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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Und mit schnellen Schritten betrat sie durch das Pförtchen hinter dem Zoll¬
hause die Stadt, in deren engen Gassen schon völlige Dunkelheit herrschte. Als
sie auf den Markt einbog, kam gerade ihr Vater, der Küfermeister Metzler, aus
der Trinkstube und ging nebenan in seine Behausung, ein stattliches Gebäude, das
dem adlichen Frauleinstift Marienberg als Kellnern und Kellerhaus diente und den
Namen Rebenstock führte.

Regina mußte gute Gründe haben, ein Zusammentreffen mit dem Vater zu
Vermeiden. Sie wartete eine Weile, bis er in dem breiten, mit Steinplatten be¬
legten Hausflur verschwunden war, und schlüpfte dann geräuschlos und behende
wie eine Katze in das Haus und über die steile Holzstiege in ihre Kammer.

An dem ewigen Lämpchen, das nicht viel Heller als ein Glühwürmchen
über der Tür vor dem Bilde der schmerzensreichem Gottesmutter brannte, ent¬
zündete sie ein Licht, riegelte die Tür ab, holte den Stein hervor und faltete das
Papier auseinander. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und las:

Herzinniglichen und treuen Gruß zuvor. Ist uns durch Gottes gnädige und
Wunderbare Fügung kund worden, daß von Wesel zween Ochsen gebracht werden.
Es bringt sie Simon von Bacharach, der Jude, also daß sie am Sankt Vitustag
zu Salzig sind. Bei Nacht sollen sie dann in die Burg geschafft werden. Wenn
die Städtischen sie wegnehmen, müssen wir gewißlich Hungers sterben. Trage
deshalb Sorge, daß der Leinpfad um die zweite Nachtwache frei ist. Sieh zu.
wie du es fertig bringst, bist ja ein kluges Jüngferlein und wirst schon Rat schaffen.
Der, den du kennst.

Wenn das Schreiben auch keine Unterschrift aufwies, viel weniger noch ein
Sigill, so war es doch ein erfreuliches Dokument für die Tatsache, daß die Be¬
ziehungen zwischen Kurtrier und Boppard wenigstens an einer Stelle noch nicht
gänzlich abgebrochen worden waren, und daß es noch zwei Menschen gab, die ein
rein menschliches Interesse daran hatten, daß die bösen Händel endlich ein Ende
"°denen. (Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kaiser Wilhelms Reise nach Wien. Einiges über den Drei¬
bund. Die Morning Post über die Bagdadbahn.)

Wenn je ein privater fürstlicher Besuch gute politische Folgen gehabt hat, so
war es der Besuch Kaiser Wilhelms in Wien. Leider muß man hinzufügen, daß
selten die Kurzsichtigkeiten der Presse durch die Ereignisse so schlagend widerlegt
worden sind wie in diesem Falle. Wie unfreundlich nahm die ungarische Presse
die Ankündigung dieses Kaiserbesuchs auf, wie zurückhaltend die österreichische, wie
viele Unkenrufe wurden in deutschen Blättern noch an dem Tage laut, wo der
Kaiser die Fahrt nach Wien antrat! Auch die an einzelnen Stellen in Wien
aufgetauchte Besorgnis, daß die persönliche Inanspruchnahme des Kaisers Franz
Joseph durch seinen Gast ungünstig und ermüdend auf den hochbetagten Monarchen
einwirken könne, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist im Gegenteil für den in den
letzten Monaten durch Regierungssorgen so sehr in Anspruch genommnen Kaiser
Franz Joseph eine erfreuliche Unterbrechung dieses Zustandes, eine geistige Er¬
frischung gewesen, mit dem ihm verbündeten und ihm auch persönlich so nahe
stehenden Nachbar, der mit Verehrung und Sympathie zu ihm aufschaut, einen ver¬
traulichen Gedankenaustausch von Fürst zu Fürst Pflegen zu können. Hat sich doch
auch der ungarische Ministerpräsident dahin ausgesprochen, "daß diese Auffrischung
dem alten Herrn zu gönnen gewesen sei". Intriguen aller Art hatten seit Jahres¬
frist und länger in Ungarn allerlei unberechtigte Verstimmung gegen Deutschland,


Und mit schnellen Schritten betrat sie durch das Pförtchen hinter dem Zoll¬
hause die Stadt, in deren engen Gassen schon völlige Dunkelheit herrschte. Als
sie auf den Markt einbog, kam gerade ihr Vater, der Küfermeister Metzler, aus
der Trinkstube und ging nebenan in seine Behausung, ein stattliches Gebäude, das
dem adlichen Frauleinstift Marienberg als Kellnern und Kellerhaus diente und den
Namen Rebenstock führte.

