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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

den Plaudereien des Bandes, auch denen, die sich biographisch -- Liszt, Offenbach,
Berlioz, Madame Miolau-Carvalho -- oder autobiographisch -- die nationale
Musikgesellschaft, Wagner und ich -- geben, ein ernster Zweck zugrunde: Se. Säens
will seine Landsleute davon überzeugen, daß die Musik nicht nur vou den Fach¬
leuten, sondern auch von den Konzertbesuchern und andern bloßen Nutznießern
gründlich studiert sein will. Daß das (französische) Publikum die Tonkunst viel zu
äußerlich und oberflächlich nimmt, ist der eine Gedanke, der in den Aufsätzen immer
wiederkehrt. Aber fast uoch mehr hält den Verfasser die Idee in Atem, daß der
französischen Musik in der gemeinsamen Arbeit der künstlerischen Völker eine ganz
besonders große und wichtige Mission zugefallen sei. Für die Vergangenheit hat
sie sie nach der Ansicht von Se. Säens im Musikdrama glänzend durchgeführt; die
Zukunft erweckt ihm Besorgnisse: "Jungfrankreich befindet sich in kläglicher Lage,
der Bayreuther Wind bläst es über den Haufen."

Die übrigen vorliegenden Bücher sind Biographien und biographische Beiträge.
Der Vortritt fällt hier Carola Belmonte zu, die sich in einem gut salonmäßig
ausgestatteten, 112 Seiten starken Bändchen mit den Frauen im Leben Mo¬
zarts beschäftigt. (Augsburg und Berlin, Verlagsbuchhandlung Gebrüder Reiche!.)
Gemeine sind: Mozarts Mutter, das Nannerl, die Kaiserin Maria Theresia, das
Baste, Aloysia (Weber), Konstanze, Josepha Duschek. Ein Schlußkapitel über
"Frauen der Kunst und des Adels" faßt den nicht unbedeutenden Rest der übrigen
Damen zusammen, mit deuen Mozart kürzer oder länger in künstlerische oder per¬
sönliche Beziehungen getreten ist. Daraus, daß einzelne der in diesen Anhang ver¬
wiesenen Personen -- nennen wir nur Josephine Aurnhammer -- für Mozart
wichtiger gewesen sind als die Kaiserin Maria Theresia oder das Baste, geht schon
hervor, daß die Verfasserin ihrem Stoff willkürlich oder ungenügend orientiert
gegenübersteht. Von der eingehenden Quellenforschung, die die Verlagshandlung
dem Werkchen nachrühmt, ist keine Rede. Die Nachricht, daß der kleine Mozart
einmal seiner Mutter aus einer Kindergesellschaft Rosinenkuchen mitgebracht habe,
ist die einzige Originalmitteilung Belmontes; alles andre findet sich besser bei Jahr
und in den Briefen. Die Verfasserin hat nicht einmal die Stellen bemerkt, wo sie
selbständig hätte eingreifen können. Das wäre unter andern in dem Kapitel "Nannerl"
sehr leicht mit eingehendem Mitteilungen über die von Mozart für die Schwester
komponierten Klavierstücke zu machen gewesen. Die Wiedergabe bekannter Tatsachen
läßt Nüchternheit und Schlichtheit vermissen, Belmonte stellt die Verhältnisse auf
den Kopf und sucht durch sentimentale, überflüssige und triviale Einschaltungen aus
Nichts ein Etwas zu machen. Eine bestimmte persönliche Auffassung tritt in ihrem
Urteil über Mozarts Frau zutage, der fast in jedem Kapitel einige harte Worte
gesagt werden. Die Berechtigung hierzu ist zweifelhaft. Hiernach können wir das
Buch nicht, wie die Verleger meinen, als eine wahre Bereicherung der Mozart¬
literatur ansehen, sondern müssen es im Gegenteil als ein die schriftstellernde Frauen¬
welt bloßstellendes Machwerk ablehnen.

