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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Interesse" und Ideale

der andern vorwirft, sie verfolge nur ihre eignen selbstsüchtigen Interessen, als
wenn sie das nicht alle beide tuten!

Und ist es nicht geradezu schmachvoll und ein Beweis für den Mangel
an Opferwilligkeit für das große Vaterland, wenn das gebildete und besitzende
liberale deutsche Bürgertum, das sich so gern für den Kern der Nation hält,
zwar einmütig nach einer Verstärkung unsrer Flotte und nach Vermehrung der
Reichseinnahmen ruft, aber gegen alle Stenervorlagen der Neichsregieruug
einmütig protestiert, weil sie natürlich Opfer an besondern Interessen fordern.
Das ist nicht die Weise eines großen Volkes, große Aufgaben zu lösen, sondern
ein jämmerlicher Rückfall in die Zeit des ständischen Staats, wo jeder Stand
die möglichst kleinsten Lasten auf die eignen Schultern nehmen wollte und den
andern die möglichst größten Lasten zuschob.

Ja als wenn es noch nicht genug wäre an der freilich künstlich aufge¬
bauschten Scheidung zwischen Nord und Süd, von der übrigens der Norden
viel weniger wissen will als der Süden, so konstruiert man wohl auch noch
einen Gegensatz zwischen dem industriellen bürgerlichen Westen und den feu¬
dalen agrarischen "Ostelbier,,," das heißt tatsächlich zwischen dem altdeutschen
Mutterlande im Westen und den jüngern Kolonialländern im Osten, als wenn
die Ostdeutschen nicht auch westdeutschen Blutes wären, dem die bald stärkere,
bald schwächere Beimischung slawischen Blutes so wenig geschadet hat wie den
Westdeutscheu die Vermischung mit Keltenblut, und als ob nicht die neue
Einigung Deutschlands vom Nordosten ausgegangen und nicht zum wenigsten
von den viel geschmähten ostelbischen Junkern in zahllosen Schlachten erfochten
worden wäre, während der altkultivierte Westen in ohnmächtige Kleinstaaten
zerfaserte und sich die einst schlachtgewöhnten Schwaben und Franken als
Reichsarmee lächerlich machten. Doch genug von diesen häßlichen Bildern!

Jedenfalls ist klar, daß die einseitige Verfolgung von Sonderinteresseu nicht
mir spaltet, sondern auch sittlich herabzieht. Denn alle Kultur beruht zuletzt
auf der Bändigung des Egoismus, auf der Einordnung des Einzelnen in eine
Gemeinschaft, der er nicht nur dient, sondern mit der allein er auch seine eigne
Persönlichkeit entwickeln kann, denn der einzelne Mensch, auf sich allein gestellt,
sinkt zum Barbaren oder zum Tier hinab; der "Übermensch" ist nicht nur ein
unsittliches, sondern auch ein antisoziales, ein kulturfeindliches Ideal. Und
was für den einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für ganze kleinere oder
größere Gruppen von Menschen. Denn gewiß können auch kleinere Gruppen
manche Aufgaben für sich lösen, wie es die deutschen Städte des Mittelalters
oft in glänzender Weise getan haben, aber andre weitergehende, höhere nur
größere Gemeinschaften, und diese werden um so größer sein müssen, je größer
die Aufgaben sind. Eine Reihe von Kulturaufgaben konnten und können die
deutschen Einzelstaaten lösen, die größte, ohne die auch die Lösung jener Einzel¬
aufgaben der Sicherheit entbehrte, die deutsche Kultur zu schirmen und in der
Welt zur Geltung zu bringen, können sie nur im engsten Zusammenschluß und
durch gemeinsame Organe lösen. Die, die sich dieser Erkenntnis versagten
oder versagen, vermochten und vermögen ihren Egoismus oder den Egoismus
ihres Standes oder ihres Staates nicht zu bändigen, sie verlangten und der-


Interesse» und Ideale

der andern vorwirft, sie verfolge nur ihre eignen selbstsüchtigen Interessen, als
wenn sie das nicht alle beide tuten!

Und ist es nicht geradezu schmachvoll und ein Beweis für den Mangel
an Opferwilligkeit für das große Vaterland, wenn das gebildete und besitzende
liberale deutsche Bürgertum, das sich so gern für den Kern der Nation hält,
zwar einmütig nach einer Verstärkung unsrer Flotte und nach Vermehrung der
Reichseinnahmen ruft, aber gegen alle Stenervorlagen der Neichsregieruug
einmütig protestiert, weil sie natürlich Opfer an besondern Interessen fordern.
Das ist nicht die Weise eines großen Volkes, große Aufgaben zu lösen, sondern
ein jämmerlicher Rückfall in die Zeit des ständischen Staats, wo jeder Stand
die möglichst kleinsten Lasten auf die eignen Schultern nehmen wollte und den
andern die möglichst größten Lasten zuschob.

Ja als wenn es noch nicht genug wäre an der freilich künstlich aufge¬
bauschten Scheidung zwischen Nord und Süd, von der übrigens der Norden
viel weniger wissen will als der Süden, so konstruiert man wohl auch noch
einen Gegensatz zwischen dem industriellen bürgerlichen Westen und den feu¬
dalen agrarischen „Ostelbier,,," das heißt tatsächlich zwischen dem altdeutschen
Mutterlande im Westen und den jüngern Kolonialländern im Osten, als wenn
die Ostdeutschen nicht auch westdeutschen Blutes wären, dem die bald stärkere,
bald schwächere Beimischung slawischen Blutes so wenig geschadet hat wie den
Westdeutscheu die Vermischung mit Keltenblut, und als ob nicht die neue
Einigung Deutschlands vom Nordosten ausgegangen und nicht zum wenigsten
von den viel geschmähten ostelbischen Junkern in zahllosen Schlachten erfochten
worden wäre, während der altkultivierte Westen in ohnmächtige Kleinstaaten
zerfaserte und sich die einst schlachtgewöhnten Schwaben und Franken als
Reichsarmee lächerlich machten. Doch genug von diesen häßlichen Bildern!

