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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Christel wirst du auf dieser Erde nicht mehr sehen, Kind. Sie ist tot und
schon lange begraben. Deshalb sind ihre Eltern auf Reisen gegangen, und vielleicht
kehren sie niemals zurück. Frau Doktor Sudeck hats wenigstens gesagt. Aber
vielleicht besinnt sie sich spater und zieht doch wieder ein in das alte Haus.
Überall wird schnell vergessen, und die Kaffeegesellschaften wollen dann auch von
andern Dingen sprechen.

Christel ist tot. Träumerisch sah Anneli zur Zimmerdecke empor. Sie war
von alten Zeiten her bunt bemalt, mit Rosenranken und lustigen kleinen Engels¬
köpfchen. Einer von ihnen lächelte, wie Christel lächeln konnte.

War Christel so krank, wie ich es gewesen bin?

Ans diese Frage räusperte sich der Kandidat und betrachtete ebenfalls die
Zimmerdecke.

Sie war krank, erwiderte er dann ernsthaft. Sie war kränker als du, und
deshalb ist sie auch gestorben. Das Leben wäre nichts für sie gewesen, denn
die Menschen sind nicht so barmherzig wie unser himmlischer Vater. Er hat
Geduld mit seinen vielen Kindern und nimmt sie auf, wenn sie nicht aus und ein
wissen und sich zu ihm flüchten. Aber die Welt hat keine Geduld. Dafür ist sie
eben die Welt.

Onkel Aurelius redete noch weiter. Obgleich er von der Kanzel nicht sprechen
konnte, so hatte er doch allerhand Gedanken und freute sich, sie Anneli sagen zu
können. Sie lag ganz still und sah ihn aufmerksam an.

Christel war tot. Mehr konnte sie nicht denken, aber es war genug für sie.

Der Oktoberwind fuhr um das alte Schloß und klapperte am schadhaften
Dach. Er heulte in deu weiten Kaminen und stöhnte grimmig, wenn sich ihm
eine Ofentür entgegenstellte. Aber er brachte sie doch auch zum Klappern und
Kreischen, daß Anneli den Kopf hob, weil sie glaubte, Stimmen zu vernehmen.

Aber es waren nur die Stimmen des herannahenden Winters, nur die Gewi߬
heit, daß es nun kalt und dunkel werden würde. Und ganz einsam. Anneli legte
den Kopf in die Kissen. Sie hatte Christel lieb gehabt, viel lieber, als sie geahnt
hatte. Nun war sie tot und begraben! Tot und begraben. Der Wind heulte,
wimmerte und schrie. Die Bäume bogen sich rauschend, und ein Ziegel fiel klirrend
zur Erde.

Tot und begraben.

Und dazwischen klang eine lachende, spöttische Stimme.

Ich bin abgerutscht. Dazu braucht man nicht alt zu sein wie Tante Fritze.
Abrutschen kann man immer!

13

Onkel Willi war gut. Er kam in einen Pelzrock gehüllt und saß an Aureus
Bett, erzählte ihr kleine Geschichten und entschuldigte sich halbwegs, daß er seine
kleine Nichte nicht aufnehmen könnte. Aber Schwester Lene hatte keine Lust ge¬
habt, sich den Haushalt noch schwerer machen zu lassen, und Onkel Aurelius hatte
Slina Böteführ, die so tüchtig war und alles für ihn tat.

Der Hofrat sagte jetzt auch Onkel Aurelius und war in seiner zerstreuten Art
viel freundlicher gegen den Kandidaten als ehemals. Vielleicht war er damals ein
wenig eifersüchtig gewesen, weil Tante Fritze sich so viel aus Herrn Bergheim
machte, oder er hatte jetzt erst erfahren, daß Onkel Aurelius nicht durch Schleich¬
wege die freie Wohnung im Schloß erhalten hatte, sondern weil er des Herrn
Ministers kostbaren Spazierstock mit dem goldnen Griff gefunden und wiedergebracht
hatte. Das war immerhin ein wenn auch nur kleines Verdienst um den Staat,
und deswegen konnte Onkel Aurelius ebensowohl im Schloß wohnen wie die alte
Demoiselle, die noch immer lebte und manchmal ans dem Fenster schaute. Aber
ihr Gesicht war sehr klein, und ihre Augen waren matt und trübe geworden.


