Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Ausgestorbne und aussterbende Tiere eingebornen Instinkt befähigt ist, sich zu ernähren und seine Art fortzupflanzen. Ganz anders ist der Mensch ausgestattet; er weiß von Haus aus gar Ausgestorbne und aussterbende Tiere eingebornen Instinkt befähigt ist, sich zu ernähren und seine Art fortzupflanzen. Ganz anders ist der Mensch ausgestattet; er weiß von Haus aus gar <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299369"/> <fw type="header" place="top"> Ausgestorbne und aussterbende Tiere</fw><lb/> <p xml:id="ID_1434" prev="#ID_1433"> eingebornen Instinkt befähigt ist, sich zu ernähren und seine Art fortzupflanzen.<lb/> Das Tier lernt nichts zu, und die Bienen haben ihre Zellen gebaut, die<lb/> Spinnen haben ihre Netze gewoben vor Tausenden von Jahren wie heute.<lb/> Jede Tierart hat ihre besondern Instinkte; eine Vogelart baut ihr Nest nach<lb/> einem besondern Muster, aus einem bestimmten Material, an einem gewissen<lb/> Ort, das Weibchen legt eine feststehende Anzahl von Eiern hinein, die immer<lb/> dieselbe Größe, Farbe und Form haben, und bebrütet sie eine gewisse Anzahl<lb/> von Tagen. Die Zugvögel treten ohne Kenntnis von Kalender und Land¬<lb/> karte ihre Wanderung an. Man hat gesagt, die Jungen würden hierin von<lb/> den Alten belehrt und von ihnen mitgenommen, genaue Veobachtuugen aber<lb/> haben gezeigt, daß das nicht der Fall ist. Bei den Staren und vielen andern<lb/> Vögeln eröffnen die jungen Tiere, die im laufenden Jahre das Nest verlassen<lb/> haben, den Zug und wandern in südliche Gegenden, in denen sie bisher nie<lb/> waren, und erst sechs Wochen später ziehn die alten Vögel ihnen nach. Die<lb/> Tiere müssen neben den fünf Sinnen, über die die Menschen verfügen, noch andre<lb/> uns unbekannte haben, denn wenn Brieftauben von Madrid nach Berlin fliegen<lb/> und dabei auch bei dunkler Nacht reisen, so reichen für diese Leistung die<lb/> Sinne des Gesichts, des Gehörs, des Geschmacks, des Geruchs und des Gefühls<lb/> nicht aus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1435" next="#ID_1436"> Ganz anders ist der Mensch ausgestattet; er weiß von Haus aus gar<lb/> nichts und muß alles erst lernen. Würde man einen Menschen allein ohne<lb/> Anleitung und Hilfe sich selbst überlassen, so würde er ein völlig hilfloses<lb/> Wesen sein. Nicht einmal den Gebrauch des Feuers würde er kennen, er<lb/> würde keine Kleidung, keine Waffen und keine Wohnung und Nahrung haben;<lb/> der Mensch steht aber andrerseits hoch über dem Tier dadurch, daß er Geist<lb/> und Sprache hat. Jede Generation lernt von der vorhergehenden; der Mensch<lb/> hat eine Kulturgeschichte, die dem Tiere fehlt. Zwischen Mensch und Tier be¬<lb/> steht eine unüberbrückbare Kluft, und darum können die Menschen nie aus<lb/> Tieren entstanden sein. Von dem Ursprung des Menschen weiß die exakte<lb/> Wissenschaft nichts. Auch von dem Entstehn des Lebens und der ersten Lebe¬<lb/> wesen auf der Erde weiß die wahre Wissenschaft nichts. Weil der Darwi¬<lb/> nismus diesen Satz selber zugestehn muß, nimmt er, um sich zu retten, seine<lb/> Zuflucht zu einem sonderbaren Mittel. Er behauptet, eine Lebenskraft gebe<lb/> es überhaupt nicht, das Leben sei nur eine Funktionsäußerung der Materie.<lb/> Wenn es keine Lebenskraft und kein Leben gäbe, so gäbe es auch keinen<lb/> Tod, und die Lebenskraft aus der Materie zu erklären ist unmöglich, weil<lb/> sie die Gesetze der Physik und der Chemie planvoll bekämpft. Wenn der<lb/> menschliche Körper, möge er im höchsten Norden umgeben sein von einer Luft<lb/> von dreißig Grad Kälte oder in heißen Zonen von einer von dreißig Grad<lb/> Wärme, beständig eine Eigenwärme von genau derselben Höhe bewahrt, so ist<lb/> das eine Äußerung der Lebenskraft, die den Gesetzen der toten Materie selb¬<lb/> ständig gegenübersteht und erst mit dem Tode erlischt. Alle Lebensäußerungen<lb/> der Pflanzen, Tiere und Menschen sind zweckmäßig und teleologisch. Wenn<lb/> im hohen Norden der Polarfuchs bei herannahendem Winter die braune Farbe<lb/> des Rückens verliert und ganz weiß wird, und dasselbe gilt von mehreren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Ausgestorbne und aussterbende Tiere
eingebornen Instinkt befähigt ist, sich zu ernähren und seine Art fortzupflanzen.
