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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

erzählt, weil es eine so großartige Idee war, doch das war etwas andres. Du
bist keine Klatschlise, und deshalb habe ich dich heute eingeladen, weil ich erfahren
wollte, wie es dir ginge!

Frau Roland sprach nachher mit Anneli, wahrend sie sie durch die Stadt be¬
gleitete, vom schönen Wetter, und daß die Erdbeeren bald reif sein wurden, aber
Anneli hörte nicht aus sie. Sie war stolz, daß Fred Roland sie gelobt hatte, und
daß er sie nicht unter die Kränzchengänse zählte. Nun mochte Tante Fritze noch
mehr ernähren, und Onkel Willi sie noch ein Dutzend Gesangbuchverse lernen
lassen: es schadete alles nichts.

An diesem Abend konnte Anneli zum erstenmal wieder beten, ohne an die
armen kleinen Kinder und den schlotternden Mann dort hinten in dem düstern
Schuppen denken zu müssen.

Das Grausen war vergangen, und wenn auch die Erinnerung wiederkam,
so war sie doch verknüpft mit Fred Roland und seinem Wohlwollen. Und das
war unbezahlbar.

7

Bald nachher geschah das Unerwartete, daß sich Christel eines Tages bei Anneli
einstellte.

Wir wollen dich wieder in Gnaden annehmen, sagte sie. Mit Bürgermeisters
Karoline bin ich auch wieder gut. Laß die Alten sich in den Haaren liegen, das
soll uns Wichse und Pomade sein. Wir Jungen können nicht solange miteinander
feind sein. Ich habe doch nur einen kleinen Scherz mit dir gemacht, und du hast
dir darauf etwas Abscheuliches ausgedacht. Fred Roland wird dir wohl dabei
geholfen haben, er lacht, wenn ich ihn frage, aber im Grunde genommen war es
kein schlechter Gedanke.

Christel sprach hastig weiter. Von dem Schornsteinfeger Peters, der sein ge¬
wonnenes Klavier weder an Bürgermeisters noch an Sudecks verkaufen wollte, ob¬
gleich er es nicht gebrauchen konnte.

Er ist eklig, setzte sie hinzu, Karoline und ich haben uns ein ganz klein wenig
bei ihm gezankt, weil wir beide gern das Klavier haben wollten. Nun hat er
Karoline neulich auf der Straße gefragt, ob wir uns nicht noch einmal in die
Haare geraten wollten. Daraufhin haben wir uns gleich vertragen und uns ewige
Freundschaft geschworen. So ein Kerl muß noch einmal seine Strafe haben.

Ehe Anneli hierauf etwas sagen konnte -- sie wußte allerdings kaum eine
Erwiderung --, sprach das ältere Mädchen schon von andern Dingen.

Sind deine Tante und Kandidat Bergheim verlobt, und haben sie sich schon
geküßt?

Anneli riß die Augen auf und dann auch den Mund, was Christel zum Lachen
brachte.

Mach nicht so ein Schafsgesicht, Kind, und dann besinne dich. Haben sich der
Kandidat und deine Tante geküßt?

Nein! entgegnete Anneli mit Überzeugung, und dann mußte sie laut lachen.
Aber Christel, so alte Leute küssen sich nicht. Das habe ich nie gesehen!

Du hast überhaupt uoch nichts gesehen, und du weißt von nichts in der Welt!
Ich sage dir, die ganze Stadt spricht davon, daß der Herr Kandidat deine Tante heiraten
wird. Die Waschfrau hat neulich gesehen, wie die zwei Hand in Hand gesessen
haben, und Frau Steuereinnehmer ist lin Schloßpark spazieren gegangen und hat
bemerkt, wie sie sich zärtlich angesehen haben. Ja, glaube mir, sie werden sich
heiraten!

Meinetwegen. Anneli lachte und meinte: Onkel Aurelius ist ganz nett.

Du nennst ihn schon Onkel? Das muß ich Karoline erzählen! Dann ist es
natürlich so weit, und ihr kriegt eine Hochzeit ins Haus. Eine Kindtaufe gibts
aber nicht. Papa hat heute zu Mama gesagt, Kinder würden nicht mehr kommen!