Grenzboten II 1906 49
Menschenfrühling

Christel wirst du auf dieser Erde nicht mehr sehen, Kind. Sie ist tot und
schon lange begraben. Deshalb sind ihre Eltern auf Reisen gegangen, und vielleicht
kehren sie niemals zurück. Frau Doktor Sudeck hats wenigstens gesagt. Aber
vielleicht besinnt sie sich spater und zieht doch wieder ein in das alte Haus.
Überall wird schnell vergessen, und die Kaffeegesellschaften wollen dann auch von
andern Dingen sprechen.

Christel ist tot. Träumerisch sah Anneli zur Zimmerdecke empor. Sie war
von alten Zeiten her bunt bemalt, mit Rosenranken und lustigen kleinen Engels¬
köpfchen. Einer von ihnen lächelte, wie Christel lächeln konnte.

War Christel so krank, wie ich es gewesen bin?

Ans diese Frage räusperte sich der Kandidat und betrachtete ebenfalls die
Zimmerdecke.

Sie war krank, erwiderte er dann ernsthaft. Sie war kränker als du, und
deshalb ist sie auch gestorben. Das Leben wäre nichts für sie gewesen, denn
die Menschen sind nicht so barmherzig wie unser himmlischer Vater. Er hat
Geduld mit seinen vielen Kindern und nimmt sie auf, wenn sie nicht aus und ein
wissen und sich zu ihm flüchten. Aber die Welt hat keine Geduld. Dafür ist sie
eben die Welt.

Onkel Aurelius redete noch weiter. Obgleich er von der Kanzel nicht sprechen
konnte, so hatte er doch allerhand Gedanken und freute sich, sie Anneli sagen zu
können. Sie lag ganz still und sah ihn aufmerksam an.

Christel war tot. Mehr konnte sie nicht denken, aber es war genug für sie.

Der Oktoberwind fuhr um das alte Schloß und klapperte am schadhaften
Dach. Er heulte in deu weiten Kaminen und stöhnte grimmig, wenn sich ihm
eine Ofentür entgegenstellte. Aber er brachte sie doch auch zum Klappern und
Kreischen, daß Anneli den Kopf hob, weil sie glaubte, Stimmen zu vernehmen.

Aber es waren nur die Stimmen des herannahenden Winters, nur die Gewi߬
heit, daß es nun kalt und dunkel werden würde. Und ganz einsam. Anneli legte
den Kopf in die Kissen. Sie hatte Christel lieb gehabt, viel lieber, als sie geahnt
hatte. Nun war sie tot und begraben! Tot und begraben. Der Wind heulte,
wimmerte und schrie. Die Bäume bogen sich rauschend, und ein Ziegel fiel klirrend
zur Erde.

Tot und begraben.

Und dazwischen klang eine lachende, spöttische Stimme.

Ich bin abgerutscht. Dazu braucht man nicht alt zu sein wie Tante Fritze.
Abrutschen kann man immer!

13

Onkel Willi war gut. Er kam in einen Pelzrock gehüllt und saß an Aureus
Bett, erzählte ihr kleine Geschichten und entschuldigte sich halbwegs, daß er seine
kleine Nichte nicht aufnehmen könnte. Aber Schwester Lene hatte keine Lust ge¬
habt, sich den Haushalt noch schwerer machen zu lassen, und Onkel Aurelius hatte
Slina Böteführ, die so tüchtig war und alles für ihn tat.

Der Hofrat sagte jetzt auch Onkel Aurelius und war in seiner zerstreuten Art
viel freundlicher gegen den Kandidaten als ehemals. Vielleicht war er damals ein
wenig eifersüchtig gewesen, weil Tante Fritze sich so viel aus Herrn Bergheim
machte, oder er hatte jetzt erst erfahren, daß Onkel Aurelius nicht durch Schleich¬
wege die freie Wohnung im Schloß erhalten hatte, sondern weil er des Herrn
Ministers kostbaren Spazierstock mit dem goldnen Griff gefunden und wiedergebracht
hatte. Das war immerhin ein wenn auch nur kleines Verdienst um den Staat,
und deswegen konnte Onkel Aurelius ebensowohl im Schloß wohnen wie die alte
Demoiselle, die noch immer lebte und manchmal ans dem Fenster schaute. Aber
ihr Gesicht war sehr klein, und ihre Augen waren matt und trübe geworden.


