Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Wo ist'die Gefahr? für die tönenden Deklamationen über die "Wahlentrechtung" unempfindlich Im Grunde jedoch ist der Stand der Dinge nicht anders, als er, von Die öffentliche Meinung in Deutschland hat also nicht Unrecht, wenn sie Wo ist'die Gefahr? für die tönenden Deklamationen über die „Wahlentrechtung" unempfindlich Im Grunde jedoch ist der Stand der Dinge nicht anders, als er, von Die öffentliche Meinung in Deutschland hat also nicht Unrecht, wenn sie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299053"/> <fw type="header" place="top"> Wo ist'die Gefahr?</fw><lb/> <p xml:id="ID_13" prev="#ID_12"> für die tönenden Deklamationen über die „Wahlentrechtung" unempfindlich<lb/> wäre. Aber sie hatte nach den erst wenig Monate zurückliegenden offnen und<lb/> versteckten Andeutungen ihrer Preßgewaltigen ganz andre Dinge erwartet als<lb/> diesen unter den gegebnen Verhältnissen gänzlich aussichtslosen Feldzug gegen<lb/> das Landtagswahlrecht. Deshalb überall ein kleinlauter Ton, der auch die<lb/> führenden Geister ansteckt. Bei allem Lärm, den die Schar der „Genossen"<lb/> im Reichstage gelegentlich vollführt, sind ihre Reden matt, ohne jede Spur<lb/> einer freudigen Zuversicht. Und ebenso mag ihre Presse noch so verschwenderisch<lb/> mit großspurigen Phrasen um sich werfen, jedermann fühlt heraus, daß sie nur<lb/> einen Mißerfolg zu verdecken beflissen ist. Von dem Frühlingsglauben, den sie<lb/> vor einem Vierteljahre predigte, kann man nichts mehr hören.</p><lb/> <p xml:id="ID_14"> Im Grunde jedoch ist der Stand der Dinge nicht anders, als er, von<lb/> der kurzen Episode der russischen Illusionen abgesehen, schon seit lange gewesen<lb/> ist. Obgleich die Theoretiker der herrschenden Marxschen Richtung niemals ge¬<lb/> leugnet haben, daß ihr Ideal nur durch eine gewaltsame Katastrophe zu ver¬<lb/> wirklichen sei, haben die Führer der Partei schwerlich jemals ernsthaft daran ge¬<lb/> dacht, eine solche tatsächlich ins Werk zu setzen. Zum mindesten war die von ihnen<lb/> oft geäußerte Ansicht, daß die frühere Form der Revolutionskämpfe bei der<lb/> heutigen Organisation und Bewaffnung des staatlichen Militärs nicht mehr<lb/> möglich sei, durchaus ehrlich gemeint. Neuerdings wird diese Ansicht zwar an<lb/> der Hand der bei dem Moskaner Aufstande gemachten Erfahrungen in der<lb/> sozialdemokratischen Presse für Aberglauben erklärt; die Barrikade, sagt mau,<lb/> werde auch in den Revolutionen der Zukunft eine Rolle spielen, vielleicht sogar<lb/> die entscheidende. Aber den Leitern der deutschen Sozialdemokratie tut man<lb/> kaum Unrecht, wenn man vermutet, daß sie vorziehn werden, die Probe auf<lb/> das Exempel anderwärts machen zu lassen. Nur zu gut kennen sie das feste<lb/> Gefüge unsrer Armee. Wie unermüdlich sie auch darauf aus sind, es zu<lb/> lockern, so erwarten sie davon doch auch nicht in absehbarer Zeit einen so<lb/> durchschlagenden Erfolg, daß sich ein Kampf mit einigermaßen sicherer Aussicht<lb/> wagen ließe. Man kann deshalb unbedenklich sagen, daß man von unsrer<lb/> Sozialdemokratie eine gewaltsame Revolution im hergebrachten Sinne nicht zu<lb/> befürchten braucht. Nur in dem Falle eines von uns unglücklich geführten<lb/> Krieges könnte wohl die Versuchung übermächtig an sie herantreten; vereinzelt<lb/> sind sogar Anzeichen bemerkbar geworden, daß auf eine solche Möglichkeit recht<lb/> eifrig spekuliert wird. Gewiß wäre es eine Überhebung, wollten wir einen<lb/> solchen Fall für absolut ausgeschlossen erklären. Sollte er aber je eintreten,<lb/> dann würde er — so vertrauen wir — in unserm Volke sittliche Kräfte wach¬<lb/> rufen, die die Pläne der Revolutionäre erst recht zusehenden machen würden.</p><lb/> <p xml:id="ID_15" next="#ID_16"> Die öffentliche Meinung in Deutschland hat also nicht Unrecht, wenn sie<lb/> an eine Revolutionsgefahr — immer, wie gesagt, in dem hergebrachten Sinne —<lb/> überhaupt nicht glaubt. Eine andre Frage aber ist, welche Konsequenzen sie<lb/> daraus zieht. Die Tatsache besteht fort, daß die Sozialdemokratie der gegebnen<lb/> Staats- und Gesellschaftsordnung als geschworne Feindin gegenübersteht. Und<lb/> sie ist nicht müßig, diese Feindschaft praktisch zu betätigen. Ihre ganz Deutsch¬<lb/> land überziehende Organisation, ihre Presse, ein Heer geschulter Agitatoren,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
Wo ist'die Gefahr?
