Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wir bemerken darum auch, wenn wir näher zusehen, daß den ganzen, scheinbar
so glänzenden Fortschritt unsrer Zeit eine tiefe Halbheit durchzieht. Diese Halb¬
heit zeigt sich zunächst in einer deutlichen Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit deutscher
Geldpolitik; und diese Kurzsichtigkeit zeigt sich am besten in der Stellung unsrer
Kapitalistenkreise zu der weitausschauenden, von Bismarck überkommnen Politik der
Regierung: ich meine deren Kolonial- und Flottenpolitik. Wenn die Regierung
seit einigen Jahrzehnten Kolonien gründet und zu vermehren sucht, so kommen
diese Kolonien doch gerade unsern industriellen und kommerziellen Kreisen zugute,
da sie Bezugsquellen für Rohmaterialien und Absatzgebiete für heimische Produkte
bieten. Und die Flotte dient doch eben dazu, unsre Handelsflotte zu schützen und
von der Gnade des Auslandes unabhängig zu machen. Wir müßten also annehmen,
daß ebenso wie in England auch bei uns die Geldpartei die Hauptstütze dieser
Regierungspolitik sei. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gerade diese Kreise be¬
reiten der Regierung und ihrer großzügigen Politik die größten Schwierigkeiten,
wie uns fast täglich ein Blick in die Parlamentsberichte lehren kann. Ich meine,
daß nichts bezeichnender als diese Stellung die Halbheit unsrer anglisierenden
Erwerbspolitik kennzeichnet. Daß aber diese fortwährenden Hemmungen der Re¬
gierungsbestrebungen bei dauerndem Erfolg schwere wirtschaftliche Gefahren herbei¬
führen und uns auf dem Weltmarkt andern Nationen gegenüber allmählich ins
Hintertreffen rücken müssen, liegt auf der Hand.

Aber auch von einem andern Standpunkt aus kann man die Halbheit des
heutigen deutschen Erwerbsstrebens erkennen. Dem Deutschen nämlich ist der Geld¬
erwerb niemals wie dem Engländer Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum
Zweck. Er rafft schnell zusammen, um möglichst früh zu genießen -- das Geld
ist ihm nur das Mittel, der Genuß der Zweck. Daher kommt es, daß zugleich
mit anglisierender Erwerbssucht eine Vergnügungssucht bei uns eingerissen ist, die
-- wenn wir Männern glauben wollen, die fremde Länder gesehen haben -- bei
uns größer ist als irgend anderswo.

Und diese Genußsucht würde vielleicht noch nicht so gefahrdrohend sein, wenn
sie sich auf die geldbesitzenden Kreise beschränkte. Aber Genußsucht steckt an. Sie
hat weite Kreise des Volkes und besonders gerade die untern Schichten ergriffen.
Das zeigt sich am klarsten in der heute so bedrohlichen Erscheinung der Landflucht.
Der kleine Mann vom Lande will nicht mehr seiner ererbten Beschäftigung nach¬
gehn. Er zieht in die Stadt, um auch ein paar Groschen mehr zu verdienen und
diese möglichst schnell in Genußmittel umzusetzen. So bildet sich mehr und mehr
ein vierter Stand heraus, das Proletariat der Städte, dessen Einheit in der gemein¬
samen Anbetung des modernen goldnen Kalbes besteht. Daß dieser Zug der Zeit
schwere moralische und schließlich auch physische Gefahren mit sich führen muß. ist
ebenfalls klar.

Wir sehen also, wie der moderne Fortschritt schwere wirtschaftliche, moralische
und physische Gefahren für den Einzelnen herbeiführt, die sich aus der mangelnden
Anlage des Deutschen für eine der englischen ähnliche Politik ergeben.