Auch eine neue Biographie Beethovens, von Fritz Vollbach verfaßt, liegt
in der bekannten Sammlung Spahns "Weltgeschichte in Charakterbildern" vor.
(Mainz, Kirchheimsche Verlagsbuchhandlung.) Das vom Verfasser in einer frühern
Händelbiographie bewiesene Interesse für Kulturgeschichte mag wohl die Aufmerk¬
samkeit auf ihn gelenkt haben, und wie damals hat er auch jetzt Land und Leute,
in deren Mitte der abgehandelte Künstler auftritt, sehr hübsch anschaulich und mit
geschickter, fleißiger Beachtung der einschlagenden Literatur beschrieben. Der der
Sammlung zugrunde liegenden Idee jedoch, nach dem Muster Taines die großen
Individualitäten aus ihrer Zeit heraus zu konstruieren, zeigt sich der Verfasser nicht
gewachsen. Die Einleitung legt auch die Gründe dar, an denen der Versuch scheitern
mußte: sie ist mit Proben ästhetischer und geschichtlicher Konfusion reich gespickt.
Sobald der Verfasser sichern biographischen Boden unter sich und über Beethovensche
Werke zu sprechen hat, folgt man feiner gewandten und anmutigen Darstellung mit
Vergnügen. Nur erwarte man nicht, in die Tiefe geführt zu werden!


Maßgebliches und Unmaßgebliches

den Plaudereien des Bandes, auch denen, die sich biographisch — Liszt, Offenbach,
Berlioz, Madame Miolau-Carvalho — oder autobiographisch — die nationale
Musikgesellschaft, Wagner und ich — geben, ein ernster Zweck zugrunde: Se. Säens
will seine Landsleute davon überzeugen, daß die Musik nicht nur vou den Fach¬
leuten, sondern auch von den Konzertbesuchern und andern bloßen Nutznießern
gründlich studiert sein will. Daß das (französische) Publikum die Tonkunst viel zu
äußerlich und oberflächlich nimmt, ist der eine Gedanke, der in den Aufsätzen immer
wiederkehrt. Aber fast uoch mehr hält den Verfasser die Idee in Atem, daß der
französischen Musik in der gemeinsamen Arbeit der künstlerischen Völker eine ganz
besonders große und wichtige Mission zugefallen sei. Für die Vergangenheit hat
sie sie nach der Ansicht von Se. Säens im Musikdrama glänzend durchgeführt; die
Zukunft erweckt ihm Besorgnisse: „Jungfrankreich befindet sich in kläglicher Lage,
der Bayreuther Wind bläst es über den Haufen."

Die übrigen vorliegenden Bücher sind Biographien und biographische Beiträge.
Der Vortritt fällt hier Carola Belmonte zu, die sich in einem gut salonmäßig
ausgestatteten, 112 Seiten starken Bändchen mit den Frauen im Leben Mo¬
zarts beschäftigt. (Augsburg und Berlin, Verlagsbuchhandlung Gebrüder Reiche!.)
Gemeine sind: Mozarts Mutter, das Nannerl, die Kaiserin Maria Theresia, das
Baste, Aloysia (Weber), Konstanze, Josepha Duschek. Ein Schlußkapitel über
„Frauen der Kunst und des Adels" faßt den nicht unbedeutenden Rest der übrigen
Damen zusammen, mit deuen Mozart kürzer oder länger in künstlerische oder per¬
sönliche Beziehungen getreten ist. Daraus, daß einzelne der in diesen Anhang ver¬
wiesenen Personen — nennen wir nur Josephine Aurnhammer — für Mozart
wichtiger gewesen sind als die Kaiserin Maria Theresia oder das Baste, geht schon
hervor, daß die Verfasserin ihrem Stoff willkürlich oder ungenügend orientiert
gegenübersteht. Von der eingehenden Quellenforschung, die die Verlagshandlung
dem Werkchen nachrühmt, ist keine Rede. Die Nachricht, daß der kleine Mozart
einmal seiner Mutter aus einer Kindergesellschaft Rosinenkuchen mitgebracht habe,
ist die einzige Originalmitteilung Belmontes; alles andre findet sich besser bei Jahr
und in den Briefen. Die Verfasserin hat nicht einmal die Stellen bemerkt, wo sie
selbständig hätte eingreifen können. Das wäre unter andern in dem Kapitel „Nannerl"
sehr leicht mit eingehendem Mitteilungen über die von Mozart für die Schwester
komponierten Klavierstücke zu machen gewesen. Die Wiedergabe bekannter Tatsachen
läßt Nüchternheit und Schlichtheit vermissen, Belmonte stellt die Verhältnisse auf
den Kopf und sucht durch sentimentale, überflüssige und triviale Einschaltungen aus
Nichts ein Etwas zu machen. Eine bestimmte persönliche Auffassung tritt in ihrem
Urteil über Mozarts Frau zutage, der fast in jedem Kapitel einige harte Worte
gesagt werden. Die Berechtigung hierzu ist zweifelhaft. Hiernach können wir das
Buch nicht, wie die Verleger meinen, als eine wahre Bereicherung der Mozart¬
literatur ansehen, sondern müssen es im Gegenteil als ein die schriftstellernde Frauen¬
welt bloßstellendes Machwerk ablehnen.

