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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Eine Hilvesterbetrachtung

lei jedem Rückblick auf das verflossene Jahr steht der große ost¬
asiatische Krieg, dessen Ende heute noch nicht abzusehen ist, im
Vordergrunde. Es ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Kaiupf,
der erste Krieg, den eine asiatische Großmacht mit europäischen
I Mitteln gegen eine ebenfalls halbasiatische, aber doch in Europa
wurzelnde Großmacht führt, und das erstemal, daß eine solche Macht Asiaten
gegenüber versagt, versagt insofern, als ihr Sieg nicht nur hart bestritten,
sondern noch heute und heute erst recht zweifelhaft, ja nicht einmal wahrschein¬
lich ist, sodaß der Gedanke naheliegt, es beginne damit eine Reaktion der
farbigen Raffen gegen die Weltherrschaft der Weißen. Dabei entspricht der
Gang des Krieges genau den Eigentümlichkeiten der beiden Gegner. Die
Russen sind wie immer unübertrefflich in zäher Gegenwehr und taktisch in rück¬
sichtslosem Draufgehn mit der blanken Waffe, ganz nach dem Satze ihres
glücklichsten Feldherrn, Suworow: "Die Kugel ist eine Närrin, das Bajonett
ist ein Mann." Es ist dieselbe alte Napoleonische Stoßtaktik, die im Jahre 1859
die Franzosen, noch 1866 die Österreicher angewandt haben, jene mit Erfolg,
diese gegen Hinterlader mit dem entschiedensten Mißerfolg. Die japanischen
Generale dagegen, die gelehrigen Schüler Moltkes, wirken strategisch wie taktisch
vor allem durch weitausholende Umgehungen und greifen nicht eher an, als
bis sie sich die Feuerüberlegenheit errungen haben, dann aber mit einer
stürmischen Tapferkeit, die den Traditionen ihres alten ritterlichen Schwert¬
adels, dem ihre Offiziere wohl größtenteils angehören, entspricht. So haben
die Japaner die Russen in mehreren großen Schlachten geschlagen, ihnen die
Halbinsel Licmtung und einen Teil der Mandschurei entrissen und sind bis in
die Nähe von Mulden vorgedrungen. Aber dieser Gebietsgewinn bedeutet
wenig, die russische Armee zu vernichten ist ihnen nicht gelungen, und da die
sibirische Eisenbahn Genügendes leistet, so ist es wohl möglich, daß die Russen,
die ein europäisches Armeekorps nach dem andern mobilisieren, die Überlegen¬
heit der Truppenzahl erreichen und schließlich die Japaner, die offenbar schon
alle Kräfte anspannen müssen, durch ihre Massen erdrücken werden. Zunächst
aber wird ein großer Teil dieser Verstärkungen nur eben die ungeheuern Ver¬
luste ausgleichen, und gesetzt auch den Fall, daß die Russen allmählich wirklich


Grenzboten I 1905 1


Eine Hilvesterbetrachtung

lei jedem Rückblick auf das verflossene Jahr steht der große ost¬
asiatische Krieg, dessen Ende heute noch nicht abzusehen ist, im
Vordergrunde. Es ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Kaiupf,
der erste Krieg, den eine asiatische Großmacht mit europäischen
I Mitteln gegen eine ebenfalls halbasiatische, aber doch in Europa
wurzelnde Großmacht führt, und das erstemal, daß eine solche Macht Asiaten
gegenüber versagt, versagt insofern, als ihr Sieg nicht nur hart bestritten,
sondern noch heute und heute erst recht zweifelhaft, ja nicht einmal wahrschein¬
lich ist, sodaß der Gedanke naheliegt, es beginne damit eine Reaktion der
farbigen Raffen gegen die Weltherrschaft der Weißen. Dabei entspricht der
Gang des Krieges genau den Eigentümlichkeiten der beiden Gegner. Die
Russen sind wie immer unübertrefflich in zäher Gegenwehr und taktisch in rück¬
sichtslosem Draufgehn mit der blanken Waffe, ganz nach dem Satze ihres
glücklichsten Feldherrn, Suworow: „Die Kugel ist eine Närrin, das Bajonett
ist ein Mann." Es ist dieselbe alte Napoleonische Stoßtaktik, die im Jahre 1859
die Franzosen, noch 1866 die Österreicher angewandt haben, jene mit Erfolg,
diese gegen Hinterlader mit dem entschiedensten Mißerfolg. Die japanischen
Generale dagegen, die gelehrigen Schüler Moltkes, wirken strategisch wie taktisch
vor allem durch weitausholende Umgehungen und greifen nicht eher an, als
bis sie sich die Feuerüberlegenheit errungen haben, dann aber mit einer
stürmischen Tapferkeit, die den Traditionen ihres alten ritterlichen Schwert¬
adels, dem ihre Offiziere wohl größtenteils angehören, entspricht. So haben
die Japaner die Russen in mehreren großen Schlachten geschlagen, ihnen die
Halbinsel Licmtung und einen Teil der Mandschurei entrissen und sind bis in
die Nähe von Mulden vorgedrungen. Aber dieser Gebietsgewinn bedeutet
wenig, die russische Armee zu vernichten ist ihnen nicht gelungen, und da die
sibirische Eisenbahn Genügendes leistet, so ist es wohl möglich, daß die Russen,
die ein europäisches Armeekorps nach dem andern mobilisieren, die Überlegen¬
heit der Truppenzahl erreichen und schließlich die Japaner, die offenbar schon
alle Kräfte anspannen müssen, durch ihre Massen erdrücken werden. Zunächst
aber wird ein großer Teil dieser Verstärkungen nur eben die ungeheuern Ver¬
luste ausgleichen, und gesetzt auch den Fall, daß die Russen allmählich wirklich


Grenzboten I 1905 1
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/9>, abgerufen am 23.07.2024.