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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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von Bukurescht zum Goldner Horn

Oberfläche und wurde von dem betreffenden, gelangweilt aussehenden Beamten
durch Aufkleben eines gelben Zettels auf jedes Stück beendet; als er an das
dreizehnte kam, ersah er seinen Vorteil und verlangte Zulage, worauf zwischen
ihm und dem Dragomay ein Feilschen begann, das uns lächerlich genug erschien,
aber geboten ist, wenn man in Konstantinopel billig leben will. Der Beamte
muß fordern, denn durch den Mangel regelmäßiger Gehaltszahlung lebt er vom
Bakschisch. Der Fremde aber wird, wenn er die geforderten Preise nicht drückt,
zehnfach überteuert. Er tut am besten, sich ganz in die Hände seines Dragomans
zu geben. Und wenn ihn der auch etwas schröpft, fährt er immer noch besser,
als wenn er selber -- auch auf türkisch -- handeln will. Unser Vinzenz, früher
seines Zeichens Kellner, ist entschieden eine ehrliche Haut, und wenn er auch
vielleicht von einzelnen Geschäften kleine Provisionen bekommt, doch immer auf
den Vorteil seiner Reisegesellschaft bedacht, immer gefällig, immer unermüdlich,
sei es bei Besorgungen, sei es im Handeln um die Paras, und immer überaus
bescheiden. Er steht mit einer kleinen Pension in Geschäftsverbindung, die in
einem Seitengäßchen der Großen Perastmße nahe bei der russischen Botschaft
von einer Wienerin unterhalten wird und dem, der billig und ungeniert leben
will, brauchbare, wenn auch keineswegs prunkhafte Unterkunft gewährt. Ich
will es nicht leugnen, mein erster Eindruck war der eines gelinden Schreckens,
als unser Rosselenker auf die schmale Jmpasse Ottoni wies; aber der Mensch
gewohnt sich an alles, und die Lage ist bequem. Jetzt war sie auf dem Wege,
zu einer traurigen Berühmtheit zu gelangen, da es hieß, daß ein am Attentat
auf den Sultan beteiligtes Subjekt dort gewohnt habe. Zum Glück für die
Inhaberin hat sich das Gerücht nicht bewahrheitet.




Konstantinopel ausführlich zu beschreiben, ist ein oft versuchtes und eigentlich
nie erschöpfend gelungnes, im engen Rahmen dieser Blätter von vornherein aus¬
sichtsloses Unternehmen. Stückwerk muß darum bleiben, was ich aus der Fülle
des Gesehenen erzählen kann, um so mehr, als ein Aufenthalt von fünf Tagen
eine viel zu kurze Zeit ist, als daß man Stadt und Leute nur einigermaßen
genügend studieren könnte. Denn diese Vielgestaltigkeit des Lebens, die aus
dem Durcheinander von Altem und Neuem, von Orientalischen und Europäischem,
von Christentum und Mohammedanismus, von Reich und Arm, Erwerbssinn
und stumpfer Trägheit in Kreaturen und toten Gebilden zutage tritt, baut sich
auf an einer Stelle an der Grenze zweier Welten, die von jeher ebensowohl
als Handelszentrale wie als politischer Vorort geeignet erscheinen mußte, und
wo eine wunderbare Natur den stimmungsvollen Grund zu einem Bilde ohne¬
gleichen gibt. Fesselnd ist die Schilderung Konstantinopels, die der große
Moltke in seinen Briefen gegeben hat, und noch heute trifft sie zu, denn an
dem Bilde, wie es ihm erschienen ist, haben die Wandlungen der Geschichte und
die Fortschritte europäischen Kulturlebens im wesentlichen nichts ändern können.
Nur Bresche ist gelegt worden, indem europäisches Geschüftstreiben sich einzelne
Straßen und Gebiete hat erobern und die nach dem Westen führende Eisenbahn
sogar die verschlossenen, verschwiegnen Gärten des alten Serails hat eröffnen