Das Tier lernt nichts zu, und die Bienen haben ihre Zellen gebaut, die
Spinnen haben ihre Netze gewoben vor Tausenden von Jahren wie heute.
Jede Tierart hat ihre besondern Instinkte; eine Vogelart baut ihr Nest nach
einem besondern Muster, aus einem bestimmten Material, an einem gewissen
Ort, das Weibchen legt eine feststehende Anzahl von Eiern hinein, die immer
dieselbe Größe, Farbe und Form haben, und bebrütet sie eine gewisse Anzahl
von Tagen. Die Zugvögel treten ohne Kenntnis von Kalender und Land¬
karte ihre Wanderung an. Man hat gesagt, die Jungen würden hierin von
den Alten belehrt und von ihnen mitgenommen, genaue Veobachtuugen aber
haben gezeigt, daß das nicht der Fall ist. Bei den Staren und vielen andern
Vögeln eröffnen die jungen Tiere, die im laufenden Jahre das Nest verlassen
haben, den Zug und wandern in südliche Gegenden, in denen sie bisher nie
waren, und erst sechs Wochen später ziehn die alten Vögel ihnen nach. Die
Tiere müssen neben den fünf Sinnen, über die die Menschen verfügen, noch andre
uns unbekannte haben, denn wenn Brieftauben von Madrid nach Berlin fliegen
und dabei auch bei dunkler Nacht reisen, so reichen für diese Leistung die
Sinne des Gesichts, des Gehörs, des Geschmacks, des Geruchs und des Gefühls
nicht aus.
Ganz anders ist der Mensch ausgestattet; er weiß von Haus aus gar
nichts und muß alles erst lernen. Würde man einen Menschen allein ohne
Anleitung und Hilfe sich selbst überlassen, so würde er ein völlig hilfloses
Wesen sein. Nicht einmal den Gebrauch des Feuers würde er kennen, er
würde keine Kleidung, keine Waffen und keine Wohnung und Nahrung haben;
der Mensch steht aber andrerseits hoch über dem Tier dadurch, daß er Geist
und Sprache hat. Jede Generation lernt von der vorhergehenden; der Mensch
hat eine Kulturgeschichte, die dem Tiere fehlt. Zwischen Mensch und Tier be¬
steht eine unüberbrückbare Kluft, und darum können die Menschen nie aus
Tieren entstanden sein. Von dem Ursprung des Menschen weiß die exakte
Wissenschaft nichts. Auch von dem Entstehn des Lebens und der ersten Lebe¬
wesen auf der Erde weiß die wahre Wissenschaft nichts. Weil der Darwi¬
nismus diesen Satz selber zugestehn muß, nimmt er, um sich zu retten, seine
Zuflucht zu einem sonderbaren Mittel. Er behauptet, eine Lebenskraft gebe
es überhaupt nicht, das Leben sei nur eine Funktionsäußerung der Materie.
Wenn es keine Lebenskraft und kein Leben gäbe, so gäbe es auch keinen
Tod, und die Lebenskraft aus der Materie zu erklären ist unmöglich, weil
sie die Gesetze der Physik und der Chemie planvoll bekämpft. Wenn der
menschliche Körper, möge er im höchsten Norden umgeben sein von einer Luft
von dreißig Grad Kälte oder in heißen Zonen von einer von dreißig Grad
Wärme, beständig eine Eigenwärme von genau derselben Höhe bewahrt, so ist
das eine Äußerung der Lebenskraft, die den Gesetzen der toten Materie selb¬
ständig gegenübersteht und erst mit dem Tode erlischt. Alle Lebensäußerungen
der Pflanzen, Tiere und Menschen sind zweckmäßig und teleologisch. Wenn
im hohen Norden der Polarfuchs bei herannahendem Winter die braune Farbe
des Rückens verliert und ganz weiß wird, und dasselbe gilt von mehreren
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |