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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Nationale Fragen im westlichen Rußland

Daß die ruhige finanzielle Entwicklung des Landes ganz besonders ge¬
fördert wird durch die energische, durchaus uneigennützige und zielbewußte
Regierung, geht aus dem gesagten hervor. Präsident, Kongreß und Ministerium
arbeiten sich Hand in Hand. Während das Ministerium in andern süd¬
amerikanischen Ländern häufig den Parteileidenschaften und dem Ehrgeiz Einzelner
weichen muß, besteht das augenblickliche Ministerium in Bolivien schon seit
zwei Jahren, also seit dem Regierungsantritte des Präsidenten Montes.




Nationale Fragen im westlichen Rußland
Eberhard Kraus von

5s>in wesentlicher Vorzug der antiken Welt war, daß sie wohl
nationale Schöpfungen, aber nicht nationale Fragen kannte, daß
große geistige Vermögensanhäufungen wie die hellenische, die
römische Kultur auch von anderssprachigen Völkern in ihrem
"vollen Wert erkannt und unvermindert erhalten wurden. Die
römischen Eroberer verbreiteten ihre Art und Sprache über die unterworfnen
Barbarenstämme des Westens, keineswegs aber über die hellenistischen Bildungs¬
zentren des Ostens, ja die rauhen Sieger ließen sich selber willig mit dem
Firnis griechischer Gesittung überziehen, und der echtere Glanz der oströmischen
Reichshälfte überdauerte schließlich den der weströmischen. In Zeiten, die uns
Heutigen als blutig und greuelvoll erscheinen, neigte sich alles willig vor der
ältern und überlegnen Geistesmacht. Die germanischen Stämme, die von jeher
leider ein recht schwach entwickeltes Selbstgefühl und eine übertriebne Vorliebe
für das Fremde an den Tag legten, folgten, als sie sich in den Anfängen ihrer
Kultur römischen Einflüssen und Überlieferungen unterordneten, im Grunde mich
dem angebornen Gefühl der Ehrfurcht und der Bewundrung, das lernende
Völker ihren Lehrmeistern entgegenbringen, solange in ihnen noch kein bewußter
Widerspruch gegen die fremdartigen Anschauungen und Gedankengänge laut ge¬
worden ist. Genau denselben Erscheinungen begegnen wir bei den rückständigen
Völkern des Mittelalters. Da die Deutschen damals nicht bloß die höhere
Kultur, sondern auch die stärkere Arbeitsdisziplin und die strotzendere Kraft
hatten, so wäre es einer zielbewußter Politik wohl nicht schwer gefallen, ganz
Böhmen, Ungarn, Polen und Litauen zu germanisieren und während der
Mongolenherrschaft die deutschen Einflüsse auch auf große Teile der russischen
Welt auszudehnen. Die durch Ottos des Zweiten Sorglosigkeit verschuldete
Niederlage bei Cotroue stärkte alle Widersacher des Reiches und brachte deshalb
auch die unter seinen Vorgängern so aussichtsvoll begonnene Ausdehnung nach
dem Osten zum erstenmal zum völligen Stocken. Es mußte geduldet werden,


Nationale Fragen im westlichen Rußland

Daß die ruhige finanzielle Entwicklung des Landes ganz besonders ge¬
fördert wird durch die energische, durchaus uneigennützige und zielbewußte
Regierung, geht aus dem gesagten hervor. Präsident, Kongreß und Ministerium
arbeiten sich Hand in Hand. Während das Ministerium in andern süd¬
amerikanischen Ländern häufig den Parteileidenschaften und dem Ehrgeiz Einzelner
weichen muß, besteht das augenblickliche Ministerium in Bolivien schon seit
zwei Jahren, also seit dem Regierungsantritte des Präsidenten Montes.




