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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Aus dem Unglücksjahre ^30?

Gefallen, zufällige Bildung, Volkseigenheiten durchaus zu beseitigen und ein
allgemeineres Gesetz zur Entscheidungsform ^ hervorzurufen."

In Beziehung auf Philosophie, Poesie und bildende Künste ist die Be¬
fürchtung, das strenge kantische Gesetz möchte das freie Walten der Phantasie
in ihnen beschränken, nicht in Erfüllung gegangen, denn die wissenschaftliche, die
künstlerische und die dichterische Tätigkeit sind von keiner Art Polizei zu fassen.
Dagegen hat die Begeisterung für das durchgreifende Walten eines die ganze
Menschenwelt umspannenden Gesetzes mit Hilfe der modernen Technik über die
Volkseigenheiten und das individuelle Gefallen in Beziehung auf die äußerliche
Lebensführung gesiegt: der Kellnerfrack, der Zylinder und der Pariser Damenhut
zieren nicht allein die hesperischen Gefilde, sondern auch die Nilkatarakte und
die Gestade des Stillen Ozeans. Am verhängnisvollsten aber hat die kantische
Lehre in Verbindung mit der französischen Revolution, zu der sie die Theorie
lieferte, auf dem politischen Gebiete gewirkt, an das Goethe gar nicht gedacht
hat, und diese Wirkung würde ihm, wenn er sie erlebt hätte, am widerwärtigsten
gewesen sein. Indem Kant und die unter seinem Einfluß gereiften preußischen
Staatsmänner forderten, daß für alles, was Menschenantlitz trägt, dasselbe Gesetz
gelten solle, haben sie die Volkskraft im preußischen Staate entbunden und zu¬
gleich deren Tätigkeit geregelt und so Preußen groß gemacht. Aber zum poli¬
tischen Dogma erhoben bedeutet jene Forderung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlich¬
keit, Demokratie und Kosmopolis als politisches Ideal, und die folgerichtig durch¬
geführte kosmopolitische Demokratie ist die internationale Sozialdemokratie.




Aus dem Unglücksjahre ^807
Erlebnisse und Wahrnehmungen eines hohen französischen Offiziers in Gst-
und Westpreußen
G. Joachim Mitgeteilt von2

M-M!M 8. Mai verläßt Percy dann das ihm lieb gewordne Rosen¬
berg, um die Spitäler an der untern Weichsel und in Pommerellen
zu besichtigen und sich dann die Belagerung von Danzig in der
iNühe anzuschauen. Marienwerder gefällt ihm sehr; es ist eine
! elegant gebaute, lebhafte Stadt. Da es gerade Himmelfahrttag
ist, promenieren Preußen und Franzosen in festlichen Kleidern; namentlich
sieht man schöne und anmutige Frauen in guten Toiletten. Das alte Dom¬
herrenschloß dünkt Percy wie ein Römerbau gewaltig. Am 9. Mai geht es
über die Weichsel auf einer besonders sauber gehaltnen Brücke. Das hoch¬
ragende Mewe macht in seinem Innern einen sehr gewöhnlichen Eindruck; doch
imponiert das alte "Templerschloß". Percy kann niemals so recht zwischen
Tcmplerherren und Deutschordensrittern unterscheiden. Durch Sand gelangt


Aus dem Unglücksjahre ^30?

Gefallen, zufällige Bildung, Volkseigenheiten durchaus zu beseitigen und ein
allgemeineres Gesetz zur Entscheidungsform ^ hervorzurufen."

In Beziehung auf Philosophie, Poesie und bildende Künste ist die Be¬
fürchtung, das strenge kantische Gesetz möchte das freie Walten der Phantasie
in ihnen beschränken, nicht in Erfüllung gegangen, denn die wissenschaftliche, die
künstlerische und die dichterische Tätigkeit sind von keiner Art Polizei zu fassen.
Dagegen hat die Begeisterung für das durchgreifende Walten eines die ganze
Menschenwelt umspannenden Gesetzes mit Hilfe der modernen Technik über die
Volkseigenheiten und das individuelle Gefallen in Beziehung auf die äußerliche
Lebensführung gesiegt: der Kellnerfrack, der Zylinder und der Pariser Damenhut
zieren nicht allein die hesperischen Gefilde, sondern auch die Nilkatarakte und
die Gestade des Stillen Ozeans. Am verhängnisvollsten aber hat die kantische
Lehre in Verbindung mit der französischen Revolution, zu der sie die Theorie
lieferte, auf dem politischen Gebiete gewirkt, an das Goethe gar nicht gedacht
hat, und diese Wirkung würde ihm, wenn er sie erlebt hätte, am widerwärtigsten
gewesen sein. Indem Kant und die unter seinem Einfluß gereiften preußischen
Staatsmänner forderten, daß für alles, was Menschenantlitz trägt, dasselbe Gesetz
gelten solle, haben sie die Volkskraft im preußischen Staate entbunden und zu¬
gleich deren Tätigkeit geregelt und so Preußen groß gemacht. Aber zum poli¬
tischen Dogma erhoben bedeutet jene Forderung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlich¬
keit, Demokratie und Kosmopolis als politisches Ideal, und die folgerichtig durch¬
geführte kosmopolitische Demokratie ist die internationale Sozialdemokratie.




