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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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keit drängten ihn aber immer mehr in die Pose des großen Reformators, bis
er schließlich im Parlament erklärte, daß es für ihn in der Wahlreformfrage
nur zweierlei gebe: den tarpejischen Felsen oder die vin, trwmxdalis. Seitdem
gab es für ihn kein Zurück mehr; aber nun wuchsen auch die Hindernisse auf
seinem Wege, denn von dem Augenblick an, wo die Wahlreformfrage von dem Ge¬
biete theoretischer Erörterung auf das der praktischen Betätigung geschoben worden
war, war auch die theoretische Begeisterung der Abgeordneten und der Parteien
für das allgemeine, gleiche Wahlrecht der peinlichen Empfindung einer drohenden
Gefahr gewichen. Unbedingt sicher war der Ministerpräsident im Parlament
nur der Sozialdemokraten, der Tschechen, der Südslawen und der Ruthenen, da
diese Gruppen von der geplanten Wahlreform profitieren mußten. Unbedingt
abgeneigt waren die Großgrundbesitzer, die Polen und die deutsche bäuerliche und
bürgerliche Bevölkerung. Gegenüber dieser versuchte man es probeweise mit einer
Entfaltung des sozialdemokratischen Straßenterrorismus. Unter der Patronanz
der Regierung wurden in allen größern Städten sozialdemokratische Straßen¬
kundgebungen veranstaltet, wobei unter passiver Assistenz der Behörden in Wien
Tausende von Handwerkern und Ladeninhabern gezwungen wurden, ihre Läden
zu schließen Und auch ihre nichtsozialdemokratischen Arbeiter und Angestellten
zur Teilnahme an dem sozialdemokratischen Umzüge zu kommandieren. So ge¬
wissenlos von der Seite der Regierung dieses Zusammenwirken mit der Sozial¬
demokratie war, so wirksam war es: die Bürgerschaft ballte die Faust in der
Tasche, ließ aber die Insulte ruhig über sich ergehn, zumal da die Regierung
dadurch, daß sie sich an die Spitze der Wahlreformbewegung stellte, alle die
Parteien, die sich mit der Organisation der Arbeiterschaft gegen die Sozial¬
demokratie befassen, gezwungen hatte, schon aus taktischen Gründen für die Ein¬
führung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts Stellung zu nehmen.

Damit war der bürgerlichen Gesellschaft das Rückgrat gebrochen, und es
blieb der Negierung nur noch übrig, die Vereinigung der Gegner der Wahl¬
reform im Parlament zu hintertreiben, und zu diesem Zwecke hielt Freiherr
von Gciutsch auf offnem Markte einige Dutzend Mandate feil.




Neue Bücher über Rußland

>er zweite Band des ausgezeichneten Werkes: Rußland von Sir
Donald Mackenzie Wallace (siehe das 3. Heft der Grenzboten)
behandelt die kaiserliche Regierung und die Beamten, Moskau und
die Slawophilen, Se. Petersburg und den europäischen Einfluß,
"den Krimkrieg und seine Folgen, die Leibeignen und ihre Be¬
freiung, die Lage des befreiten Bauernstandes, die Semstwo und die örtliche
Selbstverwaltung, die neuen Gerichtshöfe, Nihilismus und Reaktion, sozialistische
Propaganda, Industrie und Proletariat, die revolutionäre Bewegung, Gebiets¬
ausdehnung und auswärtige Politik, die gegenwärtige Lage. Der Übersetzer,


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keit drängten ihn aber immer mehr in die Pose des großen Reformators, bis
er schließlich im Parlament erklärte, daß es für ihn in der Wahlreformfrage
nur zweierlei gebe: den tarpejischen Felsen oder die vin, trwmxdalis. Seitdem
gab es für ihn kein Zurück mehr; aber nun wuchsen auch die Hindernisse auf
seinem Wege, denn von dem Augenblick an, wo die Wahlreformfrage von dem Ge¬
biete theoretischer Erörterung auf das der praktischen Betätigung geschoben worden
war, war auch die theoretische Begeisterung der Abgeordneten und der Parteien
für das allgemeine, gleiche Wahlrecht der peinlichen Empfindung einer drohenden
Gefahr gewichen. Unbedingt sicher war der Ministerpräsident im Parlament
nur der Sozialdemokraten, der Tschechen, der Südslawen und der Ruthenen, da
diese Gruppen von der geplanten Wahlreform profitieren mußten. Unbedingt
abgeneigt waren die Großgrundbesitzer, die Polen und die deutsche bäuerliche und
bürgerliche Bevölkerung. Gegenüber dieser versuchte man es probeweise mit einer
Entfaltung des sozialdemokratischen Straßenterrorismus. Unter der Patronanz
der Regierung wurden in allen größern Städten sozialdemokratische Straßen¬
kundgebungen veranstaltet, wobei unter passiver Assistenz der Behörden in Wien
Tausende von Handwerkern und Ladeninhabern gezwungen wurden, ihre Läden
zu schließen Und auch ihre nichtsozialdemokratischen Arbeiter und Angestellten
zur Teilnahme an dem sozialdemokratischen Umzüge zu kommandieren. So ge¬
wissenlos von der Seite der Regierung dieses Zusammenwirken mit der Sozial¬
demokratie war, so wirksam war es: die Bürgerschaft ballte die Faust in der
Tasche, ließ aber die Insulte ruhig über sich ergehn, zumal da die Regierung
dadurch, daß sie sich an die Spitze der Wahlreformbewegung stellte, alle die
Parteien, die sich mit der Organisation der Arbeiterschaft gegen die Sozial¬
demokratie befassen, gezwungen hatte, schon aus taktischen Gründen für die Ein¬
führung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts Stellung zu nehmen.

