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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die oberste Heeresleitung in Frankreich

merkscunkeit auf die großen Aufgaben der Armee und ihrer Führer gerichtet sind.
Diese Einrichtung eines obersten Rates der Nationalverteidigung in Frankreich,
der erst jetzt durch die Bekanntgabe näherer Bestimmungen eine große Bedeutung
in vollem Umfange hat erkennen lassen, verdient auch bei uns beachtet und
kritisch beurteilt zu werden. Allein schon deshalb, weil an diese wichtige mili¬
tärische Neuorganisation vielerlei Kommentare geknüpft worden sind, die wir
nicht für zutreffend halten können.

In der Hauptsache ist gegenüber unrichtigen Auslegungen ein großes Ge¬
wicht darauf zu legen, daß der "oberste Rat" nicht etwa ein neu geschaffnes
oder gar selbständiges Machtmittel neben der höchsten Staatsgewalt ist. Viel¬
mehr soll die neue Körperschaft zunächst nur ein technischer Beirat (ecmssil
tsoliniaus) sein, dem gegenüber die Regierung wie bisher ihre volle Verant¬
wortlichkeit beibehält und entweder seinen Vorschlagen, die Zustimmung des
Parlaments vorausgesetzt, beipflichten oder sie ablehnen kann. Aus diesem
Grunde nehmen auch der Präsident der Republik und der Ministerpräsident,
die beide als Vorsitzender und als dessen Stellvertreter Mitglieder des "obersten
Rates" sind, niemals an einer Abstimmung teil, denn sie würden sonst gegen¬
über dem Ministerrat durch ihr schon abgegebnes Votum gebunden sein, und
die Verfassung würde damit verletzt werden. Aber auch nur als koordinierter
Beirat ist die Einrichtung des obersten Rates der Nationalverteidigung seiner
Zusammensetzung und seiner nähern Bestimmung nach von eminenter Bedeutung
für die Republik, und in dem ihm gesteckten Ziele, "alle seine Arbeiten und
Beratungen lediglich auf die Stärkung der Landesverteidigung zu richten",
können Aufgaben großen Stils in einer Weise gelöst werden, wie es bisher
ein Ding der Unmöglichkeit war. Denn nachdem durch das Gesetz vom
7. Juli 1900 sämtliche Marinetruppen dem Ressort des Kriegsministeriums
überwiesen worden waren, mußte insbesondre für den Fall einer schleunigen
Mobilmachung die überaus mißliche Lage eintreten, daß der Kriegsminister
allein über sämtliche Landstreitkräfte die Verfügung hatte, und der Marine¬
minister nur über die Flotte befehligen konnte, während die Sorge für die
Küstenverteidigung vollständig in der Luft schwebte, und sich niemand um die
notwendigsten Anordnungen kümmern wollte. Nicht minder bedenklich war es
unter den obwaltenden Verhältnissen für den Fall eines Krieges um die
Kolonien bestellt. Hier kreuzten und beengten sich drei Ressorts, da der
Kolonialminister allein verantwortlich für den Schutz der Kolonien war, der
Kriegsminister die dazu notwendigen Truppen bereitstellen sollte, und der
Marineminister die Transportschiffe herzugeben und für die Offenhaltung der
Seewege mit Hilfe der Kriegsflotte Sorge zu tragen hatte. Kurzum, die
vitalsten Interessen der Landesverteidigung, die vielen großen Fragen, die im
Ernstfall nur von einer Stelle aus ihre gedeihliche Lösung finden können,
lagen bis jetzt in der Hand von drei Ministerien, sodaß Abhilfe nur ein
zwingendes Gebot der Selbsterhaltung war. Wie das im einzelnen geschehen
soll, das sagen die Ausführungsbestimmungen zu dem neuen Gesetz, indem sie
zunächst aussprechen, daß es dem Ermessen (kaoullMveMöllt) der Minister des
Krieges, der Marine und der Kolonien überlassen sein soll, welche allgemeinen


