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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Hcrreiimenschcu

Sie hatte keine Ahnung davon, daß es sich um Geschäfte handeln könnte, die
sie sehr nahe angingen. Es war nnter diesen Umständen ganz unmöglich, auf die
Hypothekenfrage zu kommen. Eben hatte er begonnen, eine Geschichte zu erfinden,
in der die Nonne und die Photographie und Freund Schwechting eine Rolle spielten,
da flog die Tür auf, und ein Knabe von etwa neun Jahren trat ein. Es war
ein schöner Knabe, der Sohn von Frau Mary. Er war seiner Mutter durchaus
ähnlich, dieselben Augen, dasselbe edel geschnittne Gesicht, dieselben aschblonden
Locken. Aber er war weicher geformt als sie. Er hatte einen merkwürdig träume¬
rischen Blick. Wenn er seine Augen suchend ins Weite schweifen ließ, dann konnte
man vermuten, er habe den "zweiten Blick" und sähe, was andern Menschen ver¬
borgen ist. Aber das waren nur Augenblicke, dann kehrte der kindliche Ausdruck
zurück. Er hatte ein braunes Sammethabit an und das Ränzel auf dem Rücken,
denn er kam geradeswegs aus der Dorfschule.

Sieh mal, Wolf, sagte Frau Mary, wer hier ist.

Wolf schritt ohne Zögern auf den Doktor zu, stellte sich vor ihn hin und
sah ihn mit seinen großen Augen an, als wollte er ihn durch und durch sehen.
Dn bist Onkel Heinz? sagte er.

Ja, mein Junge, erwiderte dieser. Aber woher weißt du das?

Woher ich das weiß? Er ließ seine Augen suchend in die Ferne laufen.
Woher ich das weiß? Ich weiß nicht mehr. Mama, Onkel Heinz wird alle
Kreuzottern tottreten. Tust du das. Onkel Heinz?

Ja, mein Junge, erwiderte Onkel Heinz, das tu ich. Kreuzottern muß man
tottreten. Aber wo sind denn welche?

Onkel, fragte Wolf, ohne die Frage zu beachten, gibt es auch Kreuzottern mit
langen Schnurrbärten?

Aber Wolf, rief Mama, sprich doch nicht so törichtes Zeug.

Mama, Onkel Fips hat beide Hände verbunden, sagte Wolf. Onkel Fips ist
mit Hoheit, als der Sturm war, auf die See hinaus gefahren, und da haben sie
und den Rudern gekämpft, und Hoheit hat dem armen Onkel Fips auf die Hände
geschlagen.

Kind, Kind, erwiderte Frau Mary, du weißt doch selbst ganz genau, daß
es nicht wahr ist, was du da erzählst.

Ich muß es aber doch erzählen, sagte Wolf. Wenn es auch nicht geschehen
ist, so ist es doch wahr.

Es scheint, meinte Onkel Heinz, Wolf vertritt die höhere poetische Wahrheit.

Nein, erwiderte Frau Mary, Wolf redet nur dummes Zeug und weiß, daß
er das nicht soll.

Oder es steckt ein Dichter in ihm, sagte Ramborn. Komm her, Wolf, erzähle
mir, was du werden willst.

Scharfrichter, erwiderte der Knabe, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.
Weißt du, Onkel, wenn ich erst Scharfrichter bin, dann lege ich alle schlechten
Menschen nebeneinander wie die Rüben, wenn die Krantköpfe abgehackt werden,
und dann hacke ich mit dem großen Messer immer zu.

Nicht doch, Wolf, sagte Onkel Heinz, muß man den bösen Leuten denn gleich den
Kopf abhacken? Man muß sie doch bedauern, und man muß ihnen doch vergeben.

Nein, Onkel Heinz, man muß ihnen nicht vergeben.

Wolf, sagte Frau Mary, der liebe Gott will doch haben, daß wir unter¬
einander nachsichtig sind.

Nein, Mama, sagte der Knabe, das will der liebe Gott nicht haben. Ich habe
ihn gefragt, und da hat er ganz deutlich geantwortet: Ich will -- es -- nicht --
haben. Dabei blieb er trotz allem Zureden. Ihm traten die Tränen in die Augen,
und er ballte die Hände, aber er beharrte bei seinem Satze: Bösen Menschen muß
man nicht vergeben.

Geh, sagte Frau Mary, du bist ja ein kleines wildes Tier.


