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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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lNenschenfrühling

saubern Stube; vor dem Fenster dufteten sorgsam gepflegte Rosen, Nelken und
Pelargonien. Um 8 Uhr früh wurde der Anker des kleinen Fischerbootes
hochgezogen, das ich gemietet hatte; es war das einzige am Strande gewesen.
Zuerst kamen wir kaum von der Stelle; dann begann ein prächtiger Nordwest
mit steigender Stärke zu wehen; die Formen von Jmbros wurden rasch schärfer,
und um 2 Uhr Mittags knirschte unser Kiel auf dem weißen Strande des
kleinen Landeplatzes Pyrgos.




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von (Schluß)
17

in warmen Bett dehnte Anneli die Glieder, schloß krampfhaft die
Augen und versuchte nachzudenken. War sie tot, oder war es das
Leben, das warm durch ihre Adern floß, das sie jetzt auf den Sturm
horchen ließ, auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug?

Träumend drückte sie deu Kopf in das Kissen und dachte der
grauen Schwäne, die nicht mehr übers Eis fliegen konnten, als eine
kunde Stimme im Nebenzimmer erklang.

Ist sie noch immer nicht wach?

Doch, doch! rief Anneli, und Fred trat zu ihr ein.

Er warf seine Schulbücher auf einen Stuhl und beugte sich dann über sie.

So etwas darfst du niemals wieder tun! sagte er streng. Dort hinten, wo
die grauen Wildschwäne sind, friert das Wasser niemals ganz zu, und heimlich
gekaut hatte es seit zwei Tagen. Du kannst noch von Glück sagen, Anneli!

Das konnte sie sicherlich. Als Fred wieder das Zimmer verlassen hatte, als
mir der Regen Geräusch machte, und hinten in der Ferne ein Hahn krähte, schloß
Anneli von neuem die Augen. Aber die Gedanken ordneten sich vernünftig, und als
nachher Frau Roland in das Zimmer kam, um ihr eine warme Suppe zu bringen,
da wurde es der kleinen Patientin sehr bald klar, daß Fred sie aus dem Wasser
gezogen und mit Hilfe des Pastorenjungen zu seiner Mutter gebracht hatte.

Für ihn war dies das Selbstverständliche gewesen, und Schwester Lene, bei
der an demselben Tage ein ErtWnngsfieber ausgebrochen war, hatte sich nachher
wie allem einverstanden erklärt. Sie war schon bei Frau Roland gewesen, hatte
bitterlich über Anneli und ihre Wildheit geklagt und dringend gebeten, das Kind
vorläufig zu behalten.

Anneli erfuhr dies alles. Zwei Tage hatte sie in halber Bewußtlosigkeit im
Bett gelegen, nun kam ihre Lebenskraft wieder, und Fred berichtete ihr, was ihm
einfiel. Er war natürlich stolz darauf, einen lebendigen Menschen aus dem Wasser
gezogen zu haben, und Frau Roland mußte manchmal den Kopf leise schütteln,
wenn er Abends am Tisch saß, seine Arbeit machen sollte, dazwischen aber lebhaft
erzählte. Schwester Lene konnte er täuschend nachahmen und auch Slina Böte-
führ mit ihrer drolligen Sprache. Aber er übertrieb auch dabei und stellte sich
recht wichtig hin. Anneli mußte ihn doch bewundern, wenn ihr Herz ihr auch
etwas weh tat. Es war behaglich, hier in Frau Rolands Zimmer, in ihrem weichen
großen Lehnstuhl zu sitze" und auf Freds Stimme zu hören, aber wiederum war es
bitter, keine Heimat zu haben und von einem Haus ins andre gehn zu müssen.


lNenschenfrühling

saubern Stube; vor dem Fenster dufteten sorgsam gepflegte Rosen, Nelken und
Pelargonien. Um 8 Uhr früh wurde der Anker des kleinen Fischerbootes
hochgezogen, das ich gemietet hatte; es war das einzige am Strande gewesen.
Zuerst kamen wir kaum von der Stelle; dann begann ein prächtiger Nordwest
mit steigender Stärke zu wehen; die Formen von Jmbros wurden rasch schärfer,
und um 2 Uhr Mittags knirschte unser Kiel auf dem weißen Strande des
kleinen Landeplatzes Pyrgos.




Menschenfrühling
Lharlotte Niese von (Schluß)
17

in warmen Bett dehnte Anneli die Glieder, schloß krampfhaft die
Augen und versuchte nachzudenken. War sie tot, oder war es das
Leben, das warm durch ihre Adern floß, das sie jetzt auf den Sturm
horchen ließ, auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug?

Träumend drückte sie deu Kopf in das Kissen und dachte der
grauen Schwäne, die nicht mehr übers Eis fliegen konnten, als eine
kunde Stimme im Nebenzimmer erklang.

Ist sie noch immer nicht wach?

Doch, doch! rief Anneli, und Fred trat zu ihr ein.

Er warf seine Schulbücher auf einen Stuhl und beugte sich dann über sie.

So etwas darfst du niemals wieder tun! sagte er streng. Dort hinten, wo
die grauen Wildschwäne sind, friert das Wasser niemals ganz zu, und heimlich
gekaut hatte es seit zwei Tagen. Du kannst noch von Glück sagen, Anneli!

