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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stoff und Geist in der Philologie

gegeben. (Die zweite Ausgabe der Übersetzung von A. Hippius ist 1905 bei
Friedrich Emil Perthes in Gotha erschienen.) Das Buch liest sich angenehm,
und manches darin, wie das über die religiöse und die weltliche Volkspoesie
der Russen im Mittelalter mitgeteilte, war uns neu.




Stoff und Geist in der Philologie

le Philologie ist heute sicher eine der unpopulärsten Wissenschaften.
Vielleicht noch unpopulärer als die Theologie. Ärzten, Juristen,
Philosophen hat man Denkmäler gesetzt, wo aber hätte ein Philo¬
loge seinen Denkstein bekommen? Mit den Brüdern Grimm hat
man wohl aus nationalen Gründen eine Ausnahme gemacht. Die
Gründe dieser Erscheinung liegen in dem Wesen und in der Entwicklung der
Philologie im Kreise der Geisteswissenschaften. Sie ist ursprünglich keine Eigen¬
wissenschaft wie die übrigen, sondern eine Hilfswissenschaft, keine herrschende,
sondern eine dienende Wissenschaft; sie dient den Geisteswissenschaften, indem
sie ihnen Material liefert, es ordnet, säubert und sichtet, Texte emendiert,
kollationiert, edlere, die dann von dem Sprach-, Literatur- und Geschichtsforscher
für seine höhern Zwecke benutzt und verarbeitet werden, kurz, sie ist mehr eine
Stoff- als eine Geisteswissenschaft; ihre Vertreter sind mehr Sammler und
Ordner als Darsteller und Bildner. Das schöpferische Wesen, das jeder andern
Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade eigen ist, scheidet bei ihr völlig aus;
denn einen Grammatiker und Lexikographen wird noch niemand als einen
schöpferischen Gestalter bezeichnen. Der Philologe ist also, um einen nahe¬
liegenden Vergleich zu gebrauchen, nicht Produzent, sondern nur Vermittler:
er vermittelt den von ihm gefundnen Stoff den geistigen Konsumenten der
Wissenschaft, den Forschern zur weitern Behandlung. Daher die untergeordnete
Stellung der Philologie.

In Wahrheit gibt es aber in der modernen Wissenschaft gar keine solchen
"Philologen" mehr; denn welcher denkende Mensch würde sich mit der bloßen
Maulwurfsarbeit, Stoff herbei zu schaffen, begnügen oder gar darin seine Be¬
friedigung finden? Solche Gestalten wie die des Famulus Wagner im Faust
gehören ja glücklicherweise der Vergangenheit an, wenn es auch noch heute
vereinzelte Gelehrte geben mag, die beim Anblick einer Handschrift in Ver¬
zückung geraten, während sie doch nur das zufällige Mittel der Überlieferung
ist- Im Mittelalter und in der Humanistenzeit war freilich das Abschreiben
und Herausgeben alter handschriftlicher Texte die Haupttätigkeit des Philologen,
und bei ihrer tatsächlichen Wichtigkeit konnte sie deshalb manchem als eigent¬
liches Ziel des Gelehrtenlebens erscheinen. Hieraus erklärt sich wohl auch der
berüchtigte Philologendünkel, der einen ähnlichen Ursprung hat wie der Schneider¬
dünkel: wie sich der Schneider einbildet, daß er durch die Kleider erst den
Menschen zum Menschen mache, so auch der Philologe von ehedem, daß er
durch Herausgabe eines alten Textes einen Teil der geistigen Blöße der Mensch-


Stoff und Geist in der Philologie

gegeben. (Die zweite Ausgabe der Übersetzung von A. Hippius ist 1905 bei
Friedrich Emil Perthes in Gotha erschienen.) Das Buch liest sich angenehm,
und manches darin, wie das über die religiöse und die weltliche Volkspoesie
der Russen im Mittelalter mitgeteilte, war uns neu.




Stoff und Geist in der Philologie

le Philologie ist heute sicher eine der unpopulärsten Wissenschaften.
Vielleicht noch unpopulärer als die Theologie. Ärzten, Juristen,
Philosophen hat man Denkmäler gesetzt, wo aber hätte ein Philo¬
loge seinen Denkstein bekommen? Mit den Brüdern Grimm hat
man wohl aus nationalen Gründen eine Ausnahme gemacht. Die
Gründe dieser Erscheinung liegen in dem Wesen und in der Entwicklung der
Philologie im Kreise der Geisteswissenschaften. Sie ist ursprünglich keine Eigen¬
wissenschaft wie die übrigen, sondern eine Hilfswissenschaft, keine herrschende,
sondern eine dienende Wissenschaft; sie dient den Geisteswissenschaften, indem
sie ihnen Material liefert, es ordnet, säubert und sichtet, Texte emendiert,
kollationiert, edlere, die dann von dem Sprach-, Literatur- und Geschichtsforscher
für seine höhern Zwecke benutzt und verarbeitet werden, kurz, sie ist mehr eine
Stoff- als eine Geisteswissenschaft; ihre Vertreter sind mehr Sammler und
Ordner als Darsteller und Bildner. Das schöpferische Wesen, das jeder andern
Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade eigen ist, scheidet bei ihr völlig aus;
denn einen Grammatiker und Lexikographen wird noch niemand als einen
schöpferischen Gestalter bezeichnen. Der Philologe ist also, um einen nahe¬
liegenden Vergleich zu gebrauchen, nicht Produzent, sondern nur Vermittler:
er vermittelt den von ihm gefundnen Stoff den geistigen Konsumenten der
Wissenschaft, den Forschern zur weitern Behandlung. Daher die untergeordnete
Stellung der Philologie.

