgten, und denen, die dem jungen Kaiser Nikolaus dem Ersten treu blieben. Später fanden die Verschwörungen ihre Stätte nicht mehr in der Armee, sondern in den Kreisen der armen „Intelligenz". Dabei allein kam etwas echte Anhänglichkeit für den Zaren zum Vorschein, indem die Handwerker und die Fabrikarbeiter meist gegen die Studenten Partei nahmen. Längst ist das vorüber. Auch die Bauern haben sich nicht der Reaktion zur Verfügung gestellt. Sie folgen denen, die ihnen mehr Land und weniger Steuern versprechen. Kein Zar hat jemals sagen können, daß er sein Haupt jedem Untertan in den Schoß legen könne. Alle haben sie ihre Sicherheit nur in der Polizei, in wohlgefüllten Kasernen, in Kosaken¬ kompagnien sehen können. Dieser Mangel an Beziehung zum eigentlichen Volke verführte sie, jede konstitutionelle Einrichtung zu meiden- Keine Volksvertretung, keine freie Presse, keine Redefreiheit gab die Möglichkeit, das Beamtentum zu kontrollieren. Dadurch riß in den Reihen der hohen wie der niedern Bureaukratie eine heillose Mißwirtschaft und Korruption ein. Über den verhängnisvollen Zu¬ sammenhang dieses Umstandes mit den Niederlagen des Heeres und der Flotte braucht kein Wort verloren zu werden. Ebenso klar liegt es auf der Hand, daß dieser arge Übelstand das zarische Regiment immer verhaßter gemacht hat. Die Korruption ist die Ursache des Nihilismus gewesen, der so viele Opfer gefordert hat. Und je mehr der Nihilismus, je mehr auch die nicht ver¬ brecherischen Formen des demokratischen Gedankens ins Volk drangen, desto mehr fürchteten sich Zarismus und Beamtentum vor Volksvertretung, vor Freiheit in Schrift und Rede. Die revolutionäre Bewegung mußte deshalb mit innerer Notwendigkeit zum Ausbruch kommen. Vom Oktober 1905 bis zum Januar 1906 nahm sie höchst bedrohliche Formen an. Der allgemeine Aufstand schien zweimal das alte Regime in seinen Grundfesten zu erschüttern. Aber eben das er¬ rettete es noch einmal vor seinen Feinden. Denn die sozialdemokratische Partei, die auf den Kutschbock der Bewegung sprang, brachte das Gefährt bald in ein solches Poltern über Stock und Stein, daß sich alle besonnenern Elemente mit Abscheu abwandten. Die Regierung konnte wieder nach den Zügeln greifen; sie brachte sie in ihre Hand, und damit war der Wendepunkt gekommen. Vorher hatte es mehr als einmal geschienen, als müsse Rußland unter den anspornender Geißelhieben der Revolution den waghalsigen Kopfsprung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/627>, abgerufen am 24.07.2024.