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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Anastasius Grün

Der dritte Teil des "Schuttes" führt den Titel "Cincinnatus." Das
ist der Name eines Schiffs, das uns hinüberführt in das neue Land der Frei¬
heit jenseits des Weltmeeres. Von dem Trümmerfelde Pompejis, das die
verschüttete und wieder ausgegrabue Vergangenheit bezeichnet, schlägt der
Dichter, wie K. Grün schön sagt, "einen gewaltigen Jrisbogeu" hinüber zu
den transatlantischen Urwäldern und dem jungen Staatswesen Amerikas.
Während Italiens Ruinen dem Dichter nur eine Stätte müßigen Geuußlebeus
sind, sieht er in Amerika das Land der Arbeit, der schöpferischen Kraft, eine
Stätte der Freiheit für alle, die dem unfrohen Leben auf der Heimatscholle
entrinnen wollen. Ein poetisch schöner Gegensatz, glücklich erfunden und trefflich
durchgeführt! Nur vergißt der Dichter, daß in das neue Paradies auch die
alte Sünde mit eingewandert ist, die die Menschheit einst aus ihrem Paradiese
verbannte.

Der Wiedergeburt der Menschheit gilt auch die letzte Abteilung, die Vision:
"Fünf Ostern." Indem der Dichter von der Vorstellung der alten Legende
ausgeht, wonach der Erlöser alljährlich in der Morgenstunde des Ostertages
im Anferstehnngskleide zum Ölberg zurückkehrt, entwirft er großartige Bilder
der Vergangenheit, ihres Wandels und Wahns. Wir schauen mit Christus,
wie Jerusalems Mauern, gebrochen von der Faust des römischen Überwinders,
in Schutt und Trümmern liegen, ferner, wie mitten unter den blutbefleckten
wilden Kreuzfahrern Gottfried von Bouillon in der wiedererstandnen heiligen
Stadt betend kniet, wir erleben die Herrschaft der Mohammedaner, unter der
die Kirchen veröden und zerfallen, und deu abenteuerlichen Kriegszug Voua-
partes, der an der Stadt des Friedefürsten vorbeizieht. Nachdem uns der
Dichter so das Werden und das Vergehn aller irdischen Größe und Herrlich¬
keit und das Ringen und Streben der Menschheit an der Hand der Geschichte
vor Augen geführt hat, schauen wir endlich im Bilde des fünften Ostermorgens
das Ostern der Zukunft, wo die allgemeine Weltbeglückung zur Tatsache ge¬
worden ist, Gottes ewiger, heitrer Friede die Menschenkinder beseligt, und Krieg
und Knechtschaft, Lug und Trug nicht mehr sind. Wir schauen hier also den
idealen Zustand, worin sich der Dichter die menschheitliche Entwicklung als
abgeschlossen vorstellt. Ein Liebespaar wird einst auf Golgatha ein formloses,
eisernes Ding finden, den Halbmond, aber niemand, auch der älteste Greis
nicht, wird darüber Auskunft geben können, ebensowenig wie über ein steinernes
Kreuz, das mau eines Tages ausgraben und im Garten aufstellen wird, wo
es bald die Rosen dicht umranken werden. Das Lied schließt:

Damit ist der Dichtertraum, die Umwandlung des Christentums zur Religion
der reinsten Menschenliebe, in Erfüllung gegangen.

Anastasius Grün wurzelt in der Gedankenwelt des josephinischen Zeit¬
alters. Solchen Träume", wie sie in: letzten Osterbilde gemalt sind, kann sich


Anastasius Grün

Der dritte Teil des „Schuttes" führt den Titel „Cincinnatus." Das
ist der Name eines Schiffs, das uns hinüberführt in das neue Land der Frei¬
heit jenseits des Weltmeeres. Von dem Trümmerfelde Pompejis, das die
verschüttete und wieder ausgegrabue Vergangenheit bezeichnet, schlägt der
Dichter, wie K. Grün schön sagt, „einen gewaltigen Jrisbogeu" hinüber zu
den transatlantischen Urwäldern und dem jungen Staatswesen Amerikas.
Während Italiens Ruinen dem Dichter nur eine Stätte müßigen Geuußlebeus
sind, sieht er in Amerika das Land der Arbeit, der schöpferischen Kraft, eine
Stätte der Freiheit für alle, die dem unfrohen Leben auf der Heimatscholle
entrinnen wollen. Ein poetisch schöner Gegensatz, glücklich erfunden und trefflich
durchgeführt! Nur vergißt der Dichter, daß in das neue Paradies auch die
alte Sünde mit eingewandert ist, die die Menschheit einst aus ihrem Paradiese
verbannte.