In Wahrheit gibt es aber in der modernen Wissenschaft gar keine solchen
„Philologen" mehr; denn welcher denkende Mensch würde sich mit der bloßen
Maulwurfsarbeit, Stoff herbei zu schaffen, begnügen oder gar darin seine Be¬
friedigung finden? Solche Gestalten wie die des Famulus Wagner im Faust
gehören ja glücklicherweise der Vergangenheit an, wenn es auch noch heute
vereinzelte Gelehrte geben mag, die beim Anblick einer Handschrift in Ver¬
zückung geraten, während sie doch nur das zufällige Mittel der Überlieferung
ist- Im Mittelalter und in der Humanistenzeit war freilich das Abschreiben
und Herausgeben alter handschriftlicher Texte die Haupttätigkeit des Philologen,
und bei ihrer tatsächlichen Wichtigkeit konnte sie deshalb manchem als eigent¬
liches Ziel des Gelehrtenlebens erscheinen. Hieraus erklärt sich wohl auch der
berüchtigte Philologendünkel, der einen ähnlichen Ursprung hat wie der Schneider¬
dünkel: wie sich der Schneider einbildet, daß er durch die Kleider erst den
Menschen zum Menschen mache, so auch der Philologe von ehedem, daß er
durch Herausgabe eines alten Textes einen Teil der geistigen Blöße der Mensch-


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[0379] Stoff und Geist in der Philologie gegeben. (Die zweite Ausgabe der Übersetzung von A. Hippius ist 1905 bei Friedrich Emil Perthes in Gotha erschienen.) Das Buch liest sich angenehm, und manches darin, wie das über die religiöse und die weltliche Volkspoesie der Russen im Mittelalter mitgeteilte, war uns neu. Stoff und Geist in der Philologie le Philologie ist heute sicher eine der unpopulärsten Wissenschaften. Vielleicht noch unpopulärer als die Theologie. Ärzten, Juristen, Philosophen hat man Denkmäler gesetzt, wo aber hätte ein Philo¬ loge seinen Denkstein bekommen? Mit den Brüdern Grimm hat man wohl aus nationalen Gründen eine Ausnahme gemacht. Die Gründe dieser Erscheinung liegen in dem Wesen und in der Entwicklung der Philologie im Kreise der Geisteswissenschaften. Sie ist ursprünglich keine Eigen¬ wissenschaft wie die übrigen, sondern eine Hilfswissenschaft, keine herrschende, sondern eine dienende Wissenschaft; sie dient den Geisteswissenschaften, indem sie ihnen Material liefert, es ordnet, säubert und sichtet, Texte emendiert, kollationiert, edlere, die dann von dem Sprach-, Literatur- und Geschichtsforscher für seine höhern Zwecke benutzt und verarbeitet werden, kurz, sie ist mehr eine Stoff- als eine Geisteswissenschaft; ihre Vertreter sind mehr Sammler und Ordner als Darsteller und Bildner. Das schöpferische Wesen, das jeder andern Wissenschaft bis zu einem gewissen Grade eigen ist, scheidet bei ihr völlig aus; denn einen Grammatiker und Lexikographen wird noch niemand als einen schöpferischen Gestalter bezeichnen. Der Philologe ist also, um einen nahe¬ liegenden Vergleich zu gebrauchen, nicht Produzent, sondern nur Vermittler: er vermittelt den von ihm gefundnen Stoff den geistigen Konsumenten der Wissenschaft, den Forschern zur weitern Behandlung. Daher die untergeordnete Stellung der Philologie. In Wahrheit gibt es aber in der modernen Wissenschaft gar keine solchen „Philologen" mehr; denn welcher denkende Mensch würde sich mit der bloßen Maulwurfsarbeit, Stoff herbei zu schaffen, begnügen oder gar darin seine Be¬ friedigung finden? Solche Gestalten wie die des Famulus Wagner im Faust gehören ja glücklicherweise der Vergangenheit an, wenn es auch noch heute vereinzelte Gelehrte geben mag, die beim Anblick einer Handschrift in Ver¬ zückung geraten, während sie doch nur das zufällige Mittel der Überlieferung ist- Im Mittelalter und in der Humanistenzeit war freilich das Abschreiben und Herausgeben alter handschriftlicher Texte die Haupttätigkeit des Philologen, und bei ihrer tatsächlichen Wichtigkeit konnte sie deshalb manchem als eigent¬ liches Ziel des Gelehrtenlebens erscheinen. Hieraus erklärt sich wohl auch der berüchtigte Philologendünkel, der einen ähnlichen Ursprung hat wie der Schneider¬ dünkel: wie sich der Schneider einbildet, daß er durch die Kleider erst den Menschen zum Menschen mache, so auch der Philologe von ehedem, daß er durch Herausgabe eines alten Textes einen Teil der geistigen Blöße der Mensch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/379>, abgerufen am 04.07.2024.