Damit war der bürgerlichen Gesellschaft das Rückgrat gebrochen, und es
blieb der Negierung nur noch übrig, die Vereinigung der Gegner der Wahl¬
reform im Parlament zu hintertreiben, und zu diesem Zwecke hielt Freiherr
von Gciutsch auf offnem Markte einige Dutzend Mandate feil.




Neue Bücher über Rußland

>er zweite Band des ausgezeichneten Werkes: Rußland von Sir
Donald Mackenzie Wallace (siehe das 3. Heft der Grenzboten)
behandelt die kaiserliche Regierung und die Beamten, Moskau und
die Slawophilen, Se. Petersburg und den europäischen Einfluß,
«den Krimkrieg und seine Folgen, die Leibeignen und ihre Be¬
freiung, die Lage des befreiten Bauernstandes, die Semstwo und die örtliche
Selbstverwaltung, die neuen Gerichtshöfe, Nihilismus und Reaktion, sozialistische
Propaganda, Industrie und Proletariat, die revolutionäre Bewegung, Gebiets¬
ausdehnung und auswärtige Politik, die gegenwärtige Lage. Der Übersetzer,


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[0369] Neue Bücher über Rußland^ keit drängten ihn aber immer mehr in die Pose des großen Reformators, bis er schließlich im Parlament erklärte, daß es für ihn in der Wahlreformfrage nur zweierlei gebe: den tarpejischen Felsen oder die vin, trwmxdalis. Seitdem gab es für ihn kein Zurück mehr; aber nun wuchsen auch die Hindernisse auf seinem Wege, denn von dem Augenblick an, wo die Wahlreformfrage von dem Ge¬ biete theoretischer Erörterung auf das der praktischen Betätigung geschoben worden war, war auch die theoretische Begeisterung der Abgeordneten und der Parteien für das allgemeine, gleiche Wahlrecht der peinlichen Empfindung einer drohenden Gefahr gewichen. Unbedingt sicher war der Ministerpräsident im Parlament nur der Sozialdemokraten, der Tschechen, der Südslawen und der Ruthenen, da diese Gruppen von der geplanten Wahlreform profitieren mußten. Unbedingt abgeneigt waren die Großgrundbesitzer, die Polen und die deutsche bäuerliche und bürgerliche Bevölkerung. Gegenüber dieser versuchte man es probeweise mit einer Entfaltung des sozialdemokratischen Straßenterrorismus. Unter der Patronanz der Regierung wurden in allen größern Städten sozialdemokratische Straßen¬ kundgebungen veranstaltet, wobei unter passiver Assistenz der Behörden in Wien Tausende von Handwerkern und Ladeninhabern gezwungen wurden, ihre Läden zu schließen Und auch ihre nichtsozialdemokratischen Arbeiter und Angestellten zur Teilnahme an dem sozialdemokratischen Umzüge zu kommandieren. So ge¬ wissenlos von der Seite der Regierung dieses Zusammenwirken mit der Sozial¬ demokratie war, so wirksam war es: die Bürgerschaft ballte die Faust in der Tasche, ließ aber die Insulte ruhig über sich ergehn, zumal da die Regierung dadurch, daß sie sich an die Spitze der Wahlreformbewegung stellte, alle die Parteien, die sich mit der Organisation der Arbeiterschaft gegen die Sozial¬ demokratie befassen, gezwungen hatte, schon aus taktischen Gründen für die Ein¬ führung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts Stellung zu nehmen. Damit war der bürgerlichen Gesellschaft das Rückgrat gebrochen, und es blieb der Negierung nur noch übrig, die Vereinigung der Gegner der Wahl¬ reform im Parlament zu hintertreiben, und zu diesem Zwecke hielt Freiherr von Gciutsch auf offnem Markte einige Dutzend Mandate feil. Neue Bücher über Rußland >er zweite Band des ausgezeichneten Werkes: Rußland von Sir Donald Mackenzie Wallace (siehe das 3. Heft der Grenzboten) behandelt die kaiserliche Regierung und die Beamten, Moskau und die Slawophilen, Se. Petersburg und den europäischen Einfluß, «den Krimkrieg und seine Folgen, die Leibeignen und ihre Be¬ freiung, die Lage des befreiten Bauernstandes, die Semstwo und die örtliche Selbstverwaltung, die neuen Gerichtshöfe, Nihilismus und Reaktion, sozialistische Propaganda, Industrie und Proletariat, die revolutionäre Bewegung, Gebiets¬ ausdehnung und auswärtige Politik, die gegenwärtige Lage. Der Übersetzer,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/369>, abgerufen am 27.12.2024.