Auch eine neue Biographie Beethovens, von Fritz Vollbach verfaßt, liegt
in der bekannten Sammlung Spahns „Weltgeschichte in Charakterbildern" vor.
(Mainz, Kirchheimsche Verlagsbuchhandlung.) Das vom Verfasser in einer frühern
Händelbiographie bewiesene Interesse für Kulturgeschichte mag wohl die Aufmerk¬
samkeit auf ihn gelenkt haben, und wie damals hat er auch jetzt Land und Leute,
in deren Mitte der abgehandelte Künstler auftritt, sehr hübsch anschaulich und mit
geschickter, fleißiger Beachtung der einschlagenden Literatur beschrieben. Der der
Sammlung zugrunde liegenden Idee jedoch, nach dem Muster Taines die großen
Individualitäten aus ihrer Zeit heraus zu konstruieren, zeigt sich der Verfasser nicht
gewachsen. Die Einleitung legt auch die Gründe dar, an denen der Versuch scheitern
mußte: sie ist mit Proben ästhetischer und geschichtlicher Konfusion reich gespickt.
Sobald der Verfasser sichern biographischen Boden unter sich und über Beethovensche
Werke zu sprechen hat, folgt man feiner gewandten und anmutigen Darstellung mit
Vergnügen. Nur erwarte man nicht, in die Tiefe geführt zu werden!