Aus dem Unglücksjahre ^807
Erlebnisse und Wahrnehmungen eines hohen französischen Offiziers in Gst-
und Westpreußen
G. Joachim Mitgeteilt von2

M-M!M 8. Mai verläßt Percy dann das ihm lieb gewordne Rosen¬
berg, um die Spitäler an der untern Weichsel und in Pommerellen
zu besichtigen und sich dann die Belagerung von Danzig in der
iNühe anzuschauen. Marienwerder gefällt ihm sehr; es ist eine
! elegant gebaute, lebhafte Stadt. Da es gerade Himmelfahrttag
ist, promenieren Preußen und Franzosen in festlichen Kleidern; namentlich
sieht man schöne und anmutige Frauen in guten Toiletten. Das alte Dom¬
herrenschloß dünkt Percy wie ein Römerbau gewaltig. Am 9. Mai geht es
über die Weichsel auf einer besonders sauber gehaltnen Brücke. Das hoch¬
ragende Mewe macht in seinem Innern einen sehr gewöhnlichen Eindruck; doch
imponiert das alte „Templerschloß". Percy kann niemals so recht zwischen
Tcmplerherren und Deutschordensrittern unterscheiden. Durch Sand gelangt


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[0434] Aus dem Unglücksjahre ^30? Gefallen, zufällige Bildung, Volkseigenheiten durchaus zu beseitigen und ein allgemeineres Gesetz zur Entscheidungsform ^ hervorzurufen." In Beziehung auf Philosophie, Poesie und bildende Künste ist die Be¬ fürchtung, das strenge kantische Gesetz möchte das freie Walten der Phantasie in ihnen beschränken, nicht in Erfüllung gegangen, denn die wissenschaftliche, die künstlerische und die dichterische Tätigkeit sind von keiner Art Polizei zu fassen. Dagegen hat die Begeisterung für das durchgreifende Walten eines die ganze Menschenwelt umspannenden Gesetzes mit Hilfe der modernen Technik über die Volkseigenheiten und das individuelle Gefallen in Beziehung auf die äußerliche Lebensführung gesiegt: der Kellnerfrack, der Zylinder und der Pariser Damenhut zieren nicht allein die hesperischen Gefilde, sondern auch die Nilkatarakte und die Gestade des Stillen Ozeans. Am verhängnisvollsten aber hat die kantische Lehre in Verbindung mit der französischen Revolution, zu der sie die Theorie lieferte, auf dem politischen Gebiete gewirkt, an das Goethe gar nicht gedacht hat, und diese Wirkung würde ihm, wenn er sie erlebt hätte, am widerwärtigsten gewesen sein. Indem Kant und die unter seinem Einfluß gereiften preußischen Staatsmänner forderten, daß für alles, was Menschenantlitz trägt, dasselbe Gesetz gelten solle, haben sie die Volkskraft im preußischen Staate entbunden und zu¬ gleich deren Tätigkeit geregelt und so Preußen groß gemacht. Aber zum poli¬ tischen Dogma erhoben bedeutet jene Forderung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlich¬ keit, Demokratie und Kosmopolis als politisches Ideal, und die folgerichtig durch¬ geführte kosmopolitische Demokratie ist die internationale Sozialdemokratie. Aus dem Unglücksjahre ^807 Erlebnisse und Wahrnehmungen eines hohen französischen Offiziers in Gst- und Westpreußen G. Joachim Mitgeteilt von2 M-M!M 8. Mai verläßt Percy dann das ihm lieb gewordne Rosen¬ berg, um die Spitäler an der untern Weichsel und in Pommerellen zu besichtigen und sich dann die Belagerung von Danzig in der iNühe anzuschauen. Marienwerder gefällt ihm sehr; es ist eine ! elegant gebaute, lebhafte Stadt. Da es gerade Himmelfahrttag ist, promenieren Preußen und Franzosen in festlichen Kleidern; namentlich sieht man schöne und anmutige Frauen in guten Toiletten. Das alte Dom¬ herrenschloß dünkt Percy wie ein Römerbau gewaltig. Am 9. Mai geht es über die Weichsel auf einer besonders sauber gehaltnen Brücke. Das hoch¬ ragende Mewe macht in seinem Innern einen sehr gewöhnlichen Eindruck; doch imponiert das alte „Templerschloß". Percy kann niemals so recht zwischen Tcmplerherren und Deutschordensrittern unterscheiden. Durch Sand gelangt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/434>, abgerufen am 24.07.2024.