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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Sie aber sah nach den Schlittschuhen aus, nach dem einzigen Wunsche ihres
kleinen Lebens. Sie waren nicht da -- Kleider und Schulbücher, Schreibhefte und
Stifte waren ihr gegeben worden: die Notdurft des Lebens, aber keine Freude.

Der Hofrat merkte nicht, daß sich Aureus Augen umflort hatten. Er ließ
sich von ihr ein Weihnachtsverslein hersagen, sprach vom Weihncichtsbcmm und von
der Sonnenwende, war gütig wie immer und doch etwas anders. Auf seinem
Schreibtisch lag ein verschnürtes Paket. Er betrachtete es manchmal und faltete
dann die Stirn wie jemand, dessen Gedanken anderswo sind als bei Weihnachten.

Anneli achtete nicht auf ihn, auch nicht auf Schwester Lene, die heute freund¬
licher gestimmt war und verstohlen ein paar blanke Talerstücke zählte.

Sie hatte reichlicher gekocht, als es sonst ihre Gewohnheit war, aber Anneli
schmeckte nichts, und sie ging früh zu Bett. Von ihrem Fenster aus sah sie auf
das Städtchen unter sich. Von dort her flimmerten viel mehr Lichter als sonst, und
über den Dächern lag ein Schein, wie ihn die Heiligen auf den Bildern hatten.

Die Heiligen waren auch vielleicht hilfreicher als der Herr Jesus. Vielleicht
hätten sie die Schlittschuhe nicht verweigert, die der Gottessohn entschieden ver¬
gessen hatte. Dafür wurde er denn auch bestraft, heute Abend betete Anneli nicht
zu ihm, sondern wandte sich energisch an den lieben Herrgott selbst.

Gib, Vater im Himmel, daß es den ganzen Winter nicht friert, und daß der
See offen bleibt. Wenn dann die grauen Schwäne nicht hier bleiben können, so
kann ich es nicht ändern. Vielleicht gewöhnen sie sich an die Wärme.

Denn die grauen Schwäne, von denen es hieß, daß sie nur bei scharfem Frost
auf dem See blieben, taten Anneli doch ein wenig leid.

16

Es waren graue, nüchterne Festtage. Onkel Willi kümmerte sich nicht um seine
Nichte, und Schwester Lene brummte wie sonst. Slina Böteführ war aus der
Stahlschen Wohnung weggezogen und vorläufig zu Herrn Peters gegangen, der es
auf der Brust hatte und nach einer Pflegerin suchte.

Ich bleib immer bei die ganz Altens kleben, vertraute sie Anneli an, als
sie am zweiten Feiertage mit dem Rest ihrer Habseligkeiten vom Schloß zog.
Komisch, nich wahr? Wo unsereins doch eigentlich for den Ehestand gemacht ist.
Abers die Manners taugen alle nix!

Sie hängte Anneli ein Bündel mit allerhand Sachen über den Arm, und die
kleine Gefährtin trottete gehorsam neben ihr her.

Ich sehn mir nach mein alte Mamsell! fuhr Slina fort. Abers so is das nu:
sie hat den Frieden, und ich muß rumziehn. Grad so, wie sie das in ihre Jugend
auch gemußt hat -- hast doch noch ihr Bilderbuch?

Anneli nickte.

Besehen habe ich- es noch nicht wieder, Slina.

Nu ja, somas is nich for alle Tage; abers ich hab da immer Spaß von
gehabt.

Slina seufzte noch etlichemal, stand dann vor der kleinen Tür des Petersschen
Hauses und schüttelte den Kopf.

Du liebe Zeit. Erstens war ich bei ne Tanzmadam, und dann bin ich bein
Schornsteinfeger. Und ich war doch immer for das feine!

Anneli trug ihr Bündel in das Wohnzimmer, wo das schweigende Klavier
stand, und lief dann eilig wieder davon. Herr Ehlers hatte sein Ladenfenster
enthüllt, und die Schlittschuhe blinkten verführerisch.

Vor Aureus Augen blinkten sie die ganze Nacht, und im Traum glaubte sie
sie auf ihrer Bettdecke liegen zu sehen. Aber es war nur ein Traum, und der
nächste Morgen brachte ein verwunderliches Ereignis. Nämlich daß Onkel Willi
eine ernsthafte Rede von Bravheit und Artigsein hielt und dann seine Absicht an-


lNenschenfrühlmg

Sie aber sah nach den Schlittschuhen aus, nach dem einzigen Wunsche ihres
kleinen Lebens. Sie waren nicht da — Kleider und Schulbücher, Schreibhefte und
Stifte waren ihr gegeben worden: die Notdurft des Lebens, aber keine Freude.

