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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stoff und Geist in der Philologie

der Völker betrachtet wird, erst wenn zu dem Forschen auch wieder das
selbständige, von keiner Schulmeinung beengte Denken als die eigentlich treibende
Kraft hinzutreten wird, erst dann wird sich die Philologie zu einer Kultur¬
wissenschaft erweitern, den Naturwissenschaften ebenbürtig gegenübertreten, und
erst dann wird die Klage Lagardes gegenstandlos werden, der einmal erklärt,
"das Übergewicht der Naturwissenschaften rührt mit daher, daß die Wissenschaft
des Geistes wenig mehr aufweist als die advokatorisch aufgeputzte Subjektivität
der verschiednen Parteien. Was lernen wir Nichtnaturforscher auf der Universität
als Theorien, Phrasen und Worte, was im sogenannten Leben als Formalien?
Unsre Urteile über Poesie, Musik und Philosophie sind die der Kompendien
und Rezensionsfabriken."

Mag diese Äußerung auch zu hart erscheinen, so hat sie doch einen durch¬
aus berechtigten Kern: den Kampf gegen den in den Geisteswissenschaften
herrschenden Dogmatismus und Formalismus. Das jurars in verts. lug-Astri
spielt ja leider nicht nur in unsern Schulen, sondern auch in unserm akademischen
Kollegs- und Prüfungswesen noch immer eine bedenkliche Rolle gegenüber der
Anleitung zu voraussetzungslosen Forschen und Finden in den Naturwissen¬
schaften. Und darauf spielt offenbar Lagarde an. Das kann nur anders werden,
wenn der freie Forschergeist in den Geisteswissenschaften wieder mehr zur Geltung
kommt und sie ihres Namens würdig macht, wenn das eigne Schaffen in der
geisteswissenschaftlichen Arbeit wieder als das Hauptziel der Forschung be¬
zeichnet wird, und das schöne Wort Schellings mehr zu Ehren gelangt: "Alle
Regeln, die man dem Studierenden vorschreiben könnte, fassen sich in der einen
zusammen: "Lerne nur, um selbst zu schaffen." Nur durch dieses göttliche
Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine
leidlich klug eingerichtete Maschine." Gerade die Geisteswissenschaften haben
im Zeitalter der Maschine einen schweren Stand, und die Gefahr der Mechani¬
sierung liegt jetzt noch näher als früher. Darum muß vor allem die Philosophie
wieder mehr zu einer Herdgöttin des Geisteslebens, zu einer Hüterin der Form
und des Geschmacks werden; denn gerade an Geschmack und Formgefühl fehlt es
dem deutschen Gelehrten immer noch zu sehr; seine Arbeit soll aber nicht wirken
wie "ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer", sondern wie ein Weihrauchfaß
und eine Tempelhalle. Gewiß ist Philologenarbeit nicht immer reinliche Arbeit;
aber der Philologe ist nicht nur Forscher, sondern auch Former und Dar¬
steller, und als solcher soll er nicht dem Handwerker, sondern dem Künstler
gleichen und dem Denker. Er soll sich nicht scheuen, vor ein großes Publikum
zu treten, seine Gedanken in allgemein faßliche und plastische Formen zu gieße"
und Begeisterung für seinen Gegenstand zu wecken, weit- und tiefgehende Pro¬
bleme anzudeuten, auch wenn er sich nicht getraut, sie zu lösen (die Befruch¬
tung bleibt doch nicht aus), und vor allem dem Geiste zu geben, was des
Geistes, und dem Stoffe, was des Stoffes ist. Das Beste aber gebührt
dem Geiste.




Stoff und Geist in der Philologie

der Völker betrachtet wird, erst wenn zu dem Forschen auch wieder das
selbständige, von keiner Schulmeinung beengte Denken als die eigentlich treibende
Kraft hinzutreten wird, erst dann wird sich die Philologie zu einer Kultur¬
wissenschaft erweitern, den Naturwissenschaften ebenbürtig gegenübertreten, und
erst dann wird die Klage Lagardes gegenstandlos werden, der einmal erklärt,
„das Übergewicht der Naturwissenschaften rührt mit daher, daß die Wissenschaft
des Geistes wenig mehr aufweist als die advokatorisch aufgeputzte Subjektivität
der verschiednen Parteien. Was lernen wir Nichtnaturforscher auf der Universität
als Theorien, Phrasen und Worte, was im sogenannten Leben als Formalien?
Unsre Urteile über Poesie, Musik und Philosophie sind die der Kompendien
und Rezensionsfabriken."

Mag diese Äußerung auch zu hart erscheinen, so hat sie doch einen durch¬
aus berechtigten Kern: den Kampf gegen den in den Geisteswissenschaften
herrschenden Dogmatismus und Formalismus. Das jurars in verts. lug-Astri
spielt ja leider nicht nur in unsern Schulen, sondern auch in unserm akademischen
Kollegs- und Prüfungswesen noch immer eine bedenkliche Rolle gegenüber der
Anleitung zu voraussetzungslosen Forschen und Finden in den Naturwissen¬
schaften. Und darauf spielt offenbar Lagarde an. Das kann nur anders werden,
wenn der freie Forschergeist in den Geisteswissenschaften wieder mehr zur Geltung
kommt und sie ihres Namens würdig macht, wenn das eigne Schaffen in der
geisteswissenschaftlichen Arbeit wieder als das Hauptziel der Forschung be¬
zeichnet wird, und das schöne Wort Schellings mehr zu Ehren gelangt: „Alle
Regeln, die man dem Studierenden vorschreiben könnte, fassen sich in der einen
zusammen: »Lerne nur, um selbst zu schaffen.« Nur durch dieses göttliche
Vermögen der Produktion ist man wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine
leidlich klug eingerichtete Maschine." Gerade die Geisteswissenschaften haben
im Zeitalter der Maschine einen schweren Stand, und die Gefahr der Mechani¬
sierung liegt jetzt noch näher als früher. Darum muß vor allem die Philosophie
wieder mehr zu einer Herdgöttin des Geisteslebens, zu einer Hüterin der Form
und des Geschmacks werden; denn gerade an Geschmack und Formgefühl fehlt es
dem deutschen Gelehrten immer noch zu sehr; seine Arbeit soll aber nicht wirken
wie „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer", sondern wie ein Weihrauchfaß
und eine Tempelhalle. Gewiß ist Philologenarbeit nicht immer reinliche Arbeit;
aber der Philologe ist nicht nur Forscher, sondern auch Former und Dar¬
steller, und als solcher soll er nicht dem Handwerker, sondern dem Künstler
gleichen und dem Denker. Er soll sich nicht scheuen, vor ein großes Publikum
zu treten, seine Gedanken in allgemein faßliche und plastische Formen zu gieße»
und Begeisterung für seinen Gegenstand zu wecken, weit- und tiefgehende Pro¬
bleme anzudeuten, auch wenn er sich nicht getraut, sie zu lösen (die Befruch¬
tung bleibt doch nicht aus), und vor allem dem Geiste zu geben, was des
Geistes, und dem Stoffe, was des Stoffes ist. Das Beste aber gebührt
dem Geiste.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/388>, abgerufen am 27.12.2024.