Menschenfrühling

erzählt, weil es eine so großartige Idee war, doch das war etwas andres. Du
bist keine Klatschlise, und deshalb habe ich dich heute eingeladen, weil ich erfahren
wollte, wie es dir ginge!

Frau Roland sprach nachher mit Anneli, wahrend sie sie durch die Stadt be¬
gleitete, vom schönen Wetter, und daß die Erdbeeren bald reif sein wurden, aber
Anneli hörte nicht aus sie. Sie war stolz, daß Fred Roland sie gelobt hatte, und
daß er sie nicht unter die Kränzchengänse zählte. Nun mochte Tante Fritze noch
mehr ernähren, und Onkel Willi sie noch ein Dutzend Gesangbuchverse lernen
lassen: es schadete alles nichts.

An diesem Abend konnte Anneli zum erstenmal wieder beten, ohne an die
armen kleinen Kinder und den schlotternden Mann dort hinten in dem düstern
Schuppen denken zu müssen.

Das Grausen war vergangen, und wenn auch die Erinnerung wiederkam,
so war sie doch verknüpft mit Fred Roland und seinem Wohlwollen. Und das
war unbezahlbar.

7

Bald nachher geschah das Unerwartete, daß sich Christel eines Tages bei Anneli
einstellte.

Wir wollen dich wieder in Gnaden annehmen, sagte sie. Mit Bürgermeisters
Karoline bin ich auch wieder gut. Laß die Alten sich in den Haaren liegen, das
soll uns Wichse und Pomade sein. Wir Jungen können nicht solange miteinander
feind sein. Ich habe doch nur einen kleinen Scherz mit dir gemacht, und du hast
dir darauf etwas Abscheuliches ausgedacht. Fred Roland wird dir wohl dabei
geholfen haben, er lacht, wenn ich ihn frage, aber im Grunde genommen war es
kein schlechter Gedanke.

Christel sprach hastig weiter. Von dem Schornsteinfeger Peters, der sein ge¬
wonnenes Klavier weder an Bürgermeisters noch an Sudecks verkaufen wollte, ob¬
gleich er es nicht gebrauchen konnte.

Er ist eklig, setzte sie hinzu, Karoline und ich haben uns ein ganz klein wenig
bei ihm gezankt, weil wir beide gern das Klavier haben wollten. Nun hat er
Karoline neulich auf der Straße gefragt, ob wir uns nicht noch einmal in die
Haare geraten wollten. Daraufhin haben wir uns gleich vertragen und uns ewige
Freundschaft geschworen. So ein Kerl muß noch einmal seine Strafe haben.

Ehe Anneli hierauf etwas sagen konnte — sie wußte allerdings kaum eine
Erwiderung —, sprach das ältere Mädchen schon von andern Dingen.

Sind deine Tante und Kandidat Bergheim verlobt, und haben sie sich schon
geküßt?

Anneli riß die Augen auf und dann auch den Mund, was Christel zum Lachen
brachte.

Mach nicht so ein Schafsgesicht, Kind, und dann besinne dich. Haben sich der
Kandidat und deine Tante geküßt?

Nein! entgegnete Anneli mit Überzeugung, und dann mußte sie laut lachen.
Aber Christel, so alte Leute küssen sich nicht. Das habe ich nie gesehen!

Du hast überhaupt uoch nichts gesehen, und du weißt von nichts in der Welt!
Ich sage dir, die ganze Stadt spricht davon, daß der Herr Kandidat deine Tante heiraten
wird. Die Waschfrau hat neulich gesehen, wie die zwei Hand in Hand gesessen
haben, und Frau Steuereinnehmer ist lin Schloßpark spazieren gegangen und hat
bemerkt, wie sie sich zärtlich angesehen haben. Ja, glaube mir, sie werden sich
heiraten!

Meinetwegen. Anneli lachte und meinte: Onkel Aurelius ist ganz nett.

Du nennst ihn schon Onkel? Das muß ich Karoline erzählen! Dann ist es
natürlich so weit, und ihr kriegt eine Hochzeit ins Haus. Eine Kindtaufe gibts
aber nicht. Papa hat heute zu Mama gesagt, Kinder würden nicht mehr kommen!


