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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Goethe, Aare und Lhamberlain

scheinen, werden die Versuche, die Schriftsprache der galizischen Ruthenen auch
auf russischem Boden einzubürgern oder der kleinrussischen Poesie den alten
Glanz und den Verlornen Einfluß auf die Gemüter zurückzugeben, über die rein
ideale Bedeutung der deutschen Dialektliteratur und der provenzalischen Felibres
schwerlich hinausgelangen. Eine kleinrussische Frage würde erst entstehn, so¬
bald die Zerbrvcklung in nationale Jnteresscnzonen in Nußland einmal ähn¬
liche Dimensionen annehmen sollte wie heute im Westleithanischen Österreich.
Dann würden die Kleinrussen sofort in einen Zwcifrontenkampf gegen das Groß-
russentum im Nordosten und das Polentum im Nordwesten eintreten. Es ist
gut, daß hinter unsern östlichen Nachbarn auch Leute wohnen und nicht völkerver¬
bindende Wogen rollen wie hinter den Franzosen und den Engländern. Verfallen
die Russen wieder einmal in ihre alten Tücken und Ränke, dann genügt es wohl,
ihnen ihre Erfahrungen mit den "Gelben" Ostasiens ins Gedächtnis zurückzu¬
rufen, und erlangen die Polen Rußlands einmal Autonomie und volle Freiheit
zu großpolnischen Agitationen, so werden sie sich zwischen Deutschen und Klein¬
russen doch keineswegs in beneidenswerter Lage befinden. Es ist dafür gesorgt,
daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen!

In den Gouvernements Bessarabien, Podolien, Chersson und Jckaterinoslaw
leben anch Rumänen in der Stärke von etwa einer Million, die aber wohl zu
wenig zahlreich und zu stark mit Kleinrussen, Juden usw. durchsetzt sind, als
daß sie in diesen Gebieten jemals ein ähnliches politisches Gewicht erlangen
könnten wie ihre Stammesgenossen im östlichen Ungarn. Wie bunt zusammen¬
gewürfelt übrigens die Bevölkerung des südlichen Rußlands ist, und wie wenig
anziehende und anschmelzende Kraft die russische Nation dort entwickelt hat, wird
grell durch die merkwürdige Tatsache illustriert, daß es im Gouvernement Cherson
mehrere hundert Schweden gibt, Nachkommen der bei Poltawa gefangnen Krieger
Karls des Zwölften, die, obwohl sie sich mit russischen Frauen vermählten und
mit ihren Nachbarn Russisch sprachen, doch ihre häusliche Sprache auf eine ganze
Neihe späterer Geschlechter zu vererben wußten.

(Schluß folgt)




Goethe, Kant und (Lhamberlain
2

o weit und tief die Kluft zwischen Goethe und Kant sein mochte.
Goethe fand doch eine Brücke zu Kant hinüber. Wir lassen ihn
selbst erzählen.

Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen,
sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch
manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken,
daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außen¬
welt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und
wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit un-


Goethe, Aare und Lhamberlain

scheinen, werden die Versuche, die Schriftsprache der galizischen Ruthenen auch
auf russischem Boden einzubürgern oder der kleinrussischen Poesie den alten
Glanz und den Verlornen Einfluß auf die Gemüter zurückzugeben, über die rein
ideale Bedeutung der deutschen Dialektliteratur und der provenzalischen Felibres
schwerlich hinausgelangen. Eine kleinrussische Frage würde erst entstehn, so¬
bald die Zerbrvcklung in nationale Jnteresscnzonen in Nußland einmal ähn¬
liche Dimensionen annehmen sollte wie heute im Westleithanischen Österreich.
Dann würden die Kleinrussen sofort in einen Zwcifrontenkampf gegen das Groß-
russentum im Nordosten und das Polentum im Nordwesten eintreten. Es ist
gut, daß hinter unsern östlichen Nachbarn auch Leute wohnen und nicht völkerver¬
bindende Wogen rollen wie hinter den Franzosen und den Engländern. Verfallen
die Russen wieder einmal in ihre alten Tücken und Ränke, dann genügt es wohl,
ihnen ihre Erfahrungen mit den „Gelben" Ostasiens ins Gedächtnis zurückzu¬
rufen, und erlangen die Polen Rußlands einmal Autonomie und volle Freiheit
zu großpolnischen Agitationen, so werden sie sich zwischen Deutschen und Klein¬
russen doch keineswegs in beneidenswerter Lage befinden. Es ist dafür gesorgt,
daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen!