Regina mußte gute Gründe haben, ein Zusammentreffen mit dem Vater zu
Vermeiden. Sie wartete eine Weile, bis er in dem breiten, mit Steinplatten be¬
legten Hausflur verschwunden war, und schlüpfte dann geräuschlos und behende
wie eine Katze in das Haus und über die steile Holzstiege in ihre Kammer.

An dem ewigen Lämpchen, das nicht viel Heller als ein Glühwürmchen
über der Tür vor dem Bilde der schmerzensreichem Gottesmutter brannte, ent¬
zündete sie ein Licht, riegelte die Tür ab, holte den Stein hervor und faltete das
Papier auseinander. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und las:

Herzinniglichen und treuen Gruß zuvor. Ist uns durch Gottes gnädige und
Wunderbare Fügung kund worden, daß von Wesel zween Ochsen gebracht werden.
Es bringt sie Simon von Bacharach, der Jude, also daß sie am Sankt Vitustag
zu Salzig sind. Bei Nacht sollen sie dann in die Burg geschafft werden. Wenn
die Städtischen sie wegnehmen, müssen wir gewißlich Hungers sterben. Trage
deshalb Sorge, daß der Leinpfad um die zweite Nachtwache frei ist. Sieh zu.
wie du es fertig bringst, bist ja ein kluges Jüngferlein und wirst schon Rat schaffen.
Der, den du kennst.

Wenn das Schreiben auch keine Unterschrift aufwies, viel weniger noch ein
Sigill, so war es doch ein erfreuliches Dokument für die Tatsache, daß die Be¬
ziehungen zwischen Kurtrier und Boppard wenigstens an einer Stelle noch nicht
gänzlich abgebrochen worden waren, und daß es noch zwei Menschen gab, die ein
rein menschliches Interesse daran hatten, daß die bösen Händel endlich ein Ende
"°denen. (Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kaiser Wilhelms Reise nach Wien. Einiges über den Drei¬
bund. Die Morning Post über die Bagdadbahn.)

Wenn je ein privater fürstlicher Besuch gute politische Folgen gehabt hat, so
war es der Besuch Kaiser Wilhelms in Wien. Leider muß man hinzufügen, daß
selten die Kurzsichtigkeiten der Presse durch die Ereignisse so schlagend widerlegt
worden sind wie in diesem Falle. Wie unfreundlich nahm die ungarische Presse
die Ankündigung dieses Kaiserbesuchs auf, wie zurückhaltend die österreichische, wie
viele Unkenrufe wurden in deutschen Blättern noch an dem Tage laut, wo der
Kaiser die Fahrt nach Wien antrat! Auch die an einzelnen Stellen in Wien
aufgetauchte Besorgnis, daß die persönliche Inanspruchnahme des Kaisers Franz
Joseph durch seinen Gast ungünstig und ermüdend auf den hochbetagten Monarchen
einwirken könne, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist im Gegenteil für den in den
letzten Monaten durch Regierungssorgen so sehr in Anspruch genommnen Kaiser
Franz Joseph eine erfreuliche Unterbrechung dieses Zustandes, eine geistige Er¬
frischung gewesen, mit dem ihm verbündeten und ihm auch persönlich so nahe
stehenden Nachbar, der mit Verehrung und Sympathie zu ihm aufschaut, einen ver¬
traulichen Gedankenaustausch von Fürst zu Fürst Pflegen zu können. Hat sich doch
auch der ungarische Ministerpräsident dahin ausgesprochen, „daß diese Auffrischung
dem alten Herrn zu gönnen gewesen sei". Intriguen aller Art hatten seit Jahres¬
frist und länger in Ungarn allerlei unberechtigte Verstimmung gegen Deutschland,