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[0167] Menschenfrühling erzählt, weil es eine so großartige Idee war, doch das war etwas andres. Du bist keine Klatschlise, und deshalb habe ich dich heute eingeladen, weil ich erfahren wollte, wie es dir ginge! Frau Roland sprach nachher mit Anneli, wahrend sie sie durch die Stadt be¬ gleitete, vom schönen Wetter, und daß die Erdbeeren bald reif sein wurden, aber Anneli hörte nicht aus sie. Sie war stolz, daß Fred Roland sie gelobt hatte, und daß er sie nicht unter die Kränzchengänse zählte. Nun mochte Tante Fritze noch mehr ernähren, und Onkel Willi sie noch ein Dutzend Gesangbuchverse lernen lassen: es schadete alles nichts. An diesem Abend konnte Anneli zum erstenmal wieder beten, ohne an die armen kleinen Kinder und den schlotternden Mann dort hinten in dem düstern Schuppen denken zu müssen. Das Grausen war vergangen, und wenn auch die Erinnerung wiederkam, so war sie doch verknüpft mit Fred Roland und seinem Wohlwollen. Und das war unbezahlbar. 7 Bald nachher geschah das Unerwartete, daß sich Christel eines Tages bei Anneli einstellte. Wir wollen dich wieder in Gnaden annehmen, sagte sie. Mit Bürgermeisters Karoline bin ich auch wieder gut. Laß die Alten sich in den Haaren liegen, das soll uns Wichse und Pomade sein. Wir Jungen können nicht solange miteinander feind sein. Ich habe doch nur einen kleinen Scherz mit dir gemacht, und du hast dir darauf etwas Abscheuliches ausgedacht. Fred Roland wird dir wohl dabei geholfen haben, er lacht, wenn ich ihn frage, aber im Grunde genommen war es kein schlechter Gedanke. Christel sprach hastig weiter. Von dem Schornsteinfeger Peters, der sein ge¬ wonnenes Klavier weder an Bürgermeisters noch an Sudecks verkaufen wollte, ob¬ gleich er es nicht gebrauchen konnte. Er ist eklig, setzte sie hinzu, Karoline und ich haben uns ein ganz klein wenig bei ihm gezankt, weil wir beide gern das Klavier haben wollten. Nun hat er Karoline neulich auf der Straße gefragt, ob wir uns nicht noch einmal in die Haare geraten wollten. Daraufhin haben wir uns gleich vertragen und uns ewige Freundschaft geschworen. So ein Kerl muß noch einmal seine Strafe haben. Ehe Anneli hierauf etwas sagen konnte — sie wußte allerdings kaum eine Erwiderung —, sprach das ältere Mädchen schon von andern Dingen. Sind deine Tante und Kandidat Bergheim verlobt, und haben sie sich schon geküßt? Anneli riß die Augen auf und dann auch den Mund, was Christel zum Lachen brachte. Mach nicht so ein Schafsgesicht, Kind, und dann besinne dich. Haben sich der Kandidat und deine Tante geküßt? Nein! entgegnete Anneli mit Überzeugung, und dann mußte sie laut lachen. Aber Christel, so alte Leute küssen sich nicht. Das habe ich nie gesehen! Du hast überhaupt uoch nichts gesehen, und du weißt von nichts in der Welt! Ich sage dir, die ganze Stadt spricht davon, daß der Herr Kandidat deine Tante heiraten wird. Die Waschfrau hat neulich gesehen, wie die zwei Hand in Hand gesessen haben, und Frau Steuereinnehmer ist lin Schloßpark spazieren gegangen und hat bemerkt, wie sie sich zärtlich angesehen haben. Ja, glaube mir, sie werden sich heiraten! Meinetwegen. Anneli lachte und meinte: Onkel Aurelius ist ganz nett. Du nennst ihn schon Onkel? Das muß ich Karoline erzählen! Dann ist es natürlich so weit, und ihr kriegt eine Hochzeit ins Haus. Eine Kindtaufe gibts aber nicht. Papa hat heute zu Mama gesagt, Kinder würden nicht mehr kommen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/167>, abgerufen am 27.12.2024.