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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Lin Sommerritt auf den Pik von Teneriffa

dem Wehen des Windes; sie waren nicht so dicht, daß sie die Atmung
irgendwie erschwert hätten. In den warmen Löchern sollen allerhand Insekten
Hausen, auf deren nähere Bekanntschaft wir jedoch verzichteten. Der Boden ist
vorwiegend weiß, mit Gelb und Rot untermischt; Schlacken, Schwefelkies und
Bimsstein liegen zutage, und gleich unter der Oberfläche fühlt sich das Gestein
schon warm an; weiter in der Tiefe sollen schöne Schwefelkristalle zu finden
sein. Das eigentliche Kerngestein des Berges ist Trachht, der in großen, un¬
geschlachten Blöcken auch oben herumliegt.

Die Aussicht zu schildern und überhaupt den Eindruck des Ganzen würdig
wiedergeben zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Ich begnüge mich lieber,
einfach anzugeben, wie mir die einzelnen Teile des Rundgemäldes nach und
nach vor Augen traten. Zuerst und immer wieder versenkte sich der Blick in
die unermeßlichen Weiten des Ozeans, dessen ganze Größe mir noch nie in so
anschaulicher Weise zum Bewußtsein gebracht worden ist; wann kann man auch
je sonst ein so ungeheures Stück von ihm mit einem Blicke umfassen? Man
vergaß fast, daß man auf einem hohen Berge, inmitten andrer Gebirgsgruppen
und einer zehn Meilen langen Insel stand, die ganze Insel erschien nur als
der Sockel der Piksäule und diese wiederum wie der Mast auf einem kleinen
Schiffe, mitten im Weltmeer. Und dies letzte war doch keineswegs überall
dasselbe! Auf der einen Seite, nach der Insel Gran Canaria zu, lag eine
schwere weiße Wolkenbank darüber, die unmittelbar auf dem Wasser zu schwimmen
schien, während sie sich in Wahrheit mehrere tausend Fuß darüber -- aber
freilich ebensoviele unter unserm Standpunkt ausspannte; blaue Wasserflecken
durchsetzten sie, und die Felsspitzen von Gran Canaria hoben sich über sie
hinaus. So machte das Ganze den Eindruck eines nordischen Eismeers mit
offnen Stellen und klippenumgürteten Jnselgestaden, eines Spitzbergen oder
Grönland. Ähnlich sah es aus der andern Seite um die Inseln La Palma
und (weiter hinaus) Gomera herum aus, nur war hier der scheinbare Eis¬
gürtel noch dichter. Jenseits von Orotciva dagegen dehnte sich der Meeres¬
spiegel in seiner ganzen ungetrübten Bläue und verschwamm am Horizonte mit
dem leichtern Blau des Himmels. Am Rande des Gesichtskreises schien das
Meer allmählich anzusteigen, als ob man sich in der Mitte einer flachen blauen
Schale befände, und dadurch wurde das Gefühl, nach allem Steigen doch noch
ein Gefangner Poseidons zu sein, erst recht verstärkt. Bei klarem Wetter sollen
die sämtlichen Kanarischen Inseln, also auch Hierro im äußersten Westen,
Fuerteventura und Lanzarote im Osten sichtbar sein, ja Ignacio zeigte uns
sogar den Punkt, wo in seltnen Stunden ein Vorsprung des afrikanischen
Festlandes, Cap Blanco, auftaucht; davon war freilich bei der heutigen Be¬
leuchtung nichts zu sehen.