Hcrreiimenschcu

Sie hatte keine Ahnung davon, daß es sich um Geschäfte handeln könnte, die
sie sehr nahe angingen. Es war nnter diesen Umständen ganz unmöglich, auf die
Hypothekenfrage zu kommen. Eben hatte er begonnen, eine Geschichte zu erfinden,
in der die Nonne und die Photographie und Freund Schwechting eine Rolle spielten,
da flog die Tür auf, und ein Knabe von etwa neun Jahren trat ein. Es war
ein schöner Knabe, der Sohn von Frau Mary. Er war seiner Mutter durchaus
ähnlich, dieselben Augen, dasselbe edel geschnittne Gesicht, dieselben aschblonden
Locken. Aber er war weicher geformt als sie. Er hatte einen merkwürdig träume¬
rischen Blick. Wenn er seine Augen suchend ins Weite schweifen ließ, dann konnte
man vermuten, er habe den „zweiten Blick" und sähe, was andern Menschen ver¬
borgen ist. Aber das waren nur Augenblicke, dann kehrte der kindliche Ausdruck
zurück. Er hatte ein braunes Sammethabit an und das Ränzel auf dem Rücken,
denn er kam geradeswegs aus der Dorfschule.

Sieh mal, Wolf, sagte Frau Mary, wer hier ist.

Wolf schritt ohne Zögern auf den Doktor zu, stellte sich vor ihn hin und
sah ihn mit seinen großen Augen an, als wollte er ihn durch und durch sehen.
Dn bist Onkel Heinz? sagte er.

Ja, mein Junge, erwiderte dieser. Aber woher weißt du das?

Woher ich das weiß? Er ließ seine Augen suchend in die Ferne laufen.
Woher ich das weiß? Ich weiß nicht mehr. Mama, Onkel Heinz wird alle
Kreuzottern tottreten. Tust du das. Onkel Heinz?

Ja, mein Junge, erwiderte Onkel Heinz, das tu ich. Kreuzottern muß man
tottreten. Aber wo sind denn welche?

Onkel, fragte Wolf, ohne die Frage zu beachten, gibt es auch Kreuzottern mit
langen Schnurrbärten?

Aber Wolf, rief Mama, sprich doch nicht so törichtes Zeug.

Mama, Onkel Fips hat beide Hände verbunden, sagte Wolf. Onkel Fips ist
mit Hoheit, als der Sturm war, auf die See hinaus gefahren, und da haben sie
und den Rudern gekämpft, und Hoheit hat dem armen Onkel Fips auf die Hände
geschlagen.

Kind, Kind, erwiderte Frau Mary, du weißt doch selbst ganz genau, daß
es nicht wahr ist, was du da erzählst.

Ich muß es aber doch erzählen, sagte Wolf. Wenn es auch nicht geschehen
ist, so ist es doch wahr.

Es scheint, meinte Onkel Heinz, Wolf vertritt die höhere poetische Wahrheit.

Nein, erwiderte Frau Mary, Wolf redet nur dummes Zeug und weiß, daß
er das nicht soll.

Oder es steckt ein Dichter in ihm, sagte Ramborn. Komm her, Wolf, erzähle
mir, was du werden willst.

Scharfrichter, erwiderte der Knabe, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.
Weißt du, Onkel, wenn ich erst Scharfrichter bin, dann lege ich alle schlechten
Menschen nebeneinander wie die Rüben, wenn die Krantköpfe abgehackt werden,
und dann hacke ich mit dem großen Messer immer zu.

Nicht doch, Wolf, sagte Onkel Heinz, muß man den bösen Leuten denn gleich den
Kopf abhacken? Man muß sie doch bedauern, und man muß ihnen doch vergeben.

Nein, Onkel Heinz, man muß ihnen nicht vergeben.

Wolf, sagte Frau Mary, der liebe Gott will doch haben, daß wir unter¬
einander nachsichtig sind.

Nein, Mama, sagte der Knabe, das will der liebe Gott nicht haben. Ich habe
ihn gefragt, und da hat er ganz deutlich geantwortet: Ich will — es — nicht —
haben. Dabei blieb er trotz allem Zureden. Ihm traten die Tränen in die Augen,
und er ballte die Hände, aber er beharrte bei seinem Satze: Bösen Menschen muß
man nicht vergeben.

Geh, sagte Frau Mary, du bist ja ein kleines wildes Tier.