Nationale Fragen im westlichen Rußland
Eberhard Kraus von

5s>in wesentlicher Vorzug der antiken Welt war, daß sie wohl
nationale Schöpfungen, aber nicht nationale Fragen kannte, daß
große geistige Vermögensanhäufungen wie die hellenische, die
römische Kultur auch von anderssprachigen Völkern in ihrem
«vollen Wert erkannt und unvermindert erhalten wurden. Die
römischen Eroberer verbreiteten ihre Art und Sprache über die unterworfnen
Barbarenstämme des Westens, keineswegs aber über die hellenistischen Bildungs¬
zentren des Ostens, ja die rauhen Sieger ließen sich selber willig mit dem
Firnis griechischer Gesittung überziehen, und der echtere Glanz der oströmischen
Reichshälfte überdauerte schließlich den der weströmischen. In Zeiten, die uns
Heutigen als blutig und greuelvoll erscheinen, neigte sich alles willig vor der
ältern und überlegnen Geistesmacht. Die germanischen Stämme, die von jeher
leider ein recht schwach entwickeltes Selbstgefühl und eine übertriebne Vorliebe
für das Fremde an den Tag legten, folgten, als sie sich in den Anfängen ihrer
Kultur römischen Einflüssen und Überlieferungen unterordneten, im Grunde mich
dem angebornen Gefühl der Ehrfurcht und der Bewundrung, das lernende
Völker ihren Lehrmeistern entgegenbringen, solange in ihnen noch kein bewußter
Widerspruch gegen die fremdartigen Anschauungen und Gedankengänge laut ge¬
worden ist. Genau denselben Erscheinungen begegnen wir bei den rückständigen
Völkern des Mittelalters. Da die Deutschen damals nicht bloß die höhere
Kultur, sondern auch die stärkere Arbeitsdisziplin und die strotzendere Kraft
hatten, so wäre es einer zielbewußter Politik wohl nicht schwer gefallen, ganz
Böhmen, Ungarn, Polen und Litauen zu germanisieren und während der
Mongolenherrschaft die deutschen Einflüsse auch auf große Teile der russischen
Welt auszudehnen. Die durch Ottos des Zweiten Sorglosigkeit verschuldete
Niederlage bei Cotroue stärkte alle Widersacher des Reiches und brachte deshalb
auch die unter seinen Vorgängern so aussichtsvoll begonnene Ausdehnung nach
dem Osten zum erstenmal zum völligen Stocken. Es mußte geduldet werden,


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[0520] Nationale Fragen im westlichen Rußland Daß die ruhige finanzielle Entwicklung des Landes ganz besonders ge¬ fördert wird durch die energische, durchaus uneigennützige und zielbewußte Regierung, geht aus dem gesagten hervor. Präsident, Kongreß und Ministerium arbeiten sich Hand in Hand. Während das Ministerium in andern süd¬ amerikanischen Ländern häufig den Parteileidenschaften und dem Ehrgeiz Einzelner weichen muß, besteht das augenblickliche Ministerium in Bolivien schon seit zwei Jahren, also seit dem Regierungsantritte des Präsidenten Montes. Nationale Fragen im westlichen Rußland Eberhard Kraus von 5s>in wesentlicher Vorzug der antiken Welt war, daß sie wohl nationale Schöpfungen, aber nicht nationale Fragen kannte, daß große geistige Vermögensanhäufungen wie die hellenische, die römische Kultur auch von anderssprachigen Völkern in ihrem «vollen Wert erkannt und unvermindert erhalten wurden. Die römischen Eroberer verbreiteten ihre Art und Sprache über die unterworfnen Barbarenstämme des Westens, keineswegs aber über die hellenistischen Bildungs¬ zentren des Ostens, ja die rauhen Sieger ließen sich selber willig mit dem Firnis griechischer Gesittung überziehen, und der echtere Glanz der oströmischen Reichshälfte überdauerte schließlich den der weströmischen. In Zeiten, die uns Heutigen als blutig und greuelvoll erscheinen, neigte sich alles willig vor der ältern und überlegnen Geistesmacht. Die germanischen Stämme, die von jeher leider ein recht schwach entwickeltes Selbstgefühl und eine übertriebne Vorliebe für das Fremde an den Tag legten, folgten, als sie sich in den Anfängen ihrer Kultur römischen Einflüssen und Überlieferungen unterordneten, im Grunde mich dem angebornen Gefühl der Ehrfurcht und der Bewundrung, das lernende Völker ihren Lehrmeistern entgegenbringen, solange in ihnen noch kein bewußter Widerspruch gegen die fremdartigen Anschauungen und Gedankengänge laut ge¬ worden ist. Genau denselben Erscheinungen begegnen wir bei den rückständigen Völkern des Mittelalters. Da die Deutschen damals nicht bloß die höhere Kultur, sondern auch die stärkere Arbeitsdisziplin und die strotzendere Kraft hatten, so wäre es einer zielbewußter Politik wohl nicht schwer gefallen, ganz Böhmen, Ungarn, Polen und Litauen zu germanisieren und während der Mongolenherrschaft die deutschen Einflüsse auch auf große Teile der russischen Welt auszudehnen. Die durch Ottos des Zweiten Sorglosigkeit verschuldete Niederlage bei Cotroue stärkte alle Widersacher des Reiches und brachte deshalb auch die unter seinen Vorgängern so aussichtsvoll begonnene Ausdehnung nach dem Osten zum erstenmal zum völligen Stocken. Es mußte geduldet werden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/520>, abgerufen am 27.12.2024.