Der Hofrat merkte nicht, daß sich Aureus Augen umflort hatten. Er ließ
sich von ihr ein Weihnachtsverslein hersagen, sprach vom Weihncichtsbcmm und von
der Sonnenwende, war gütig wie immer und doch etwas anders. Auf seinem
Schreibtisch lag ein verschnürtes Paket. Er betrachtete es manchmal und faltete
dann die Stirn wie jemand, dessen Gedanken anderswo sind als bei Weihnachten.

Anneli achtete nicht auf ihn, auch nicht auf Schwester Lene, die heute freund¬
licher gestimmt war und verstohlen ein paar blanke Talerstücke zählte.

Sie hatte reichlicher gekocht, als es sonst ihre Gewohnheit war, aber Anneli
schmeckte nichts, und sie ging früh zu Bett. Von ihrem Fenster aus sah sie auf
das Städtchen unter sich. Von dort her flimmerten viel mehr Lichter als sonst, und
über den Dächern lag ein Schein, wie ihn die Heiligen auf den Bildern hatten.

Die Heiligen waren auch vielleicht hilfreicher als der Herr Jesus. Vielleicht
hätten sie die Schlittschuhe nicht verweigert, die der Gottessohn entschieden ver¬
gessen hatte. Dafür wurde er denn auch bestraft, heute Abend betete Anneli nicht
zu ihm, sondern wandte sich energisch an den lieben Herrgott selbst.

Gib, Vater im Himmel, daß es den ganzen Winter nicht friert, und daß der
See offen bleibt. Wenn dann die grauen Schwäne nicht hier bleiben können, so
kann ich es nicht ändern. Vielleicht gewöhnen sie sich an die Wärme.

Denn die grauen Schwäne, von denen es hieß, daß sie nur bei scharfem Frost
auf dem See blieben, taten Anneli doch ein wenig leid.

16

Es waren graue, nüchterne Festtage. Onkel Willi kümmerte sich nicht um seine
Nichte, und Schwester Lene brummte wie sonst. Slina Böteführ war aus der
Stahlschen Wohnung weggezogen und vorläufig zu Herrn Peters gegangen, der es
auf der Brust hatte und nach einer Pflegerin suchte.

Ich bleib immer bei die ganz Altens kleben, vertraute sie Anneli an, als
sie am zweiten Feiertage mit dem Rest ihrer Habseligkeiten vom Schloß zog.
Komisch, nich wahr? Wo unsereins doch eigentlich for den Ehestand gemacht ist.
Abers die Manners taugen alle nix!

Sie hängte Anneli ein Bündel mit allerhand Sachen über den Arm, und die
kleine Gefährtin trottete gehorsam neben ihr her.

Ich sehn mir nach mein alte Mamsell! fuhr Slina fort. Abers so is das nu:
sie hat den Frieden, und ich muß rumziehn. Grad so, wie sie das in ihre Jugend
auch gemußt hat — hast doch noch ihr Bilderbuch?

Anneli nickte.

Besehen habe ich- es noch nicht wieder, Slina.

Nu ja, somas is nich for alle Tage; abers ich hab da immer Spaß von
gehabt.

Slina seufzte noch etlichemal, stand dann vor der kleinen Tür des Petersschen
Hauses und schüttelte den Kopf.

Du liebe Zeit. Erstens war ich bei ne Tanzmadam, und dann bin ich bein
Schornsteinfeger. Und ich war doch immer for das feine!

Anneli trug ihr Bündel in das Wohnzimmer, wo das schweigende Klavier
stand, und lief dann eilig wieder davon. Herr Ehlers hatte sein Ladenfenster
enthüllt, und die Schlittschuhe blinkten verführerisch.