Zurückgekehrt zu der eignen Insel unter unfern Füßen, erfreute sich das
Auge wohl an den mannigfachen Windungen der steilen Küste, ihren Vor¬
gebirgen, Buchten und vorgelagerten kleinen Eilanden oder an den üppig
grünen Ebnen von Orotava und Jcod, auf denen die zahlreichen Ortschaften,
Weiler und Landhäuser schimmerten -- auch unser stattliches Hotel lag freund¬
lich da, wie ein Schloß am Meer --, oder es schweifte die schartige Kette des


Lin Sommerritt auf den Pik von Teneriffa

dem Wehen des Windes; sie waren nicht so dicht, daß sie die Atmung
irgendwie erschwert hätten. In den warmen Löchern sollen allerhand Insekten
Hausen, auf deren nähere Bekanntschaft wir jedoch verzichteten. Der Boden ist
vorwiegend weiß, mit Gelb und Rot untermischt; Schlacken, Schwefelkies und
Bimsstein liegen zutage, und gleich unter der Oberfläche fühlt sich das Gestein
schon warm an; weiter in der Tiefe sollen schöne Schwefelkristalle zu finden
sein. Das eigentliche Kerngestein des Berges ist Trachht, der in großen, un¬
geschlachten Blöcken auch oben herumliegt.

Die Aussicht zu schildern und überhaupt den Eindruck des Ganzen würdig
wiedergeben zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Ich begnüge mich lieber,
einfach anzugeben, wie mir die einzelnen Teile des Rundgemäldes nach und
nach vor Augen traten. Zuerst und immer wieder versenkte sich der Blick in
die unermeßlichen Weiten des Ozeans, dessen ganze Größe mir noch nie in so
anschaulicher Weise zum Bewußtsein gebracht worden ist; wann kann man auch
je sonst ein so ungeheures Stück von ihm mit einem Blicke umfassen? Man
vergaß fast, daß man auf einem hohen Berge, inmitten andrer Gebirgsgruppen
und einer zehn Meilen langen Insel stand, die ganze Insel erschien nur als
der Sockel der Piksäule und diese wiederum wie der Mast auf einem kleinen
Schiffe, mitten im Weltmeer. Und dies letzte war doch keineswegs überall
dasselbe! Auf der einen Seite, nach der Insel Gran Canaria zu, lag eine
schwere weiße Wolkenbank darüber, die unmittelbar auf dem Wasser zu schwimmen
schien, während sie sich in Wahrheit mehrere tausend Fuß darüber — aber
freilich ebensoviele unter unserm Standpunkt ausspannte; blaue Wasserflecken
durchsetzten sie, und die Felsspitzen von Gran Canaria hoben sich über sie
hinaus. So machte das Ganze den Eindruck eines nordischen Eismeers mit
offnen Stellen und klippenumgürteten Jnselgestaden, eines Spitzbergen oder
Grönland. Ähnlich sah es aus der andern Seite um die Inseln La Palma
und (weiter hinaus) Gomera herum aus, nur war hier der scheinbare Eis¬
gürtel noch dichter. Jenseits von Orotciva dagegen dehnte sich der Meeres¬
spiegel in seiner ganzen ungetrübten Bläue und verschwamm am Horizonte mit
dem leichtern Blau des Himmels. Am Rande des Gesichtskreises schien das
Meer allmählich anzusteigen, als ob man sich in der Mitte einer flachen blauen
Schale befände, und dadurch wurde das Gefühl, nach allem Steigen doch noch
ein Gefangner Poseidons zu sein, erst recht verstärkt. Bei klarem Wetter sollen
die sämtlichen Kanarischen Inseln, also auch Hierro im äußersten Westen,
Fuerteventura und Lanzarote im Osten sichtbar sein, ja Ignacio zeigte uns
sogar den Punkt, wo in seltnen Stunden ein Vorsprung des afrikanischen
Festlandes, Cap Blanco, auftaucht; davon war freilich bei der heutigen Be¬
leuchtung nichts zu sehen.