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[0570] Maßgebliches und Unmaßgebliches den Plaudereien des Bandes, auch denen, die sich biographisch — Liszt, Offenbach, Berlioz, Madame Miolau-Carvalho — oder autobiographisch — die nationale Musikgesellschaft, Wagner und ich — geben, ein ernster Zweck zugrunde: Se. Säens will seine Landsleute davon überzeugen, daß die Musik nicht nur vou den Fach¬ leuten, sondern auch von den Konzertbesuchern und andern bloßen Nutznießern gründlich studiert sein will. Daß das (französische) Publikum die Tonkunst viel zu äußerlich und oberflächlich nimmt, ist der eine Gedanke, der in den Aufsätzen immer wiederkehrt. Aber fast uoch mehr hält den Verfasser die Idee in Atem, daß der französischen Musik in der gemeinsamen Arbeit der künstlerischen Völker eine ganz besonders große und wichtige Mission zugefallen sei. Für die Vergangenheit hat sie sie nach der Ansicht von Se. Säens im Musikdrama glänzend durchgeführt; die Zukunft erweckt ihm Besorgnisse: „Jungfrankreich befindet sich in kläglicher Lage, der Bayreuther Wind bläst es über den Haufen." Die übrigen vorliegenden Bücher sind Biographien und biographische Beiträge. Der Vortritt fällt hier Carola Belmonte zu, die sich in einem gut salonmäßig ausgestatteten, 112 Seiten starken Bändchen mit den Frauen im Leben Mo¬ zarts beschäftigt. (Augsburg und Berlin, Verlagsbuchhandlung Gebrüder Reiche!.) Gemeine sind: Mozarts Mutter, das Nannerl, die Kaiserin Maria Theresia, das Baste, Aloysia (Weber), Konstanze, Josepha Duschek. Ein Schlußkapitel über „Frauen der Kunst und des Adels" faßt den nicht unbedeutenden Rest der übrigen Damen zusammen, mit deuen Mozart kürzer oder länger in künstlerische oder per¬ sönliche Beziehungen getreten ist. Daraus, daß einzelne der in diesen Anhang ver¬ wiesenen Personen — nennen wir nur Josephine Aurnhammer — für Mozart wichtiger gewesen sind als die Kaiserin Maria Theresia oder das Baste, geht schon hervor, daß die Verfasserin ihrem Stoff willkürlich oder ungenügend orientiert gegenübersteht. Von der eingehenden Quellenforschung, die die Verlagshandlung dem Werkchen nachrühmt, ist keine Rede. Die Nachricht, daß der kleine Mozart einmal seiner Mutter aus einer Kindergesellschaft Rosinenkuchen mitgebracht habe, ist die einzige Originalmitteilung Belmontes; alles andre findet sich besser bei Jahr und in den Briefen. Die Verfasserin hat nicht einmal die Stellen bemerkt, wo sie selbständig hätte eingreifen können. Das wäre unter andern in dem Kapitel „Nannerl" sehr leicht mit eingehendem Mitteilungen über die von Mozart für die Schwester komponierten Klavierstücke zu machen gewesen. Die Wiedergabe bekannter Tatsachen läßt Nüchternheit und Schlichtheit vermissen, Belmonte stellt die Verhältnisse auf den Kopf und sucht durch sentimentale, überflüssige und triviale Einschaltungen aus Nichts ein Etwas zu machen. Eine bestimmte persönliche Auffassung tritt in ihrem Urteil über Mozarts Frau zutage, der fast in jedem Kapitel einige harte Worte gesagt werden. Die Berechtigung hierzu ist zweifelhaft. Hiernach können wir das Buch nicht, wie die Verleger meinen, als eine wahre Bereicherung der Mozart¬ literatur ansehen, sondern müssen es im Gegenteil als ein die schriftstellernde Frauen¬ welt bloßstellendes Machwerk ablehnen. Auch eine neue Biographie Beethovens, von Fritz Vollbach verfaßt, liegt in der bekannten Sammlung Spahns „Weltgeschichte in Charakterbildern" vor. (Mainz, Kirchheimsche Verlagsbuchhandlung.) Das vom Verfasser in einer frühern Händelbiographie bewiesene Interesse für Kulturgeschichte mag wohl die Aufmerk¬ samkeit auf ihn gelenkt haben, und wie damals hat er auch jetzt Land und Leute, in deren Mitte der abgehandelte Künstler auftritt, sehr hübsch anschaulich und mit geschickter, fleißiger Beachtung der einschlagenden Literatur beschrieben. Der der Sammlung zugrunde liegenden Idee jedoch, nach dem Muster Taines die großen Individualitäten aus ihrer Zeit heraus zu konstruieren, zeigt sich der Verfasser nicht gewachsen. Die Einleitung legt auch die Gründe dar, an denen der Versuch scheitern mußte: sie ist mit Proben ästhetischer und geschichtlicher Konfusion reich gespickt. Sobald der Verfasser sichern biographischen Boden unter sich und über Beethovensche Werke zu sprechen hat, folgt man feiner gewandten und anmutigen Darstellung mit Vergnügen. Nur erwarte man nicht, in die Tiefe geführt zu werden!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/570>, abgerufen am 27.12.2024.