von Bukurescht zum Goldner Horn

Oberfläche und wurde von dem betreffenden, gelangweilt aussehenden Beamten
durch Aufkleben eines gelben Zettels auf jedes Stück beendet; als er an das
dreizehnte kam, ersah er seinen Vorteil und verlangte Zulage, worauf zwischen
ihm und dem Dragomay ein Feilschen begann, das uns lächerlich genug erschien,
aber geboten ist, wenn man in Konstantinopel billig leben will. Der Beamte
muß fordern, denn durch den Mangel regelmäßiger Gehaltszahlung lebt er vom
Bakschisch. Der Fremde aber wird, wenn er die geforderten Preise nicht drückt,
zehnfach überteuert. Er tut am besten, sich ganz in die Hände seines Dragomans
zu geben. Und wenn ihn der auch etwas schröpft, fährt er immer noch besser,
als wenn er selber — auch auf türkisch — handeln will. Unser Vinzenz, früher
seines Zeichens Kellner, ist entschieden eine ehrliche Haut, und wenn er auch
vielleicht von einzelnen Geschäften kleine Provisionen bekommt, doch immer auf
den Vorteil seiner Reisegesellschaft bedacht, immer gefällig, immer unermüdlich,
sei es bei Besorgungen, sei es im Handeln um die Paras, und immer überaus
bescheiden. Er steht mit einer kleinen Pension in Geschäftsverbindung, die in
einem Seitengäßchen der Großen Perastmße nahe bei der russischen Botschaft
von einer Wienerin unterhalten wird und dem, der billig und ungeniert leben
will, brauchbare, wenn auch keineswegs prunkhafte Unterkunft gewährt. Ich
will es nicht leugnen, mein erster Eindruck war der eines gelinden Schreckens,
als unser Rosselenker auf die schmale Jmpasse Ottoni wies; aber der Mensch
gewohnt sich an alles, und die Lage ist bequem. Jetzt war sie auf dem Wege,
zu einer traurigen Berühmtheit zu gelangen, da es hieß, daß ein am Attentat
auf den Sultan beteiligtes Subjekt dort gewohnt habe. Zum Glück für die
Inhaberin hat sich das Gerücht nicht bewahrheitet.




Konstantinopel ausführlich zu beschreiben, ist ein oft versuchtes und eigentlich
nie erschöpfend gelungnes, im engen Rahmen dieser Blätter von vornherein aus¬
sichtsloses Unternehmen. Stückwerk muß darum bleiben, was ich aus der Fülle
des Gesehenen erzählen kann, um so mehr, als ein Aufenthalt von fünf Tagen
eine viel zu kurze Zeit ist, als daß man Stadt und Leute nur einigermaßen
genügend studieren könnte. Denn diese Vielgestaltigkeit des Lebens, die aus
dem Durcheinander von Altem und Neuem, von Orientalischen und Europäischem,
von Christentum und Mohammedanismus, von Reich und Arm, Erwerbssinn
und stumpfer Trägheit in Kreaturen und toten Gebilden zutage tritt, baut sich
auf an einer Stelle an der Grenze zweier Welten, die von jeher ebensowohl
als Handelszentrale wie als politischer Vorort geeignet erscheinen mußte, und
wo eine wunderbare Natur den stimmungsvollen Grund zu einem Bilde ohne¬
gleichen gibt. Fesselnd ist die Schilderung Konstantinopels, die der große
Moltke in seinen Briefen gegeben hat, und noch heute trifft sie zu, denn an
dem Bilde, wie es ihm erschienen ist, haben die Wandlungen der Geschichte und
die Fortschritte europäischen Kulturlebens im wesentlichen nichts ändern können.
Nur Bresche ist gelegt worden, indem europäisches Geschüftstreiben sich einzelne
Straßen und Gebiete hat erobern und die nach dem Westen führende Eisenbahn
sogar die verschlossenen, verschwiegnen Gärten des alten Serails hat eröffnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/602>, abgerufen am 30.12.2024.