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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage

Beide Länder sind einer zu starken Anspannung ihrer Kräfte für Kriegs¬
zwecke abgeneigt. Besonders in Argentinien ist man zu der vernünftigen Über¬
zeugung gekommen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Grundlage für die
zukünftige Macht sein muß. Masseneinwanderung, Kolonisation in großem
Maßstabe, Erhöhung der Produktion, Vermehrung des nationalen Reichtums,
kurz und gut, genau auf demselben Wege, auf dem sich die Vereinigten Staaten
im Laufe des letzten Jahrhunderts zu ihrer heutigen Blüte und Macht auf¬
geschwungen haben, will sich auch Argentinien seine Zukunft sichern/ Der
Weg zum Ziel ist unstreitig der richtige. Welches auch die Beschlüsse des pan¬
amerikanischen Kongresses in Rio de Janeiro sein mögen, und wie viel oder
wenig davon der Haager Kongreß, vor den man sie zu bringen beabsichtigt,
adoptieren wird, eins ist sicher: dort unten im südlichsten Zipfel Südamerikas
sind Grundsätze und Bestrebungen aufgetaucht, die der panamerikanischen Frage
unter Umständen eine ganz andre Lösung geben können, als dies von der
Monroedoktrin zu erwarten ist. Die heute ohnmächtige Dragodoktrin kann im
Wechsel der Zeiten eine Bedeutung gewinnen, die ihr von der zeitgenössischen
Welt noch vorenthalten wird. Ja, da sie über den Rahmen spezifisch ameri¬
kanischer Interessen weit hinausreicht, kann sie sich -- was bei der Monroe¬
doktrin nie der Fall sein wird -- universelle Sympathien erwerben.

Jedenfalls wird die deutsche Negierung gut tun, die Vorgänge auf dem
dritten panamerikanischen Kongreß scharf beobachten zu lassen, was nicht so
leicht ist, da manche Verhandlungen geheim sind, und da nur amerikanische Ver¬
treter zugelassen werden. Überdies ist unser gegenwärtiger Gesandter, wie aus
der Antwortnote der brasilianischen Regierung in der Pantheraffüre hervor¬
ging, nicht gerade xer8ora Zrata. Es empfiehlt sich darum dringend, daß
die deutsche Negierung mehrere Diplomaten ersten Ranges, die insbesondre
auch der spanischen Sprache mächtig sind und Portugiesisch verstehn, nach Rio
de Janeiro entsendet, damit möglichst alle Intriguen, die dort gesponnen werden,
bemerkt und insbesondre die Beratungen über die Dragodoktrin genau ver¬
folgt werden.




Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage
Julius Patzelt vonin

!N dem gegenwärtigen Abgeordnetenhause fallen auf den Gro߬
grundbesitz 85, auf die Handelskammern 21, auf die Städte 116,
auf die Landgemeinden 131 und auf die fünfte allgemeine Wähler¬
klasse 72 Mandate.

Durch die von der Regierung vorgeschlagne Wahlreform soll
nun das allgemeine, gleiche Wahlrecht in der Weise eingeführt werden, daß die
bisherigen Wähler des Großgrundbesitzes und die Nichtzensuswähler der fünften
allgemeinen Klasse der Wählerschaft der Städte und der Landgemeinden in-


Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage

Beide Länder sind einer zu starken Anspannung ihrer Kräfte für Kriegs¬
zwecke abgeneigt. Besonders in Argentinien ist man zu der vernünftigen Über¬
zeugung gekommen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Grundlage für die
zukünftige Macht sein muß. Masseneinwanderung, Kolonisation in großem
Maßstabe, Erhöhung der Produktion, Vermehrung des nationalen Reichtums,
kurz und gut, genau auf demselben Wege, auf dem sich die Vereinigten Staaten
im Laufe des letzten Jahrhunderts zu ihrer heutigen Blüte und Macht auf¬
geschwungen haben, will sich auch Argentinien seine Zukunft sichern/ Der
Weg zum Ziel ist unstreitig der richtige. Welches auch die Beschlüsse des pan¬
amerikanischen Kongresses in Rio de Janeiro sein mögen, und wie viel oder
wenig davon der Haager Kongreß, vor den man sie zu bringen beabsichtigt,
adoptieren wird, eins ist sicher: dort unten im südlichsten Zipfel Südamerikas
sind Grundsätze und Bestrebungen aufgetaucht, die der panamerikanischen Frage
unter Umständen eine ganz andre Lösung geben können, als dies von der
Monroedoktrin zu erwarten ist. Die heute ohnmächtige Dragodoktrin kann im
Wechsel der Zeiten eine Bedeutung gewinnen, die ihr von der zeitgenössischen
Welt noch vorenthalten wird. Ja, da sie über den Rahmen spezifisch ameri¬
kanischer Interessen weit hinausreicht, kann sie sich — was bei der Monroe¬
doktrin nie der Fall sein wird — universelle Sympathien erwerben.