Vor Aureus Augen blinkten sie die ganze Nacht, und im Traum glaubte sie
sie auf ihrer Bettdecke liegen zu sehen. Aber es war nur ein Traum, und der
nächste Morgen brachte ein verwunderliches Ereignis. Nämlich daß Onkel Willi
eine ernsthafte Rede von Bravheit und Artigsein hielt und dann seine Absicht an-


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[0506] lNenschenfrühlmg Sie aber sah nach den Schlittschuhen aus, nach dem einzigen Wunsche ihres kleinen Lebens. Sie waren nicht da — Kleider und Schulbücher, Schreibhefte und Stifte waren ihr gegeben worden: die Notdurft des Lebens, aber keine Freude. Der Hofrat merkte nicht, daß sich Aureus Augen umflort hatten. Er ließ sich von ihr ein Weihnachtsverslein hersagen, sprach vom Weihncichtsbcmm und von der Sonnenwende, war gütig wie immer und doch etwas anders. Auf seinem Schreibtisch lag ein verschnürtes Paket. Er betrachtete es manchmal und faltete dann die Stirn wie jemand, dessen Gedanken anderswo sind als bei Weihnachten. Anneli achtete nicht auf ihn, auch nicht auf Schwester Lene, die heute freund¬ licher gestimmt war und verstohlen ein paar blanke Talerstücke zählte. Sie hatte reichlicher gekocht, als es sonst ihre Gewohnheit war, aber Anneli schmeckte nichts, und sie ging früh zu Bett. Von ihrem Fenster aus sah sie auf das Städtchen unter sich. Von dort her flimmerten viel mehr Lichter als sonst, und über den Dächern lag ein Schein, wie ihn die Heiligen auf den Bildern hatten. Die Heiligen waren auch vielleicht hilfreicher als der Herr Jesus. Vielleicht hätten sie die Schlittschuhe nicht verweigert, die der Gottessohn entschieden ver¬ gessen hatte. Dafür wurde er denn auch bestraft, heute Abend betete Anneli nicht zu ihm, sondern wandte sich energisch an den lieben Herrgott selbst. Gib, Vater im Himmel, daß es den ganzen Winter nicht friert, und daß der See offen bleibt. Wenn dann die grauen Schwäne nicht hier bleiben können, so kann ich es nicht ändern. Vielleicht gewöhnen sie sich an die Wärme. Denn die grauen Schwäne, von denen es hieß, daß sie nur bei scharfem Frost auf dem See blieben, taten Anneli doch ein wenig leid. 16 Es waren graue, nüchterne Festtage. Onkel Willi kümmerte sich nicht um seine Nichte, und Schwester Lene brummte wie sonst. Slina Böteführ war aus der Stahlschen Wohnung weggezogen und vorläufig zu Herrn Peters gegangen, der es auf der Brust hatte und nach einer Pflegerin suchte. Ich bleib immer bei die ganz Altens kleben, vertraute sie Anneli an, als sie am zweiten Feiertage mit dem Rest ihrer Habseligkeiten vom Schloß zog. Komisch, nich wahr? Wo unsereins doch eigentlich for den Ehestand gemacht ist. Abers die Manners taugen alle nix! Sie hängte Anneli ein Bündel mit allerhand Sachen über den Arm, und die kleine Gefährtin trottete gehorsam neben ihr her. Ich sehn mir nach mein alte Mamsell! fuhr Slina fort. Abers so is das nu: sie hat den Frieden, und ich muß rumziehn. Grad so, wie sie das in ihre Jugend auch gemußt hat — hast doch noch ihr Bilderbuch? Anneli nickte. Besehen habe ich- es noch nicht wieder, Slina. Nu ja, somas is nich for alle Tage; abers ich hab da immer Spaß von gehabt. Slina seufzte noch etlichemal, stand dann vor der kleinen Tür des Petersschen Hauses und schüttelte den Kopf. Du liebe Zeit. Erstens war ich bei ne Tanzmadam, und dann bin ich bein Schornsteinfeger. Und ich war doch immer for das feine! Anneli trug ihr Bündel in das Wohnzimmer, wo das schweigende Klavier stand, und lief dann eilig wieder davon. Herr Ehlers hatte sein Ladenfenster enthüllt, und die Schlittschuhe blinkten verführerisch. Vor Aureus Augen blinkten sie die ganze Nacht, und im Traum glaubte sie sie auf ihrer Bettdecke liegen zu sehen. Aber es war nur ein Traum, und der nächste Morgen brachte ein verwunderliches Ereignis. Nämlich daß Onkel Willi eine ernsthafte Rede von Bravheit und Artigsein hielt und dann seine Absicht an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/506>, abgerufen am 27.12.2024.