Grenzboten II 1906 49
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[0397] Menschenfrühling Christel wirst du auf dieser Erde nicht mehr sehen, Kind. Sie ist tot und schon lange begraben. Deshalb sind ihre Eltern auf Reisen gegangen, und vielleicht kehren sie niemals zurück. Frau Doktor Sudeck hats wenigstens gesagt. Aber vielleicht besinnt sie sich spater und zieht doch wieder ein in das alte Haus. Überall wird schnell vergessen, und die Kaffeegesellschaften wollen dann auch von andern Dingen sprechen. Christel ist tot. Träumerisch sah Anneli zur Zimmerdecke empor. Sie war von alten Zeiten her bunt bemalt, mit Rosenranken und lustigen kleinen Engels¬ köpfchen. Einer von ihnen lächelte, wie Christel lächeln konnte. War Christel so krank, wie ich es gewesen bin? Ans diese Frage räusperte sich der Kandidat und betrachtete ebenfalls die Zimmerdecke. Sie war krank, erwiderte er dann ernsthaft. Sie war kränker als du, und deshalb ist sie auch gestorben. Das Leben wäre nichts für sie gewesen, denn die Menschen sind nicht so barmherzig wie unser himmlischer Vater. Er hat Geduld mit seinen vielen Kindern und nimmt sie auf, wenn sie nicht aus und ein wissen und sich zu ihm flüchten. Aber die Welt hat keine Geduld. Dafür ist sie eben die Welt. Onkel Aurelius redete noch weiter. Obgleich er von der Kanzel nicht sprechen konnte, so hatte er doch allerhand Gedanken und freute sich, sie Anneli sagen zu können. Sie lag ganz still und sah ihn aufmerksam an. Christel war tot. Mehr konnte sie nicht denken, aber es war genug für sie. Der Oktoberwind fuhr um das alte Schloß und klapperte am schadhaften Dach. Er heulte in deu weiten Kaminen und stöhnte grimmig, wenn sich ihm eine Ofentür entgegenstellte. Aber er brachte sie doch auch zum Klappern und Kreischen, daß Anneli den Kopf hob, weil sie glaubte, Stimmen zu vernehmen. Aber es waren nur die Stimmen des herannahenden Winters, nur die Gewi߬ heit, daß es nun kalt und dunkel werden würde. Und ganz einsam. Anneli legte den Kopf in die Kissen. Sie hatte Christel lieb gehabt, viel lieber, als sie geahnt hatte. Nun war sie tot und begraben! Tot und begraben. Der Wind heulte, wimmerte und schrie. Die Bäume bogen sich rauschend, und ein Ziegel fiel klirrend zur Erde. Tot und begraben. Und dazwischen klang eine lachende, spöttische Stimme. Ich bin abgerutscht. Dazu braucht man nicht alt zu sein wie Tante Fritze. Abrutschen kann man immer! 13 Onkel Willi war gut. Er kam in einen Pelzrock gehüllt und saß an Aureus Bett, erzählte ihr kleine Geschichten und entschuldigte sich halbwegs, daß er seine kleine Nichte nicht aufnehmen könnte. Aber Schwester Lene hatte keine Lust ge¬ habt, sich den Haushalt noch schwerer machen zu lassen, und Onkel Aurelius hatte Slina Böteführ, die so tüchtig war und alles für ihn tat. Der Hofrat sagte jetzt auch Onkel Aurelius und war in seiner zerstreuten Art viel freundlicher gegen den Kandidaten als ehemals. Vielleicht war er damals ein wenig eifersüchtig gewesen, weil Tante Fritze sich so viel aus Herrn Bergheim machte, oder er hatte jetzt erst erfahren, daß Onkel Aurelius nicht durch Schleich¬ wege die freie Wohnung im Schloß erhalten hatte, sondern weil er des Herrn Ministers kostbaren Spazierstock mit dem goldnen Griff gefunden und wiedergebracht hatte. Das war immerhin ein wenn auch nur kleines Verdienst um den Staat, und deswegen konnte Onkel Aurelius ebensowohl im Schloß wohnen wie die alte Demoiselle, die noch immer lebte und manchmal ans dem Fenster schaute. Aber ihr Gesicht war sehr klein, und ihre Augen waren matt und trübe geworden. Grenzboten II 1906 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/397>, abgerufen am 27.12.2024.