Jedenfalls wird die deutsche Negierung gut tun, die Vorgänge auf dem
dritten panamerikanischen Kongreß scharf beobachten zu lassen, was nicht so
leicht ist, da manche Verhandlungen geheim sind, und da nur amerikanische Ver¬
treter zugelassen werden. Überdies ist unser gegenwärtiger Gesandter, wie aus
der Antwortnote der brasilianischen Regierung in der Pantheraffüre hervor¬
ging, nicht gerade xer8ora Zrata. Es empfiehlt sich darum dringend, daß
die deutsche Negierung mehrere Diplomaten ersten Ranges, die insbesondre
auch der spanischen Sprache mächtig sind und Portugiesisch verstehn, nach Rio
de Janeiro entsendet, damit möglichst alle Intriguen, die dort gesponnen werden,
bemerkt und insbesondre die Beratungen über die Dragodoktrin genau ver¬
folgt werden.




Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage
Julius Patzelt vonin

!N dem gegenwärtigen Abgeordnetenhause fallen auf den Gro߬
grundbesitz 85, auf die Handelskammern 21, auf die Städte 116,
auf die Landgemeinden 131 und auf die fünfte allgemeine Wähler¬
klasse 72 Mandate.

Durch die von der Regierung vorgeschlagne Wahlreform soll
nun das allgemeine, gleiche Wahlrecht in der Weise eingeführt werden, daß die
bisherigen Wähler des Großgrundbesitzes und die Nichtzensuswähler der fünften
allgemeinen Klasse der Wählerschaft der Städte und der Landgemeinden in-


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[0418] Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage Beide Länder sind einer zu starken Anspannung ihrer Kräfte für Kriegs¬ zwecke abgeneigt. Besonders in Argentinien ist man zu der vernünftigen Über¬ zeugung gekommen, daß die wirtschaftliche Entwicklung die Grundlage für die zukünftige Macht sein muß. Masseneinwanderung, Kolonisation in großem Maßstabe, Erhöhung der Produktion, Vermehrung des nationalen Reichtums, kurz und gut, genau auf demselben Wege, auf dem sich die Vereinigten Staaten im Laufe des letzten Jahrhunderts zu ihrer heutigen Blüte und Macht auf¬ geschwungen haben, will sich auch Argentinien seine Zukunft sichern/ Der Weg zum Ziel ist unstreitig der richtige. Welches auch die Beschlüsse des pan¬ amerikanischen Kongresses in Rio de Janeiro sein mögen, und wie viel oder wenig davon der Haager Kongreß, vor den man sie zu bringen beabsichtigt, adoptieren wird, eins ist sicher: dort unten im südlichsten Zipfel Südamerikas sind Grundsätze und Bestrebungen aufgetaucht, die der panamerikanischen Frage unter Umständen eine ganz andre Lösung geben können, als dies von der Monroedoktrin zu erwarten ist. Die heute ohnmächtige Dragodoktrin kann im Wechsel der Zeiten eine Bedeutung gewinnen, die ihr von der zeitgenössischen Welt noch vorenthalten wird. Ja, da sie über den Rahmen spezifisch ameri¬ kanischer Interessen weit hinausreicht, kann sie sich — was bei der Monroe¬ doktrin nie der Fall sein wird — universelle Sympathien erwerben. Jedenfalls wird die deutsche Negierung gut tun, die Vorgänge auf dem dritten panamerikanischen Kongreß scharf beobachten zu lassen, was nicht so leicht ist, da manche Verhandlungen geheim sind, und da nur amerikanische Ver¬ treter zugelassen werden. Überdies ist unser gegenwärtiger Gesandter, wie aus der Antwortnote der brasilianischen Regierung in der Pantheraffüre hervor¬ ging, nicht gerade xer8ora Zrata. Es empfiehlt sich darum dringend, daß die deutsche Negierung mehrere Diplomaten ersten Ranges, die insbesondre auch der spanischen Sprache mächtig sind und Portugiesisch verstehn, nach Rio de Janeiro entsendet, damit möglichst alle Intriguen, die dort gesponnen werden, bemerkt und insbesondre die Beratungen über die Dragodoktrin genau ver¬ folgt werden. Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtsfrage Julius Patzelt vonin !N dem gegenwärtigen Abgeordnetenhause fallen auf den Gro߬ grundbesitz 85, auf die Handelskammern 21, auf die Städte 116, auf die Landgemeinden 131 und auf die fünfte allgemeine Wähler¬ klasse 72 Mandate. Durch die von der Regierung vorgeschlagne Wahlreform soll nun das allgemeine, gleiche Wahlrecht in der Weise eingeführt werden, daß die bisherigen Wähler des Großgrundbesitzes und die Nichtzensuswähler der fünften allgemeinen Klasse der Wählerschaft der Städte und der Landgemeinden in-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/418>, abgerufen am 27.12.2024.