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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Der genesende Reichskanzler

is Fürst Bülow am 5. April dieses Jahres angesichts des Reichs¬
tags zusammengebrochen war, und die Kunde davon das Vater¬
land durcheilte, gab es wohl keinen im öffentlichen Leben stehenden
Deutschen, der nicht in jener Stunde im Geiste mit dem Reichs¬
kanzler seine politische Rechnung beglichen Hütte. Es wird dem
dritten Nachfolger Bismarcks einige Tage später auf dem Krankenbett eine er¬
freuliche Linderung gewesen sein, zu erfahren, daß durch alle Parteien des
Reichstags wie durch alle Schichten der Bevölkerung, bei denen vaterländische
Erwägungen überhaupt noch Geltung haben, der eine Gedanke einhellig über¬
wog, das Ausscheiden des Fürsten Bülow werde einen großen Verlust für das
Land bedeuten. Wie oft ist in jenen Tagen von den verschiedensten Seiten her
das Wort erklungen: Nur keinen Kanzlerwechsel! Je emsiger und tiefer sich die
Zeitungen aller Farben in dieses Thema versenkten -- das Ergebnis war wohl
immer dasselbe. Die einen hatten an dem Reichskanzler dieses, die andern jenes
auszusetzen, aber alle waren einig in der Schlußfolgerung, daß ein Wechsel in
der Besetzung des Kanzlerpostcns das Unerfreulichste sei, was Deutschland im
jetzigen Augenblick begegnen könne.

Jene vielfache Prüfung des Wertes, den Fürst Bülow für Deutschland
nach den verschiedensten Richtungen hin hat, eine gründliche, vorurteilslose Ab¬
schätzung dessen, was wir an ihm haben, hat die Deutschen dazu geführt, sich
über die Unterschiede klar zu werden, die zwischen den einzelnen Nachfolgern
Bismarcks bestehn.

Bismarck ist der einzige, der von innen in das Amt hineinwuchs, das
um ihn und durch ihn sich riesengroß gestaltete; er war zugleich Staatsmann
der innern wie der auswärtigen Politik gewesen, er war als Ministerpräsident
und Minister des Auswärtigen des führenden Staates, als Schöpfer der Reichs-
verfassung der gegebne Reichskanzler. Seine Nachfolger sind von außen, aus
dem Heere und aus der Diplomatie, in das Amt hineingegangen und mit dem
Reichskanzler zugleich unvermeidlich preußischer Ministerpräsident geworden, ohne
sich mit der innern Politik Preußens und des Reiches je befaßt zu haben.
Das bedingte sowohl den Parlamenten und den Parteien als auch dem
Bundesrat und dem preußischen Staatsministerium gegeuüber einen sehr großen
Unterschied, den zu überwinden nur dem Fürsten Bülow gelungen ist. Denn
das preußische Ministerpräsidium ist der Boden, aus dem die Institution des
Reichskanzlers herausgewachsen ist, auf dem sie steht, in dem sie wurzelt.

Ein großes Volk kann nicht immer von gigantischen Erscheinungen, von
Riesengestalten regiert werden. Die titanische Kraft ist nur da am Platze, wo




Der genesende Reichskanzler

is Fürst Bülow am 5. April dieses Jahres angesichts des Reichs¬
tags zusammengebrochen war, und die Kunde davon das Vater¬
land durcheilte, gab es wohl keinen im öffentlichen Leben stehenden
Deutschen, der nicht in jener Stunde im Geiste mit dem Reichs¬
kanzler seine politische Rechnung beglichen Hütte. Es wird dem
dritten Nachfolger Bismarcks einige Tage später auf dem Krankenbett eine er¬
freuliche Linderung gewesen sein, zu erfahren, daß durch alle Parteien des
Reichstags wie durch alle Schichten der Bevölkerung, bei denen vaterländische
Erwägungen überhaupt noch Geltung haben, der eine Gedanke einhellig über¬
wog, das Ausscheiden des Fürsten Bülow werde einen großen Verlust für das
Land bedeuten. Wie oft ist in jenen Tagen von den verschiedensten Seiten her
das Wort erklungen: Nur keinen Kanzlerwechsel! Je emsiger und tiefer sich die
Zeitungen aller Farben in dieses Thema versenkten — das Ergebnis war wohl
immer dasselbe. Die einen hatten an dem Reichskanzler dieses, die andern jenes
auszusetzen, aber alle waren einig in der Schlußfolgerung, daß ein Wechsel in
der Besetzung des Kanzlerpostcns das Unerfreulichste sei, was Deutschland im
jetzigen Augenblick begegnen könne.

