Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Erlaß des Kaisers an den Reichskanzler, worin der Monarch nächst seiner Während nun der Kaiser "dem staatsmännischen Geschick und der aufopfernden Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Erlaß des Kaisers an den Reichskanzler, worin der Monarch nächst seiner Während nun der Kaiser „dem staatsmännischen Geschick und der aufopfernden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299556"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2311"> Der Erlaß des Kaisers an den Reichskanzler, worin der Monarch nächst seiner<lb/> Anerkennung für die Durchsetzung der Reichsfinanzreform auch seiner hohen Genug¬<lb/> tuung über die Genesung des Kanzlers Ausdruck verleiht, hat in der Presse ziemlich<lb/> allgemein eine weitergehende Auslegung dahin erfahren, daß der Kaiser offenbar<lb/> den Wunsch gehabt habe, „dem Gewispel und Geraume", das an manchen Stellen<lb/> immer noch nicht verstummen wollte, ein Ende zu machen und — wie der Han¬<lb/> növersche Courier es ausdrückt — „sich von der denkbar sichtbarsten Plattform zu<lb/> seinem ersten und verantwortlichen Ratgeber zu bekennen". Was das Hannöversche<lb/> Blatt noch hinzufügt, ist ebenfalls ein Reflex der Anschauungen weiter Kreise: das<lb/> Kaiserliche Handschreiben werde diesen Zweck unzweifelhaft erfüllen, und gern werde<lb/> man aus ihm entnehmen, daß an ein Revirement in der Spitze der Reichsgeschäfte<lb/> nicht gedacht wird. „Daß unter den obwaltenden Umständen, und wie die Dinge<lb/> sich nun einmal im Reiche und in Preußen gestaltet haben, eine Kauzlerschaft Bülow<lb/> immer noch die beste Kanzlerschaft ist, gehört nachgerade wohl zu den Dingen, über die<lb/> alle Welt einig ist." Der Hannöversche Courier nähert sich damit dem seit längerer<lb/> Zeit mehrfach auch von den Grenzboten vertretnen Standpunkt. Es war allerdings eine<lb/> auffällige Erscheinung, daß „das Gewispel und Geraume" gerade in hohen amtlichen<lb/> Stellen — nicht, wie fälschlich behauptet worden ist, bei der Umgebung des Reichs¬<lb/> kanzlers — seine Stätte hatte. Mitglieder des diplomatischen Korps haben in dieser<lb/> Beziehung recht seltsame Eindrücke gewonnen, und der Courier sagt nicht zuviel, wenn<lb/> er offen ausspricht, daß zumal in den ersten drei bangen Wochen von manchen Seiten<lb/> daran gearbeitet worden sei, die Stellung des Reichskanzlers zu untergraben. Da¬<lb/> gegen ist das genannte Blatt im Irrtum mit der Behauptung, daß „die von Herrn<lb/> Nenvers von einem Tage zum andern angekündigte völlige Wiederherstellung" sich<lb/> immer wieder verzögert habe. Einzelne Blätter mögen sich in solchen Ankündigungen<lb/> gefallen haben, dem Geheimrat Renvers ist solches nie beigekommen. Er war von der<lb/> Pflicht und der Verantwortlichkeit, die ihm dem Reiche, dem Reichskanzler und seinem<lb/> eignen Gewissen gegenüber oblag, viel zu sehr durchdrungen, als daß er die Be¬<lb/> handlung nicht nach der vollen Schwere und dem ganzen Ernste des Falles geleitet<lb/> hätte. Er hatte vou dem ersten Augenblick an die Zuversicht, daß es ihm gelingen<lb/> werde, den Kanzler wiederherzustellen, aber er hat der Öffentlichkeit gegenüber<lb/> niemals einen Termin dafür angegeben, am wenigsten „von einem Tage zum audern".<lb/> Je größer die Verantwortlichkeit war, die er übernommen hatte, um so weniger<lb/> konnte er gewillt sein, seine ärztliche Reputation auf das Spiel zu setzen und Dinge<lb/> ankündigen deren er nicht gewiß war. Professor Renvers hatte noch jüngst Ge¬<lb/> legenheit genommen, sich einem der Tischgäste des Reichskanzlers gegenüber mit<lb/> voller Schärfe über die Gewissenlosigkeit zu äußern, die ein Teil der Presse in dieser<lb/> ganzen Angelegenheit beobachtet, ein andrer Teil wiederum ihm zugemutet habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_2312" next="#ID_2313"> Während nun der Kaiser „dem staatsmännischen Geschick und der aufopfernden<lb/> Hingebung", mit der der Reichskanzler „am Entstehen wie am Gelingen der Finanz¬<lb/> reform einen hervorragenden Anteil genommen" hat, seine volle Anerkennung zollt,<lb/> glaubt ein Teil der Presse den persönlichen Anteil des Fürsten Bülow an dem<lb/> Reformwerk nicht allzugroß bemessen zu dürfen. Schwerlich werden diese Blätter<lb/> der Ansicht sein, daß der Leiter einer angesehenen Zeitung an der Behandlung der<lb/> wichtigsten politischen Fragen der Zeit nicht seinen vollen persönlichen Anteil zu<lb/> nehmen habe. Die verantwortliche Leitung des Reichs wiegt aber doch wohl noch<lb/> etwas schwerer als die einer Zeitung. Selbstverständlich kann und wird sich der<lb/> Reichskanzler nicht mit allen Einzelheiten der Steuervorlagen und ihrer Behandlung<lb/> identifizieren können. Er hatte dazu um so weniger Anlaß, als er in dem Frecheren<lb/> von Stengel eine ausgezeichnete Kraft zur Verfügung hatte. Aber an dem Zu¬<lb/> standekommen der Vorlagen im Bundesrat wie im Reichstage hat er seinen großen<lb/> pflichtmäßigen Anteil zu beanspruchen. Seit sechs Jahren hat der Kanzler und den<lb/> Finanzministern der Einzelstaaten fast alljährlich Rücksprachen über diesen Gegen¬<lb/> stand und Konferenzen unter seinem Vorsitz abgehalten. Besonders eingehend</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0515]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Erlaß des Kaisers an den Reichskanzler, worin der Monarch nächst seiner
Anerkennung für die Durchsetzung der Reichsfinanzreform auch seiner hohen Genug¬
tuung über die Genesung des Kanzlers Ausdruck verleiht, hat in der Presse ziemlich
allgemein eine weitergehende Auslegung dahin erfahren, daß der Kaiser offenbar
den Wunsch gehabt habe, „dem Gewispel und Geraume", das an manchen Stellen
immer noch nicht verstummen wollte, ein Ende zu machen und — wie der Han¬
növersche Courier es ausdrückt — „sich von der denkbar sichtbarsten Plattform zu
seinem ersten und verantwortlichen Ratgeber zu bekennen". Was das Hannöversche
Blatt noch hinzufügt, ist ebenfalls ein Reflex der Anschauungen weiter Kreise: das
Kaiserliche Handschreiben werde diesen Zweck unzweifelhaft erfüllen, und gern werde
man aus ihm entnehmen, daß an ein Revirement in der Spitze der Reichsgeschäfte
nicht gedacht wird. „Daß unter den obwaltenden Umständen, und wie die Dinge
sich nun einmal im Reiche und in Preußen gestaltet haben, eine Kauzlerschaft Bülow
immer noch die beste Kanzlerschaft ist, gehört nachgerade wohl zu den Dingen, über die
alle Welt einig ist." Der Hannöversche Courier nähert sich damit dem seit längerer
Zeit mehrfach auch von den Grenzboten vertretnen Standpunkt. Es war allerdings eine
auffällige Erscheinung, daß „das Gewispel und Geraume" gerade in hohen amtlichen
Stellen — nicht, wie fälschlich behauptet worden ist, bei der Umgebung des Reichs¬
kanzlers — seine Stätte hatte. Mitglieder des diplomatischen Korps haben in dieser
Beziehung recht seltsame Eindrücke gewonnen, und der Courier sagt nicht zuviel, wenn
er offen ausspricht, daß zumal in den ersten drei bangen Wochen von manchen Seiten
daran gearbeitet worden sei, die Stellung des Reichskanzlers zu untergraben. Da¬
gegen ist das genannte Blatt im Irrtum mit der Behauptung, daß „die von Herrn
Nenvers von einem Tage zum andern angekündigte völlige Wiederherstellung" sich
immer wieder verzögert habe. Einzelne Blätter mögen sich in solchen Ankündigungen
gefallen haben, dem Geheimrat Renvers ist solches nie beigekommen. Er war von der
Pflicht und der Verantwortlichkeit, die ihm dem Reiche, dem Reichskanzler und seinem
eignen Gewissen gegenüber oblag, viel zu sehr durchdrungen, als daß er die Be¬
handlung nicht nach der vollen Schwere und dem ganzen Ernste des Falles geleitet
hätte. Er hatte vou dem ersten Augenblick an die Zuversicht, daß es ihm gelingen
werde, den Kanzler wiederherzustellen, aber er hat der Öffentlichkeit gegenüber
niemals einen Termin dafür angegeben, am wenigsten „von einem Tage zum audern".
Je größer die Verantwortlichkeit war, die er übernommen hatte, um so weniger
konnte er gewillt sein, seine ärztliche Reputation auf das Spiel zu setzen und Dinge
ankündigen deren er nicht gewiß war. Professor Renvers hatte noch jüngst Ge¬
legenheit genommen, sich einem der Tischgäste des Reichskanzlers gegenüber mit
voller Schärfe über die Gewissenlosigkeit zu äußern, die ein Teil der Presse in dieser
ganzen Angelegenheit beobachtet, ein andrer Teil wiederum ihm zugemutet habe.
Während nun der Kaiser „dem staatsmännischen Geschick und der aufopfernden
Hingebung", mit der der Reichskanzler „am Entstehen wie am Gelingen der Finanz¬
reform einen hervorragenden Anteil genommen" hat, seine volle Anerkennung zollt,
glaubt ein Teil der Presse den persönlichen Anteil des Fürsten Bülow an dem
Reformwerk nicht allzugroß bemessen zu dürfen. Schwerlich werden diese Blätter
der Ansicht sein, daß der Leiter einer angesehenen Zeitung an der Behandlung der
wichtigsten politischen Fragen der Zeit nicht seinen vollen persönlichen Anteil zu
nehmen habe. Die verantwortliche Leitung des Reichs wiegt aber doch wohl noch
etwas schwerer als die einer Zeitung. Selbstverständlich kann und wird sich der
Reichskanzler nicht mit allen Einzelheiten der Steuervorlagen und ihrer Behandlung
identifizieren können. Er hatte dazu um so weniger Anlaß, als er in dem Frecheren
von Stengel eine ausgezeichnete Kraft zur Verfügung hatte. Aber an dem Zu¬
standekommen der Vorlagen im Bundesrat wie im Reichstage hat er seinen großen
pflichtmäßigen Anteil zu beanspruchen. Seit sechs Jahren hat der Kanzler und den
Finanzministern der Einzelstaaten fast alljährlich Rücksprachen über diesen Gegen¬
stand und Konferenzen unter seinem Vorsitz abgehalten. Besonders eingehend
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