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[0742] Hcrreiimenschcu Sie hatte keine Ahnung davon, daß es sich um Geschäfte handeln könnte, die sie sehr nahe angingen. Es war nnter diesen Umständen ganz unmöglich, auf die Hypothekenfrage zu kommen. Eben hatte er begonnen, eine Geschichte zu erfinden, in der die Nonne und die Photographie und Freund Schwechting eine Rolle spielten, da flog die Tür auf, und ein Knabe von etwa neun Jahren trat ein. Es war ein schöner Knabe, der Sohn von Frau Mary. Er war seiner Mutter durchaus ähnlich, dieselben Augen, dasselbe edel geschnittne Gesicht, dieselben aschblonden Locken. Aber er war weicher geformt als sie. Er hatte einen merkwürdig träume¬ rischen Blick. Wenn er seine Augen suchend ins Weite schweifen ließ, dann konnte man vermuten, er habe den „zweiten Blick" und sähe, was andern Menschen ver¬ borgen ist. Aber das waren nur Augenblicke, dann kehrte der kindliche Ausdruck zurück. Er hatte ein braunes Sammethabit an und das Ränzel auf dem Rücken, denn er kam geradeswegs aus der Dorfschule. Sieh mal, Wolf, sagte Frau Mary, wer hier ist. Wolf schritt ohne Zögern auf den Doktor zu, stellte sich vor ihn hin und sah ihn mit seinen großen Augen an, als wollte er ihn durch und durch sehen. Dn bist Onkel Heinz? sagte er. Ja, mein Junge, erwiderte dieser. Aber woher weißt du das? Woher ich das weiß? Er ließ seine Augen suchend in die Ferne laufen. Woher ich das weiß? Ich weiß nicht mehr. Mama, Onkel Heinz wird alle Kreuzottern tottreten. Tust du das. Onkel Heinz? Ja, mein Junge, erwiderte Onkel Heinz, das tu ich. Kreuzottern muß man tottreten. Aber wo sind denn welche? Onkel, fragte Wolf, ohne die Frage zu beachten, gibt es auch Kreuzottern mit langen Schnurrbärten? Aber Wolf, rief Mama, sprich doch nicht so törichtes Zeug. Mama, Onkel Fips hat beide Hände verbunden, sagte Wolf. Onkel Fips ist mit Hoheit, als der Sturm war, auf die See hinaus gefahren, und da haben sie und den Rudern gekämpft, und Hoheit hat dem armen Onkel Fips auf die Hände geschlagen. Kind, Kind, erwiderte Frau Mary, du weißt doch selbst ganz genau, daß es nicht wahr ist, was du da erzählst. Ich muß es aber doch erzählen, sagte Wolf. Wenn es auch nicht geschehen ist, so ist es doch wahr. Es scheint, meinte Onkel Heinz, Wolf vertritt die höhere poetische Wahrheit. Nein, erwiderte Frau Mary, Wolf redet nur dummes Zeug und weiß, daß er das nicht soll. Oder es steckt ein Dichter in ihm, sagte Ramborn. Komm her, Wolf, erzähle mir, was du werden willst. Scharfrichter, erwiderte der Knabe, ohne sich einen Augenblick zu besinnen. Weißt du, Onkel, wenn ich erst Scharfrichter bin, dann lege ich alle schlechten Menschen nebeneinander wie die Rüben, wenn die Krantköpfe abgehackt werden, und dann hacke ich mit dem großen Messer immer zu. Nicht doch, Wolf, sagte Onkel Heinz, muß man den bösen Leuten denn gleich den Kopf abhacken? Man muß sie doch bedauern, und man muß ihnen doch vergeben. Nein, Onkel Heinz, man muß ihnen nicht vergeben. Wolf, sagte Frau Mary, der liebe Gott will doch haben, daß wir unter¬ einander nachsichtig sind. Nein, Mama, sagte der Knabe, das will der liebe Gott nicht haben. Ich habe ihn gefragt, und da hat er ganz deutlich geantwortet: Ich will — es — nicht — haben. Dabei blieb er trotz allem Zureden. Ihm traten die Tränen in die Augen, und er ballte die Hände, aber er beharrte bei seinem Satze: Bösen Menschen muß man nicht vergeben. Geh, sagte Frau Mary, du bist ja ein kleines wildes Tier.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/742>, abgerufen am 23.12.2024.