Der Wiedergeburt der Menschheit gilt auch die letzte Abteilung, die Vision:
„Fünf Ostern." Indem der Dichter von der Vorstellung der alten Legende
ausgeht, wonach der Erlöser alljährlich in der Morgenstunde des Ostertages
im Anferstehnngskleide zum Ölberg zurückkehrt, entwirft er großartige Bilder
der Vergangenheit, ihres Wandels und Wahns. Wir schauen mit Christus,
wie Jerusalems Mauern, gebrochen von der Faust des römischen Überwinders,
in Schutt und Trümmern liegen, ferner, wie mitten unter den blutbefleckten
wilden Kreuzfahrern Gottfried von Bouillon in der wiedererstandnen heiligen
Stadt betend kniet, wir erleben die Herrschaft der Mohammedaner, unter der
die Kirchen veröden und zerfallen, und deu abenteuerlichen Kriegszug Voua-
partes, der an der Stadt des Friedefürsten vorbeizieht. Nachdem uns der
Dichter so das Werden und das Vergehn aller irdischen Größe und Herrlich¬
keit und das Ringen und Streben der Menschheit an der Hand der Geschichte
vor Augen geführt hat, schauen wir endlich im Bilde des fünften Ostermorgens
das Ostern der Zukunft, wo die allgemeine Weltbeglückung zur Tatsache ge¬
worden ist, Gottes ewiger, heitrer Friede die Menschenkinder beseligt, und Krieg
und Knechtschaft, Lug und Trug nicht mehr sind. Wir schauen hier also den
idealen Zustand, worin sich der Dichter die menschheitliche Entwicklung als
abgeschlossen vorstellt. Ein Liebespaar wird einst auf Golgatha ein formloses,
eisernes Ding finden, den Halbmond, aber niemand, auch der älteste Greis
nicht, wird darüber Auskunft geben können, ebensowenig wie über ein steinernes
Kreuz, das mau eines Tages ausgraben und im Garten aufstellen wird, wo
es bald die Rosen dicht umranken werden. Das Lied schließt:

Damit ist der Dichtertraum, die Umwandlung des Christentums zur Religion
der reinsten Menschenliebe, in Erfüllung gegangen.

Anastasius Grün wurzelt in der Gedankenwelt des josephinischen Zeit¬
alters. Solchen Träume», wie sie in: letzten Osterbilde gemalt sind, kann sich


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[0142] Anastasius Grün Der dritte Teil des „Schuttes" führt den Titel „Cincinnatus." Das ist der Name eines Schiffs, das uns hinüberführt in das neue Land der Frei¬ heit jenseits des Weltmeeres. Von dem Trümmerfelde Pompejis, das die verschüttete und wieder ausgegrabue Vergangenheit bezeichnet, schlägt der Dichter, wie K. Grün schön sagt, „einen gewaltigen Jrisbogeu" hinüber zu den transatlantischen Urwäldern und dem jungen Staatswesen Amerikas. Während Italiens Ruinen dem Dichter nur eine Stätte müßigen Geuußlebeus sind, sieht er in Amerika das Land der Arbeit, der schöpferischen Kraft, eine Stätte der Freiheit für alle, die dem unfrohen Leben auf der Heimatscholle entrinnen wollen. Ein poetisch schöner Gegensatz, glücklich erfunden und trefflich durchgeführt! Nur vergißt der Dichter, daß in das neue Paradies auch die alte Sünde mit eingewandert ist, die die Menschheit einst aus ihrem Paradiese verbannte. Der Wiedergeburt der Menschheit gilt auch die letzte Abteilung, die Vision: „Fünf Ostern." Indem der Dichter von der Vorstellung der alten Legende ausgeht, wonach der Erlöser alljährlich in der Morgenstunde des Ostertages im Anferstehnngskleide zum Ölberg zurückkehrt, entwirft er großartige Bilder der Vergangenheit, ihres Wandels und Wahns. Wir schauen mit Christus, wie Jerusalems Mauern, gebrochen von der Faust des römischen Überwinders, in Schutt und Trümmern liegen, ferner, wie mitten unter den blutbefleckten wilden Kreuzfahrern Gottfried von Bouillon in der wiedererstandnen heiligen Stadt betend kniet, wir erleben die Herrschaft der Mohammedaner, unter der die Kirchen veröden und zerfallen, und deu abenteuerlichen Kriegszug Voua- partes, der an der Stadt des Friedefürsten vorbeizieht. Nachdem uns der Dichter so das Werden und das Vergehn aller irdischen Größe und Herrlich¬ keit und das Ringen und Streben der Menschheit an der Hand der Geschichte vor Augen geführt hat, schauen wir endlich im Bilde des fünften Ostermorgens das Ostern der Zukunft, wo die allgemeine Weltbeglückung zur Tatsache ge¬ worden ist, Gottes ewiger, heitrer Friede die Menschenkinder beseligt, und Krieg und Knechtschaft, Lug und Trug nicht mehr sind. Wir schauen hier also den idealen Zustand, worin sich der Dichter die menschheitliche Entwicklung als abgeschlossen vorstellt. Ein Liebespaar wird einst auf Golgatha ein formloses, eisernes Ding finden, den Halbmond, aber niemand, auch der älteste Greis nicht, wird darüber Auskunft geben können, ebensowenig wie über ein steinernes Kreuz, das mau eines Tages ausgraben und im Garten aufstellen wird, wo es bald die Rosen dicht umranken werden. Das Lied schließt: Damit ist der Dichtertraum, die Umwandlung des Christentums zur Religion der reinsten Menschenliebe, in Erfüllung gegangen. Anastasius Grün wurzelt in der Gedankenwelt des josephinischen Zeit¬ alters. Solchen Träume», wie sie in: letzten Osterbilde gemalt sind, kann sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/142>, abgerufen am 04.07.2024.