In den Gouvernements Bessarabien, Podolien, Chersson und Jckaterinoslaw
leben anch Rumänen in der Stärke von etwa einer Million, die aber wohl zu
wenig zahlreich und zu stark mit Kleinrussen, Juden usw. durchsetzt sind, als
daß sie in diesen Gebieten jemals ein ähnliches politisches Gewicht erlangen
könnten wie ihre Stammesgenossen im östlichen Ungarn. Wie bunt zusammen¬
gewürfelt übrigens die Bevölkerung des südlichen Rußlands ist, und wie wenig
anziehende und anschmelzende Kraft die russische Nation dort entwickelt hat, wird
grell durch die merkwürdige Tatsache illustriert, daß es im Gouvernement Cherson
mehrere hundert Schweden gibt, Nachkommen der bei Poltawa gefangnen Krieger
Karls des Zwölften, die, obwohl sie sich mit russischen Frauen vermählten und
mit ihren Nachbarn Russisch sprachen, doch ihre häusliche Sprache auf eine ganze
Neihe späterer Geschlechter zu vererben wußten.

(Schluß folgt)




Goethe, Kant und (Lhamberlain
2

o weit und tief die Kluft zwischen Goethe und Kant sein mochte.
Goethe fand doch eine Brücke zu Kant hinüber. Wir lassen ihn
selbst erzählen.

Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen,
sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch
manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken,
daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außen¬
welt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und
wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit un-


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[0527] Goethe, Aare und Lhamberlain scheinen, werden die Versuche, die Schriftsprache der galizischen Ruthenen auch auf russischem Boden einzubürgern oder der kleinrussischen Poesie den alten Glanz und den Verlornen Einfluß auf die Gemüter zurückzugeben, über die rein ideale Bedeutung der deutschen Dialektliteratur und der provenzalischen Felibres schwerlich hinausgelangen. Eine kleinrussische Frage würde erst entstehn, so¬ bald die Zerbrvcklung in nationale Jnteresscnzonen in Nußland einmal ähn¬ liche Dimensionen annehmen sollte wie heute im Westleithanischen Österreich. Dann würden die Kleinrussen sofort in einen Zwcifrontenkampf gegen das Groß- russentum im Nordosten und das Polentum im Nordwesten eintreten. Es ist gut, daß hinter unsern östlichen Nachbarn auch Leute wohnen und nicht völkerver¬ bindende Wogen rollen wie hinter den Franzosen und den Engländern. Verfallen die Russen wieder einmal in ihre alten Tücken und Ränke, dann genügt es wohl, ihnen ihre Erfahrungen mit den „Gelben" Ostasiens ins Gedächtnis zurückzu¬ rufen, und erlangen die Polen Rußlands einmal Autonomie und volle Freiheit zu großpolnischen Agitationen, so werden sie sich zwischen Deutschen und Klein¬ russen doch keineswegs in beneidenswerter Lage befinden. Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen! In den Gouvernements Bessarabien, Podolien, Chersson und Jckaterinoslaw leben anch Rumänen in der Stärke von etwa einer Million, die aber wohl zu wenig zahlreich und zu stark mit Kleinrussen, Juden usw. durchsetzt sind, als daß sie in diesen Gebieten jemals ein ähnliches politisches Gewicht erlangen könnten wie ihre Stammesgenossen im östlichen Ungarn. Wie bunt zusammen¬ gewürfelt übrigens die Bevölkerung des südlichen Rußlands ist, und wie wenig anziehende und anschmelzende Kraft die russische Nation dort entwickelt hat, wird grell durch die merkwürdige Tatsache illustriert, daß es im Gouvernement Cherson mehrere hundert Schweden gibt, Nachkommen der bei Poltawa gefangnen Krieger Karls des Zwölften, die, obwohl sie sich mit russischen Frauen vermählten und mit ihren Nachbarn Russisch sprachen, doch ihre häusliche Sprache auf eine ganze Neihe späterer Geschlechter zu vererben wußten. (Schluß folgt) Goethe, Kant und (Lhamberlain 2 o weit und tief die Kluft zwischen Goethe und Kant sein mochte. Goethe fand doch eine Brücke zu Kant hinüber. Wir lassen ihn selbst erzählen. Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen, sie lag aber völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außen¬ welt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/527>, abgerufen am 24.07.2024.