Das allein schon verheißt schlimme Folgen für die Nation als Ganzes, auf
die wir nun unsre Blicke lenken. Noch bedrohlicher erscheinen die Zukunftsaus¬
sichten der Nation, wenn wir die geographische Lage unsers Landes ins Auge
fassen. Ich schneide hier die Frage der Wehrfähigkeit an. Es kann kühnlich be¬
hauptet werden, daß England niemals eine reine Geldpolitik großen Stils hätte
durchführen können, wenn es nicht durch seine insulare Lage gegen Angriffe fremder
Mächte einigermaßen gesichert wäre. Ganz anders Deutschland. Deutschland ist
das "Herz" Europas und als solches größtenteils von Landgrenzen umschlossen;
ihm sind darum fremde Mächte unmittelbar benachbart. Es muß deshalb in ganz
anderen Maße als England auf seine Wehrkraft bedacht sein. Es bedarf doppelter
Rüstungen: einmal einer Flotte, wenn es den Plan einer Weltpolitik durchführen
will, dann aber, und das ist immer das wichtigste, eines starken Landheeres. Und


Grenzboten II 1906 78
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wir bemerken darum auch, wenn wir näher zusehen, daß den ganzen, scheinbar
so glänzenden Fortschritt unsrer Zeit eine tiefe Halbheit durchzieht. Diese Halb¬
heit zeigt sich zunächst in einer deutlichen Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit deutscher
Geldpolitik; und diese Kurzsichtigkeit zeigt sich am besten in der Stellung unsrer
Kapitalistenkreise zu der weitausschauenden, von Bismarck überkommnen Politik der
Regierung: ich meine deren Kolonial- und Flottenpolitik. Wenn die Regierung
seit einigen Jahrzehnten Kolonien gründet und zu vermehren sucht, so kommen
diese Kolonien doch gerade unsern industriellen und kommerziellen Kreisen zugute,
da sie Bezugsquellen für Rohmaterialien und Absatzgebiete für heimische Produkte
bieten. Und die Flotte dient doch eben dazu, unsre Handelsflotte zu schützen und
von der Gnade des Auslandes unabhängig zu machen. Wir müßten also annehmen,
daß ebenso wie in England auch bei uns die Geldpartei die Hauptstütze dieser
Regierungspolitik sei. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gerade diese Kreise be¬
reiten der Regierung und ihrer großzügigen Politik die größten Schwierigkeiten,
wie uns fast täglich ein Blick in die Parlamentsberichte lehren kann. Ich meine,
daß nichts bezeichnender als diese Stellung die Halbheit unsrer anglisierenden
Erwerbspolitik kennzeichnet. Daß aber diese fortwährenden Hemmungen der Re¬
gierungsbestrebungen bei dauerndem Erfolg schwere wirtschaftliche Gefahren herbei¬
führen und uns auf dem Weltmarkt andern Nationen gegenüber allmählich ins
Hintertreffen rücken müssen, liegt auf der Hand.

Aber auch von einem andern Standpunkt aus kann man die Halbheit des
heutigen deutschen Erwerbsstrebens erkennen. Dem Deutschen nämlich ist der Geld¬
erwerb niemals wie dem Engländer Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum
Zweck. Er rafft schnell zusammen, um möglichst früh zu genießen — das Geld
ist ihm nur das Mittel, der Genuß der Zweck. Daher kommt es, daß zugleich
mit anglisierender Erwerbssucht eine Vergnügungssucht bei uns eingerissen ist, die
— wenn wir Männern glauben wollen, die fremde Länder gesehen haben — bei
uns größer ist als irgend anderswo.

Und diese Genußsucht würde vielleicht noch nicht so gefahrdrohend sein, wenn
sie sich auf die geldbesitzenden Kreise beschränkte. Aber Genußsucht steckt an. Sie
hat weite Kreise des Volkes und besonders gerade die untern Schichten ergriffen.
Das zeigt sich am klarsten in der heute so bedrohlichen Erscheinung der Landflucht.
Der kleine Mann vom Lande will nicht mehr seiner ererbten Beschäftigung nach¬
gehn. Er zieht in die Stadt, um auch ein paar Groschen mehr zu verdienen und
diese möglichst schnell in Genußmittel umzusetzen. So bildet sich mehr und mehr
ein vierter Stand heraus, das Proletariat der Städte, dessen Einheit in der gemein¬
samen Anbetung des modernen goldnen Kalbes besteht. Daß dieser Zug der Zeit
schwere moralische und schließlich auch physische Gefahren mit sich führen muß. ist
ebenfalls klar.