Die oberste Heeresleitung in Frankreich

merkscunkeit auf die großen Aufgaben der Armee und ihrer Führer gerichtet sind.
Diese Einrichtung eines obersten Rates der Nationalverteidigung in Frankreich,
der erst jetzt durch die Bekanntgabe näherer Bestimmungen eine große Bedeutung
in vollem Umfange hat erkennen lassen, verdient auch bei uns beachtet und
kritisch beurteilt zu werden. Allein schon deshalb, weil an diese wichtige mili¬
tärische Neuorganisation vielerlei Kommentare geknüpft worden sind, die wir
nicht für zutreffend halten können.

In der Hauptsache ist gegenüber unrichtigen Auslegungen ein großes Ge¬
wicht darauf zu legen, daß der „oberste Rat" nicht etwa ein neu geschaffnes
oder gar selbständiges Machtmittel neben der höchsten Staatsgewalt ist. Viel¬
mehr soll die neue Körperschaft zunächst nur ein technischer Beirat (ecmssil
tsoliniaus) sein, dem gegenüber die Regierung wie bisher ihre volle Verant¬
wortlichkeit beibehält und entweder seinen Vorschlagen, die Zustimmung des
Parlaments vorausgesetzt, beipflichten oder sie ablehnen kann. Aus diesem
Grunde nehmen auch der Präsident der Republik und der Ministerpräsident,
die beide als Vorsitzender und als dessen Stellvertreter Mitglieder des „obersten
Rates" sind, niemals an einer Abstimmung teil, denn sie würden sonst gegen¬
über dem Ministerrat durch ihr schon abgegebnes Votum gebunden sein, und
die Verfassung würde damit verletzt werden. Aber auch nur als koordinierter
Beirat ist die Einrichtung des obersten Rates der Nationalverteidigung seiner
Zusammensetzung und seiner nähern Bestimmung nach von eminenter Bedeutung
für die Republik, und in dem ihm gesteckten Ziele, „alle seine Arbeiten und
Beratungen lediglich auf die Stärkung der Landesverteidigung zu richten",
können Aufgaben großen Stils in einer Weise gelöst werden, wie es bisher
ein Ding der Unmöglichkeit war. Denn nachdem durch das Gesetz vom
7. Juli 1900 sämtliche Marinetruppen dem Ressort des Kriegsministeriums
überwiesen worden waren, mußte insbesondre für den Fall einer schleunigen
Mobilmachung die überaus mißliche Lage eintreten, daß der Kriegsminister
allein über sämtliche Landstreitkräfte die Verfügung hatte, und der Marine¬
minister nur über die Flotte befehligen konnte, während die Sorge für die
Küstenverteidigung vollständig in der Luft schwebte, und sich niemand um die
notwendigsten Anordnungen kümmern wollte. Nicht minder bedenklich war es
unter den obwaltenden Verhältnissen für den Fall eines Krieges um die
Kolonien bestellt. Hier kreuzten und beengten sich drei Ressorts, da der
Kolonialminister allein verantwortlich für den Schutz der Kolonien war, der
Kriegsminister die dazu notwendigen Truppen bereitstellen sollte, und der
Marineminister die Transportschiffe herzugeben und für die Offenhaltung der
Seewege mit Hilfe der Kriegsflotte Sorge zu tragen hatte. Kurzum, die
vitalsten Interessen der Landesverteidigung, die vielen großen Fragen, die im
Ernstfall nur von einer Stelle aus ihre gedeihliche Lösung finden können,
lagen bis jetzt in der Hand von drei Ministerien, sodaß Abhilfe nur ein
zwingendes Gebot der Selbsterhaltung war. Wie das im einzelnen geschehen
soll, das sagen die Ausführungsbestimmungen zu dem neuen Gesetz, indem sie
zunächst aussprechen, daß es dem Ermessen (kaoullMveMöllt) der Minister des
Krieges, der Marine und der Kolonien überlassen sein soll, welche allgemeinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/576>, abgerufen am 24.07.2024.