Das konnte sie sicherlich. Als Fred wieder das Zimmer verlassen hatte, als
mir der Regen Geräusch machte, und hinten in der Ferne ein Hahn krähte, schloß
Anneli von neuem die Augen. Aber die Gedanken ordneten sich vernünftig, und als
nachher Frau Roland in das Zimmer kam, um ihr eine warme Suppe zu bringen,
da wurde es der kleinen Patientin sehr bald klar, daß Fred sie aus dem Wasser
gezogen und mit Hilfe des Pastorenjungen zu seiner Mutter gebracht hatte.

Für ihn war dies das Selbstverständliche gewesen, und Schwester Lene, bei
der an demselben Tage ein ErtWnngsfieber ausgebrochen war, hatte sich nachher
wie allem einverstanden erklärt. Sie war schon bei Frau Roland gewesen, hatte
bitterlich über Anneli und ihre Wildheit geklagt und dringend gebeten, das Kind
vorläufig zu behalten.

Anneli erfuhr dies alles. Zwei Tage hatte sie in halber Bewußtlosigkeit im
Bett gelegen, nun kam ihre Lebenskraft wieder, und Fred berichtete ihr, was ihm
einfiel. Er war natürlich stolz darauf, einen lebendigen Menschen aus dem Wasser
gezogen zu haben, und Frau Roland mußte manchmal den Kopf leise schütteln,
wenn er Abends am Tisch saß, seine Arbeit machen sollte, dazwischen aber lebhaft
erzählte. Schwester Lene konnte er täuschend nachahmen und auch Slina Böte-
führ mit ihrer drolligen Sprache. Aber er übertrieb auch dabei und stellte sich
recht wichtig hin. Anneli mußte ihn doch bewundern, wenn ihr Herz ihr auch
etwas weh tat. Es war behaglich, hier in Frau Rolands Zimmer, in ihrem weichen
großen Lehnstuhl zu sitze» und auf Freds Stimme zu hören, aber wiederum war es
bitter, keine Heimat zu haben und von einem Haus ins andre gehn zu müssen.


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[0555] lNenschenfrühling saubern Stube; vor dem Fenster dufteten sorgsam gepflegte Rosen, Nelken und Pelargonien. Um 8 Uhr früh wurde der Anker des kleinen Fischerbootes hochgezogen, das ich gemietet hatte; es war das einzige am Strande gewesen. Zuerst kamen wir kaum von der Stelle; dann begann ein prächtiger Nordwest mit steigender Stärke zu wehen; die Formen von Jmbros wurden rasch schärfer, und um 2 Uhr Mittags knirschte unser Kiel auf dem weißen Strande des kleinen Landeplatzes Pyrgos. Menschenfrühling Lharlotte Niese von (Schluß) 17 in warmen Bett dehnte Anneli die Glieder, schloß krampfhaft die Augen und versuchte nachzudenken. War sie tot, oder war es das Leben, das warm durch ihre Adern floß, das sie jetzt auf den Sturm horchen ließ, auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug? Träumend drückte sie deu Kopf in das Kissen und dachte der grauen Schwäne, die nicht mehr übers Eis fliegen konnten, als eine kunde Stimme im Nebenzimmer erklang. Ist sie noch immer nicht wach? Doch, doch! rief Anneli, und Fred trat zu ihr ein. Er warf seine Schulbücher auf einen Stuhl und beugte sich dann über sie. So etwas darfst du niemals wieder tun! sagte er streng. Dort hinten, wo die grauen Wildschwäne sind, friert das Wasser niemals ganz zu, und heimlich gekaut hatte es seit zwei Tagen. Du kannst noch von Glück sagen, Anneli! Das konnte sie sicherlich. Als Fred wieder das Zimmer verlassen hatte, als mir der Regen Geräusch machte, und hinten in der Ferne ein Hahn krähte, schloß Anneli von neuem die Augen. Aber die Gedanken ordneten sich vernünftig, und als nachher Frau Roland in das Zimmer kam, um ihr eine warme Suppe zu bringen, da wurde es der kleinen Patientin sehr bald klar, daß Fred sie aus dem Wasser gezogen und mit Hilfe des Pastorenjungen zu seiner Mutter gebracht hatte. Für ihn war dies das Selbstverständliche gewesen, und Schwester Lene, bei der an demselben Tage ein ErtWnngsfieber ausgebrochen war, hatte sich nachher wie allem einverstanden erklärt. Sie war schon bei Frau Roland gewesen, hatte bitterlich über Anneli und ihre Wildheit geklagt und dringend gebeten, das Kind vorläufig zu behalten. Anneli erfuhr dies alles. Zwei Tage hatte sie in halber Bewußtlosigkeit im Bett gelegen, nun kam ihre Lebenskraft wieder, und Fred berichtete ihr, was ihm einfiel. Er war natürlich stolz darauf, einen lebendigen Menschen aus dem Wasser gezogen zu haben, und Frau Roland mußte manchmal den Kopf leise schütteln, wenn er Abends am Tisch saß, seine Arbeit machen sollte, dazwischen aber lebhaft erzählte. Schwester Lene konnte er täuschend nachahmen und auch Slina Böte- führ mit ihrer drolligen Sprache. Aber er übertrieb auch dabei und stellte sich recht wichtig hin. Anneli mußte ihn doch bewundern, wenn ihr Herz ihr auch etwas weh tat. Es war behaglich, hier in Frau Rolands Zimmer, in ihrem weichen großen Lehnstuhl zu sitze» und auf Freds Stimme zu hören, aber wiederum war es bitter, keine Heimat zu haben und von einem Haus ins andre gehn zu müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/555>, abgerufen am 27.12.2024.