Jedenfalls ist klar, daß die einseitige Verfolgung von Sonderinteresseu nicht
mir spaltet, sondern auch sittlich herabzieht. Denn alle Kultur beruht zuletzt
auf der Bändigung des Egoismus, auf der Einordnung des Einzelnen in eine
Gemeinschaft, der er nicht nur dient, sondern mit der allein er auch seine eigne
Persönlichkeit entwickeln kann, denn der einzelne Mensch, auf sich allein gestellt,
sinkt zum Barbaren oder zum Tier hinab; der „Übermensch" ist nicht nur ein
unsittliches, sondern auch ein antisoziales, ein kulturfeindliches Ideal. Und
was für den einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für ganze kleinere oder
größere Gruppen von Menschen. Denn gewiß können auch kleinere Gruppen
manche Aufgaben für sich lösen, wie es die deutschen Städte des Mittelalters
oft in glänzender Weise getan haben, aber andre weitergehende, höhere nur
größere Gemeinschaften, und diese werden um so größer sein müssen, je größer
die Aufgaben sind. Eine Reihe von Kulturaufgaben konnten und können die
deutschen Einzelstaaten lösen, die größte, ohne die auch die Lösung jener Einzel¬
aufgaben der Sicherheit entbehrte, die deutsche Kultur zu schirmen und in der
Welt zur Geltung zu bringen, können sie nur im engsten Zusammenschluß und
durch gemeinsame Organe lösen. Die, die sich dieser Erkenntnis versagten
oder versagen, vermochten und vermögen ihren Egoismus oder den Egoismus
ihres Standes oder ihres Staates nicht zu bändigen, sie verlangten und der-


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[0127] Interesse» und Ideale der andern vorwirft, sie verfolge nur ihre eignen selbstsüchtigen Interessen, als wenn sie das nicht alle beide tuten! Und ist es nicht geradezu schmachvoll und ein Beweis für den Mangel an Opferwilligkeit für das große Vaterland, wenn das gebildete und besitzende liberale deutsche Bürgertum, das sich so gern für den Kern der Nation hält, zwar einmütig nach einer Verstärkung unsrer Flotte und nach Vermehrung der Reichseinnahmen ruft, aber gegen alle Stenervorlagen der Neichsregieruug einmütig protestiert, weil sie natürlich Opfer an besondern Interessen fordern. Das ist nicht die Weise eines großen Volkes, große Aufgaben zu lösen, sondern ein jämmerlicher Rückfall in die Zeit des ständischen Staats, wo jeder Stand die möglichst kleinsten Lasten auf die eignen Schultern nehmen wollte und den andern die möglichst größten Lasten zuschob. Ja als wenn es noch nicht genug wäre an der freilich künstlich aufge¬ bauschten Scheidung zwischen Nord und Süd, von der übrigens der Norden viel weniger wissen will als der Süden, so konstruiert man wohl auch noch einen Gegensatz zwischen dem industriellen bürgerlichen Westen und den feu¬ dalen agrarischen „Ostelbier,,," das heißt tatsächlich zwischen dem altdeutschen Mutterlande im Westen und den jüngern Kolonialländern im Osten, als wenn die Ostdeutschen nicht auch westdeutschen Blutes wären, dem die bald stärkere, bald schwächere Beimischung slawischen Blutes so wenig geschadet hat wie den Westdeutscheu die Vermischung mit Keltenblut, und als ob nicht die neue Einigung Deutschlands vom Nordosten ausgegangen und nicht zum wenigsten von den viel geschmähten ostelbischen Junkern in zahllosen Schlachten erfochten worden wäre, während der altkultivierte Westen in ohnmächtige Kleinstaaten zerfaserte und sich die einst schlachtgewöhnten Schwaben und Franken als Reichsarmee lächerlich machten. Doch genug von diesen häßlichen Bildern! Jedenfalls ist klar, daß die einseitige Verfolgung von Sonderinteresseu nicht mir spaltet, sondern auch sittlich herabzieht. Denn alle Kultur beruht zuletzt auf der Bändigung des Egoismus, auf der Einordnung des Einzelnen in eine Gemeinschaft, der er nicht nur dient, sondern mit der allein er auch seine eigne Persönlichkeit entwickeln kann, denn der einzelne Mensch, auf sich allein gestellt, sinkt zum Barbaren oder zum Tier hinab; der „Übermensch" ist nicht nur ein unsittliches, sondern auch ein antisoziales, ein kulturfeindliches Ideal. Und was für den einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für ganze kleinere oder größere Gruppen von Menschen. Denn gewiß können auch kleinere Gruppen manche Aufgaben für sich lösen, wie es die deutschen Städte des Mittelalters oft in glänzender Weise getan haben, aber andre weitergehende, höhere nur größere Gemeinschaften, und diese werden um so größer sein müssen, je größer die Aufgaben sind. Eine Reihe von Kulturaufgaben konnten und können die deutschen Einzelstaaten lösen, die größte, ohne die auch die Lösung jener Einzel¬ aufgaben der Sicherheit entbehrte, die deutsche Kultur zu schirmen und in der Welt zur Geltung zu bringen, können sie nur im engsten Zusammenschluß und durch gemeinsame Organe lösen. Die, die sich dieser Erkenntnis versagten oder versagen, vermochten und vermögen ihren Egoismus oder den Egoismus ihres Standes oder ihres Staates nicht zu bändigen, sie verlangten und der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/127>, abgerufen am 24.07.2024.