für die tönenden Deklamationen über die „Wahlentrechtung" unempfindlich
wäre. Aber sie hatte nach den erst wenig Monate zurückliegenden offnen und
versteckten Andeutungen ihrer Preßgewaltigen ganz andre Dinge erwartet als
diesen unter den gegebnen Verhältnissen gänzlich aussichtslosen Feldzug gegen
das Landtagswahlrecht. Deshalb überall ein kleinlauter Ton, der auch die
führenden Geister ansteckt. Bei allem Lärm, den die Schar der „Genossen"
im Reichstage gelegentlich vollführt, sind ihre Reden matt, ohne jede Spur
einer freudigen Zuversicht. Und ebenso mag ihre Presse noch so verschwenderisch
mit großspurigen Phrasen um sich werfen, jedermann fühlt heraus, daß sie nur
einen Mißerfolg zu verdecken beflissen ist. Von dem Frühlingsglauben, den sie
vor einem Vierteljahre predigte, kann man nichts mehr hören.
Im Grunde jedoch ist der Stand der Dinge nicht anders, als er, von
der kurzen Episode der russischen Illusionen abgesehen, schon seit lange gewesen
ist. Obgleich die Theoretiker der herrschenden Marxschen Richtung niemals ge¬
leugnet haben, daß ihr Ideal nur durch eine gewaltsame Katastrophe zu ver¬
wirklichen sei, haben die Führer der Partei schwerlich jemals ernsthaft daran ge¬
dacht, eine solche tatsächlich ins Werk zu setzen. Zum mindesten war die von ihnen
oft geäußerte Ansicht, daß die frühere Form der Revolutionskämpfe bei der
heutigen Organisation und Bewaffnung des staatlichen Militärs nicht mehr
möglich sei, durchaus ehrlich gemeint. Neuerdings wird diese Ansicht zwar an
der Hand der bei dem Moskaner Aufstande gemachten Erfahrungen in der
sozialdemokratischen Presse für Aberglauben erklärt; die Barrikade, sagt mau,
werde auch in den Revolutionen der Zukunft eine Rolle spielen, vielleicht sogar
die entscheidende. Aber den Leitern der deutschen Sozialdemokratie tut man
kaum Unrecht, wenn man vermutet, daß sie vorziehn werden, die Probe auf
das Exempel anderwärts machen zu lassen. Nur zu gut kennen sie das feste
Gefüge unsrer Armee. Wie unermüdlich sie auch darauf aus sind, es zu
lockern, so erwarten sie davon doch auch nicht in absehbarer Zeit einen so
durchschlagenden Erfolg, daß sich ein Kampf mit einigermaßen sicherer Aussicht
wagen ließe. Man kann deshalb unbedenklich sagen, daß man von unsrer
Sozialdemokratie eine gewaltsame Revolution im hergebrachten Sinne nicht zu
befürchten braucht. Nur in dem Falle eines von uns unglücklich geführten
Krieges könnte wohl die Versuchung übermächtig an sie herantreten; vereinzelt
sind sogar Anzeichen bemerkbar geworden, daß auf eine solche Möglichkeit recht
eifrig spekuliert wird. Gewiß wäre es eine Überhebung, wollten wir einen
solchen Fall für absolut ausgeschlossen erklären. Sollte er aber je eintreten,
dann würde er — so vertrauen wir — in unserm Volke sittliche Kräfte wach¬
rufen, die die Pläne der Revolutionäre erst recht zusehenden machen würden.
Die öffentliche Meinung in Deutschland hat also nicht Unrecht, wenn sie
an eine Revolutionsgefahr — immer, wie gesagt, in dem hergebrachten Sinne —
überhaupt nicht glaubt. Eine andre Frage aber ist, welche Konsequenzen sie
daraus zieht. Die Tatsache besteht fort, daß die Sozialdemokratie der gegebnen
Staats- und Gesellschaftsordnung als geschworne Feindin gegenübersteht. Und
sie ist nicht müßig, diese Feindschaft praktisch zu betätigen. Ihre ganz Deutsch¬
land überziehende Organisation, ihre Presse, ein Heer geschulter Agitatoren,
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