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[0615] Und mit schnellen Schritten betrat sie durch das Pförtchen hinter dem Zoll¬ hause die Stadt, in deren engen Gassen schon völlige Dunkelheit herrschte. Als sie auf den Markt einbog, kam gerade ihr Vater, der Küfermeister Metzler, aus der Trinkstube und ging nebenan in seine Behausung, ein stattliches Gebäude, das dem adlichen Frauleinstift Marienberg als Kellnern und Kellerhaus diente und den Namen Rebenstock führte. Regina mußte gute Gründe haben, ein Zusammentreffen mit dem Vater zu Vermeiden. Sie wartete eine Weile, bis er in dem breiten, mit Steinplatten be¬ legten Hausflur verschwunden war, und schlüpfte dann geräuschlos und behende wie eine Katze in das Haus und über die steile Holzstiege in ihre Kammer. An dem ewigen Lämpchen, das nicht viel Heller als ein Glühwürmchen über der Tür vor dem Bilde der schmerzensreichem Gottesmutter brannte, ent¬ zündete sie ein Licht, riegelte die Tür ab, holte den Stein hervor und faltete das Papier auseinander. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und las: Herzinniglichen und treuen Gruß zuvor. Ist uns durch Gottes gnädige und Wunderbare Fügung kund worden, daß von Wesel zween Ochsen gebracht werden. Es bringt sie Simon von Bacharach, der Jude, also daß sie am Sankt Vitustag zu Salzig sind. Bei Nacht sollen sie dann in die Burg geschafft werden. Wenn die Städtischen sie wegnehmen, müssen wir gewißlich Hungers sterben. Trage deshalb Sorge, daß der Leinpfad um die zweite Nachtwache frei ist. Sieh zu. wie du es fertig bringst, bist ja ein kluges Jüngferlein und wirst schon Rat schaffen. Der, den du kennst. Wenn das Schreiben auch keine Unterschrift aufwies, viel weniger noch ein Sigill, so war es doch ein erfreuliches Dokument für die Tatsache, daß die Be¬ ziehungen zwischen Kurtrier und Boppard wenigstens an einer Stelle noch nicht gänzlich abgebrochen worden waren, und daß es noch zwei Menschen gab, die ein rein menschliches Interesse daran hatten, daß die bösen Händel endlich ein Ende "°denen. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Kaiser Wilhelms Reise nach Wien. Einiges über den Drei¬ bund. Die Morning Post über die Bagdadbahn.) Wenn je ein privater fürstlicher Besuch gute politische Folgen gehabt hat, so war es der Besuch Kaiser Wilhelms in Wien. Leider muß man hinzufügen, daß selten die Kurzsichtigkeiten der Presse durch die Ereignisse so schlagend widerlegt worden sind wie in diesem Falle. Wie unfreundlich nahm die ungarische Presse die Ankündigung dieses Kaiserbesuchs auf, wie zurückhaltend die österreichische, wie viele Unkenrufe wurden in deutschen Blättern noch an dem Tage laut, wo der Kaiser die Fahrt nach Wien antrat! Auch die an einzelnen Stellen in Wien aufgetauchte Besorgnis, daß die persönliche Inanspruchnahme des Kaisers Franz Joseph durch seinen Gast ungünstig und ermüdend auf den hochbetagten Monarchen einwirken könne, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist im Gegenteil für den in den letzten Monaten durch Regierungssorgen so sehr in Anspruch genommnen Kaiser Franz Joseph eine erfreuliche Unterbrechung dieses Zustandes, eine geistige Er¬ frischung gewesen, mit dem ihm verbündeten und ihm auch persönlich so nahe stehenden Nachbar, der mit Verehrung und Sympathie zu ihm aufschaut, einen ver¬ traulichen Gedankenaustausch von Fürst zu Fürst Pflegen zu können. Hat sich doch auch der ungarische Ministerpräsident dahin ausgesprochen, „daß diese Auffrischung dem alten Herrn zu gönnen gewesen sei". Intriguen aller Art hatten seit Jahres¬ frist und länger in Ungarn allerlei unberechtigte Verstimmung gegen Deutschland,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/615>, abgerufen am 27.12.2024.