Wir sehen also, wie der moderne Fortschritt schwere wirtschaftliche, moralische
und physische Gefahren für den Einzelnen herbeiführt, die sich aus der mangelnden
Anlage des Deutschen für eine der englischen ähnliche Politik ergeben.

Das allein schon verheißt schlimme Folgen für die Nation als Ganzes, auf
die wir nun unsre Blicke lenken. Noch bedrohlicher erscheinen die Zukunftsaus¬
sichten der Nation, wenn wir die geographische Lage unsers Landes ins Auge
fassen. Ich schneide hier die Frage der Wehrfähigkeit an. Es kann kühnlich be¬
hauptet werden, daß England niemals eine reine Geldpolitik großen Stils hätte
durchführen können, wenn es nicht durch seine insulare Lage gegen Angriffe fremder
Mächte einigermaßen gesichert wäre. Ganz anders Deutschland. Deutschland ist
das „Herz" Europas und als solches größtenteils von Landgrenzen umschlossen;
ihm sind darum fremde Mächte unmittelbar benachbart. Es muß deshalb in ganz
anderen Maße als England auf seine Wehrkraft bedacht sein. Es bedarf doppelter
Rüstungen: einmal einer Flotte, wenn es den Plan einer Weltpolitik durchführen
will, dann aber, und das ist immer das wichtigste, eines starken Landheeres. Und


Grenzboten II 1906 78
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0621" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299662"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2747"> Wir bemerken darum auch, wenn wir näher zusehen, daß den ganzen, scheinbar<lb/>
so glänzenden Fortschritt unsrer Zeit eine tiefe Halbheit durchzieht. Diese Halb¬<lb/>
heit zeigt sich zunächst in einer deutlichen Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit deutscher<lb/>
Geldpolitik; und diese Kurzsichtigkeit zeigt sich am besten in der Stellung unsrer<lb/>
Kapitalistenkreise zu der weitausschauenden, von Bismarck überkommnen Politik der<lb/>
Regierung: ich meine deren Kolonial- und Flottenpolitik. Wenn die Regierung<lb/>
seit einigen Jahrzehnten Kolonien gründet und zu vermehren sucht, so kommen<lb/>
diese Kolonien doch gerade unsern industriellen und kommerziellen Kreisen zugute,<lb/>
da sie Bezugsquellen für Rohmaterialien und Absatzgebiete für heimische Produkte<lb/>
bieten. Und die Flotte dient doch eben dazu, unsre Handelsflotte zu schützen und<lb/>
von der Gnade des Auslandes unabhängig zu machen. Wir müßten also annehmen,<lb/>
daß ebenso wie in England auch bei uns die Geldpartei die Hauptstütze dieser<lb/>
Regierungspolitik sei. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gerade diese Kreise be¬<lb/>
reiten der Regierung und ihrer großzügigen Politik die größten Schwierigkeiten,<lb/>
wie uns fast täglich ein Blick in die Parlamentsberichte lehren kann. Ich meine,<lb/>
daß nichts bezeichnender als diese Stellung die Halbheit unsrer anglisierenden<lb/>
Erwerbspolitik kennzeichnet. Daß aber diese fortwährenden Hemmungen der Re¬<lb/>
gierungsbestrebungen bei dauerndem Erfolg schwere wirtschaftliche Gefahren herbei¬<lb/>
führen und uns auf dem Weltmarkt andern Nationen gegenüber allmählich ins<lb/>
Hintertreffen rücken müssen, liegt auf der Hand.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2748"> Aber auch von einem andern Standpunkt aus kann man die Halbheit des<lb/>
heutigen deutschen Erwerbsstrebens erkennen. Dem Deutschen nämlich ist der Geld¬<lb/>
erwerb niemals wie dem Engländer Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum<lb/>
Zweck. Er rafft schnell zusammen, um möglichst früh zu genießen &#x2014; das Geld<lb/>
ist ihm nur das Mittel, der Genuß der Zweck. Daher kommt es, daß zugleich<lb/>
mit anglisierender Erwerbssucht eine Vergnügungssucht bei uns eingerissen ist, die<lb/>
&#x2014; wenn wir Männern glauben wollen, die fremde Länder gesehen haben &#x2014; bei<lb/>
uns größer ist als irgend anderswo.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2749"> Und diese Genußsucht würde vielleicht noch nicht so gefahrdrohend sein, wenn<lb/>
sie sich auf die geldbesitzenden Kreise beschränkte. Aber Genußsucht steckt an. Sie<lb/>
hat weite Kreise des Volkes und besonders gerade die untern Schichten ergriffen.<lb/>
Das zeigt sich am klarsten in der heute so bedrohlichen Erscheinung der Landflucht.<lb/>
Der kleine Mann vom Lande will nicht mehr seiner ererbten Beschäftigung nach¬<lb/>
gehn. Er zieht in die Stadt, um auch ein paar Groschen mehr zu verdienen und<lb/>
diese möglichst schnell in Genußmittel umzusetzen. So bildet sich mehr und mehr<lb/>
ein vierter Stand heraus, das Proletariat der Städte, dessen Einheit in der gemein¬<lb/>
samen Anbetung des modernen goldnen Kalbes besteht. Daß dieser Zug der Zeit<lb/>
schwere moralische und schließlich auch physische Gefahren mit sich führen muß. ist<lb/>
ebenfalls klar.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2750"> Wir sehen also, wie der moderne Fortschritt schwere wirtschaftliche, moralische<lb/>
und physische Gefahren für den Einzelnen herbeiführt, die sich aus der mangelnden<lb/>
Anlage des Deutschen für eine der englischen ähnliche Politik ergeben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2751" next="#ID_2752"> Das allein schon verheißt schlimme Folgen für die Nation als Ganzes, auf<lb/>
die wir nun unsre Blicke lenken. Noch bedrohlicher erscheinen die Zukunftsaus¬<lb/>
sichten der Nation, wenn wir die geographische Lage unsers Landes ins Auge<lb/>
fassen. Ich schneide hier die Frage der Wehrfähigkeit an. Es kann kühnlich be¬<lb/>
hauptet werden, daß England niemals eine reine Geldpolitik großen Stils hätte<lb/>
durchführen können, wenn es nicht durch seine insulare Lage gegen Angriffe fremder<lb/>
Mächte einigermaßen gesichert wäre. Ganz anders Deutschland. Deutschland ist<lb/>
das &#x201E;Herz" Europas und als solches größtenteils von Landgrenzen umschlossen;<lb/>
ihm sind darum fremde Mächte unmittelbar benachbart. Es muß deshalb in ganz<lb/>
anderen Maße als England auf seine Wehrkraft bedacht sein. Es bedarf doppelter<lb/>
Rüstungen: einmal einer Flotte, wenn es den Plan einer Weltpolitik durchführen<lb/>
will, dann aber, und das ist immer das wichtigste, eines starken Landheeres. Und</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1906 78</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0621] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wir bemerken darum auch, wenn wir näher zusehen, daß den ganzen, scheinbar so glänzenden Fortschritt unsrer Zeit eine tiefe Halbheit durchzieht. Diese Halb¬ heit zeigt sich zunächst in einer deutlichen Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit deutscher Geldpolitik; und diese Kurzsichtigkeit zeigt sich am besten in der Stellung unsrer Kapitalistenkreise zu der weitausschauenden, von Bismarck überkommnen Politik der Regierung: ich meine deren Kolonial- und Flottenpolitik. Wenn die Regierung seit einigen Jahrzehnten Kolonien gründet und zu vermehren sucht, so kommen diese Kolonien doch gerade unsern industriellen und kommerziellen Kreisen zugute, da sie Bezugsquellen für Rohmaterialien und Absatzgebiete für heimische Produkte bieten. Und die Flotte dient doch eben dazu, unsre Handelsflotte zu schützen und von der Gnade des Auslandes unabhängig zu machen. Wir müßten also annehmen, daß ebenso wie in England auch bei uns die Geldpartei die Hauptstütze dieser Regierungspolitik sei. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gerade diese Kreise be¬ reiten der Regierung und ihrer großzügigen Politik die größten Schwierigkeiten, wie uns fast täglich ein Blick in die Parlamentsberichte lehren kann. Ich meine, daß nichts bezeichnender als diese Stellung die Halbheit unsrer anglisierenden Erwerbspolitik kennzeichnet. Daß aber diese fortwährenden Hemmungen der Re¬ gierungsbestrebungen bei dauerndem Erfolg schwere wirtschaftliche Gefahren herbei¬ führen und uns auf dem Weltmarkt andern Nationen gegenüber allmählich ins Hintertreffen rücken müssen, liegt auf der Hand. Aber auch von einem andern Standpunkt aus kann man die Halbheit des heutigen deutschen Erwerbsstrebens erkennen. Dem Deutschen nämlich ist der Geld¬ erwerb niemals wie dem Engländer Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck. Er rafft schnell zusammen, um möglichst früh zu genießen — das Geld ist ihm nur das Mittel, der Genuß der Zweck. Daher kommt es, daß zugleich mit anglisierender Erwerbssucht eine Vergnügungssucht bei uns eingerissen ist, die — wenn wir Männern glauben wollen, die fremde Länder gesehen haben — bei uns größer ist als irgend anderswo. Und diese Genußsucht würde vielleicht noch nicht so gefahrdrohend sein, wenn sie sich auf die geldbesitzenden Kreise beschränkte. Aber Genußsucht steckt an. Sie hat weite Kreise des Volkes und besonders gerade die untern Schichten ergriffen. Das zeigt sich am klarsten in der heute so bedrohlichen Erscheinung der Landflucht. Der kleine Mann vom Lande will nicht mehr seiner ererbten Beschäftigung nach¬ gehn. Er zieht in die Stadt, um auch ein paar Groschen mehr zu verdienen und diese möglichst schnell in Genußmittel umzusetzen. So bildet sich mehr und mehr ein vierter Stand heraus, das Proletariat der Städte, dessen Einheit in der gemein¬ samen Anbetung des modernen goldnen Kalbes besteht. Daß dieser Zug der Zeit schwere moralische und schließlich auch physische Gefahren mit sich führen muß. ist ebenfalls klar. Wir sehen also, wie der moderne Fortschritt schwere wirtschaftliche, moralische und physische Gefahren für den Einzelnen herbeiführt, die sich aus der mangelnden Anlage des Deutschen für eine der englischen ähnliche Politik ergeben. Das allein schon verheißt schlimme Folgen für die Nation als Ganzes, auf die wir nun unsre Blicke lenken. Noch bedrohlicher erscheinen die Zukunftsaus¬ sichten der Nation, wenn wir die geographische Lage unsers Landes ins Auge fassen. Ich schneide hier die Frage der Wehrfähigkeit an. Es kann kühnlich be¬ hauptet werden, daß England niemals eine reine Geldpolitik großen Stils hätte durchführen können, wenn es nicht durch seine insulare Lage gegen Angriffe fremder Mächte einigermaßen gesichert wäre. Ganz anders Deutschland. Deutschland ist das „Herz" Europas und als solches größtenteils von Landgrenzen umschlossen; ihm sind darum fremde Mächte unmittelbar benachbart. Es muß deshalb in ganz anderen Maße als England auf seine Wehrkraft bedacht sein. Es bedarf doppelter Rüstungen: einmal einer Flotte, wenn es den Plan einer Weltpolitik durchführen will, dann aber, und das ist immer das wichtigste, eines starken Landheeres. Und Grenzboten II 1906 78

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/621
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/621>, abgerufen am 24.07.2024.