Zurückgekehrt zu der eignen Insel unter unfern Füßen, erfreute sich das
Auge wohl an den mannigfachen Windungen der steilen Küste, ihren Vor¬
gebirgen, Buchten und vorgelagerten kleinen Eilanden oder an den üppig
grünen Ebnen von Orotava und Jcod, auf denen die zahlreichen Ortschaften,
Weiler und Landhäuser schimmerten — auch unser stattliches Hotel lag freund¬
lich da, wie ein Schloß am Meer —, oder es schweifte die schartige Kette des


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[0731] Lin Sommerritt auf den Pik von Teneriffa dem Wehen des Windes; sie waren nicht so dicht, daß sie die Atmung irgendwie erschwert hätten. In den warmen Löchern sollen allerhand Insekten Hausen, auf deren nähere Bekanntschaft wir jedoch verzichteten. Der Boden ist vorwiegend weiß, mit Gelb und Rot untermischt; Schlacken, Schwefelkies und Bimsstein liegen zutage, und gleich unter der Oberfläche fühlt sich das Gestein schon warm an; weiter in der Tiefe sollen schöne Schwefelkristalle zu finden sein. Das eigentliche Kerngestein des Berges ist Trachht, der in großen, un¬ geschlachten Blöcken auch oben herumliegt. Die Aussicht zu schildern und überhaupt den Eindruck des Ganzen würdig wiedergeben zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Ich begnüge mich lieber, einfach anzugeben, wie mir die einzelnen Teile des Rundgemäldes nach und nach vor Augen traten. Zuerst und immer wieder versenkte sich der Blick in die unermeßlichen Weiten des Ozeans, dessen ganze Größe mir noch nie in so anschaulicher Weise zum Bewußtsein gebracht worden ist; wann kann man auch je sonst ein so ungeheures Stück von ihm mit einem Blicke umfassen? Man vergaß fast, daß man auf einem hohen Berge, inmitten andrer Gebirgsgruppen und einer zehn Meilen langen Insel stand, die ganze Insel erschien nur als der Sockel der Piksäule und diese wiederum wie der Mast auf einem kleinen Schiffe, mitten im Weltmeer. Und dies letzte war doch keineswegs überall dasselbe! Auf der einen Seite, nach der Insel Gran Canaria zu, lag eine schwere weiße Wolkenbank darüber, die unmittelbar auf dem Wasser zu schwimmen schien, während sie sich in Wahrheit mehrere tausend Fuß darüber — aber freilich ebensoviele unter unserm Standpunkt ausspannte; blaue Wasserflecken durchsetzten sie, und die Felsspitzen von Gran Canaria hoben sich über sie hinaus. So machte das Ganze den Eindruck eines nordischen Eismeers mit offnen Stellen und klippenumgürteten Jnselgestaden, eines Spitzbergen oder Grönland. Ähnlich sah es aus der andern Seite um die Inseln La Palma und (weiter hinaus) Gomera herum aus, nur war hier der scheinbare Eis¬ gürtel noch dichter. Jenseits von Orotciva dagegen dehnte sich der Meeres¬ spiegel in seiner ganzen ungetrübten Bläue und verschwamm am Horizonte mit dem leichtern Blau des Himmels. Am Rande des Gesichtskreises schien das Meer allmählich anzusteigen, als ob man sich in der Mitte einer flachen blauen Schale befände, und dadurch wurde das Gefühl, nach allem Steigen doch noch ein Gefangner Poseidons zu sein, erst recht verstärkt. Bei klarem Wetter sollen die sämtlichen Kanarischen Inseln, also auch Hierro im äußersten Westen, Fuerteventura und Lanzarote im Osten sichtbar sein, ja Ignacio zeigte uns sogar den Punkt, wo in seltnen Stunden ein Vorsprung des afrikanischen Festlandes, Cap Blanco, auftaucht; davon war freilich bei der heutigen Be¬ leuchtung nichts zu sehen. Zurückgekehrt zu der eignen Insel unter unfern Füßen, erfreute sich das Auge wohl an den mannigfachen Windungen der steilen Küste, ihren Vor¬ gebirgen, Buchten und vorgelagerten kleinen Eilanden oder an den üppig grünen Ebnen von Orotava und Jcod, auf denen die zahlreichen Ortschaften, Weiler und Landhäuser schimmerten — auch unser stattliches Hotel lag freund¬ lich da, wie ein Schloß am Meer —, oder es schweifte die schartige Kette des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/731>, abgerufen am 23.12.2024.