Jene vielfache Prüfung des Wertes, den Fürst Bülow für Deutschland
nach den verschiedensten Richtungen hin hat, eine gründliche, vorurteilslose Ab¬
schätzung dessen, was wir an ihm haben, hat die Deutschen dazu geführt, sich
über die Unterschiede klar zu werden, die zwischen den einzelnen Nachfolgern
Bismarcks bestehn.

Bismarck ist der einzige, der von innen in das Amt hineinwuchs, das
um ihn und durch ihn sich riesengroß gestaltete; er war zugleich Staatsmann
der innern wie der auswärtigen Politik gewesen, er war als Ministerpräsident
und Minister des Auswärtigen des führenden Staates, als Schöpfer der Reichs-
verfassung der gegebne Reichskanzler. Seine Nachfolger sind von außen, aus
dem Heere und aus der Diplomatie, in das Amt hineingegangen und mit dem
Reichskanzler zugleich unvermeidlich preußischer Ministerpräsident geworden, ohne
sich mit der innern Politik Preußens und des Reiches je befaßt zu haben.
Das bedingte sowohl den Parlamenten und den Parteien als auch dem
Bundesrat und dem preußischen Staatsministerium gegeuüber einen sehr großen
Unterschied, den zu überwinden nur dem Fürsten Bülow gelungen ist. Denn
das preußische Ministerpräsidium ist der Boden, aus dem die Institution des
Reichskanzlers herausgewachsen ist, auf dem sie steht, in dem sie wurzelt.

Ein großes Volk kann nicht immer von gigantischen Erscheinungen, von
Riesengestalten regiert werden. Die titanische Kraft ist nur da am Platze, wo


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[0275] [Abbildung] Der genesende Reichskanzler is Fürst Bülow am 5. April dieses Jahres angesichts des Reichs¬ tags zusammengebrochen war, und die Kunde davon das Vater¬ land durcheilte, gab es wohl keinen im öffentlichen Leben stehenden Deutschen, der nicht in jener Stunde im Geiste mit dem Reichs¬ kanzler seine politische Rechnung beglichen Hütte. Es wird dem dritten Nachfolger Bismarcks einige Tage später auf dem Krankenbett eine er¬ freuliche Linderung gewesen sein, zu erfahren, daß durch alle Parteien des Reichstags wie durch alle Schichten der Bevölkerung, bei denen vaterländische Erwägungen überhaupt noch Geltung haben, der eine Gedanke einhellig über¬ wog, das Ausscheiden des Fürsten Bülow werde einen großen Verlust für das Land bedeuten. Wie oft ist in jenen Tagen von den verschiedensten Seiten her das Wort erklungen: Nur keinen Kanzlerwechsel! Je emsiger und tiefer sich die Zeitungen aller Farben in dieses Thema versenkten — das Ergebnis war wohl immer dasselbe. Die einen hatten an dem Reichskanzler dieses, die andern jenes auszusetzen, aber alle waren einig in der Schlußfolgerung, daß ein Wechsel in der Besetzung des Kanzlerpostcns das Unerfreulichste sei, was Deutschland im jetzigen Augenblick begegnen könne. Jene vielfache Prüfung des Wertes, den Fürst Bülow für Deutschland nach den verschiedensten Richtungen hin hat, eine gründliche, vorurteilslose Ab¬ schätzung dessen, was wir an ihm haben, hat die Deutschen dazu geführt, sich über die Unterschiede klar zu werden, die zwischen den einzelnen Nachfolgern Bismarcks bestehn. Bismarck ist der einzige, der von innen in das Amt hineinwuchs, das um ihn und durch ihn sich riesengroß gestaltete; er war zugleich Staatsmann der innern wie der auswärtigen Politik gewesen, er war als Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen des führenden Staates, als Schöpfer der Reichs- verfassung der gegebne Reichskanzler. Seine Nachfolger sind von außen, aus dem Heere und aus der Diplomatie, in das Amt hineingegangen und mit dem Reichskanzler zugleich unvermeidlich preußischer Ministerpräsident geworden, ohne sich mit der innern Politik Preußens und des Reiches je befaßt zu haben. Das bedingte sowohl den Parlamenten und den Parteien als auch dem Bundesrat und dem preußischen Staatsministerium gegeuüber einen sehr großen Unterschied, den zu überwinden nur dem Fürsten Bülow gelungen ist. Denn das preußische Ministerpräsidium ist der Boden, aus dem die Institution des Reichskanzlers herausgewachsen ist, auf dem sie steht, in dem sie wurzelt. Ein großes Volk kann nicht immer von gigantischen Erscheinungen, von Riesengestalten regiert werden. Die titanische Kraft ist nur da am Platze, wo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/275>, abgerufen am 27.12.2024.