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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Reichstag und Verfassung

Wer diese Vorgänge öfter zu beobachten in der Lage war, der begreift
vollkommen, warum es im Reichstag so langweilig ist, daß auch die, wie man
voraussetzt, dazu verpflichteten Abgeordneten nicht mehr Hineingehn mögen, daß
man einen wahrhaftigen viroulas vilosus vor sich hat, der aus sich selbst
heraus noch immer schlimmer wird. Männer des praktischen Lebens, die doch
im Reichstage viel notwendiger wären als die Bcrufsparlamentarier, haben bei
der heutigen Zeitvergeudung und Rederei über nichtige Dinge, wenn sie ge¬
wählt worden sind, wenig Lust, ihre Zeit dem Berufe zu entzieh", wo sie
nützlicher angewandt werden kann, und wenn sie es noch nicht sind, sich wählen
zu lassen. Durch das Wegbleiben solcher Männer, die in den sechziger und den
siebziger Jahren zahlreich im Reichstage vertreten waren, ist der ganze Betrieb
des Reichstags mehr und mehr in die Hände der sogenannten Berufsparla¬
mentarier geraten, die in der Verbindung von Mandat, Journalistik und
Agitation ihren Lebensberuf suchen, wenn sie zuweilen auch noch eine praktische
Nebenbeschäftigung betreiben. Fürst Bismarck und die übrigen Kommissare
bei der Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes sahen in der Ver¬
sagung von Diäten eine Vorbeugung gegen das Überhandnehmen des Berufs-
parlamentariertnms und eine Gewähr für kurze Tagungen, man wünschte über¬
haupt Vertreter, die, wenn "sie nicht Abgeordnete sind, doch auch noch etwas
Nützliches zu tun haben." Falsch ist dagegen die in neuerer Zeit wiederholt
aufgetauchte Behauptung, daß Bismarck mit der Versagung von Diäten die
Sozialdemokraten habe fernhalten wollen. Das ist schon darum nicht richtig,
weil es zurzeit der Begründung des Norddeutschen Bundes fast noch gar
keine Sozialdemokraten gab und deshalb an sie nicht besonders gedacht wurde.
Weil jetzt fast alle Sozialdemokraten im Reichstag, mit sehr wenig Ausnahmen,
Berufsparlamentarier sind, erscheint der Irrtum über die angebliche Absicht
Bismarcks, oder richtiger der Bundesregierungen, allerdings erklärlich. Wahr¬
scheinlich ist, daß mit Gewährung von Diäten von Anfang an noch schneller
die Länge der Sessionen und die Anzahl der Berufsparlamcntarier zugenommen
hätte. Wie nun auch die Meinungen über die Entwicklung der Dinge aus-
einandergehn mögen, kann doch auch bei der nachsichtigsten Beurteilung nicht
verkannt werden, daß die seit Jahren eingerissene Läuge der Tagungen haupt¬
sächlich durch das in der Sache nicht begründete schleppende Tempo der Ver¬
handlungen verschuldet wird. Allgemein wird dafür der schlechte Besuch der
Sitzungen verantwortlich gemacht, und das ist ja insofern richtig, als die regel¬
müßige, wenn auch gewöhnlich nicht ansgesprochne Beschlußunfähigst des
Hauses die Hauptursache dafür ist, daß unnütze Debatten nicht geschlossen
werden können, weil die journalistischen Berufsparlamentarier, die allein mit
der Verlängerung der Session zufrieden sind, die Aufzählung des Hauses bean¬
tragen könnten. Als 1902 die Zolltarifvorlagen von der demokratischen Linken
obstruiert wurden, schaffte das vollbesetzte Haus rasch Ordnung. Aber trotzdem
besteht kein Zweifel darüber, daß das Fernbleiben vieler Abgeordneten vor
allem durch die Langweiligkeit und die Zwecklosigkeit der Debatten verursacht
wird, während die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten eigentlich nur den
Beruf haben, da zu sein. Das sichert ihnen ihren Einfluß auf den Gang der


Reichstag und Verfassung

Wer diese Vorgänge öfter zu beobachten in der Lage war, der begreift
vollkommen, warum es im Reichstag so langweilig ist, daß auch die, wie man
voraussetzt, dazu verpflichteten Abgeordneten nicht mehr Hineingehn mögen, daß
man einen wahrhaftigen viroulas vilosus vor sich hat, der aus sich selbst
heraus noch immer schlimmer wird. Männer des praktischen Lebens, die doch
im Reichstage viel notwendiger wären als die Bcrufsparlamentarier, haben bei
der heutigen Zeitvergeudung und Rederei über nichtige Dinge, wenn sie ge¬
wählt worden sind, wenig Lust, ihre Zeit dem Berufe zu entzieh», wo sie
nützlicher angewandt werden kann, und wenn sie es noch nicht sind, sich wählen
zu lassen. Durch das Wegbleiben solcher Männer, die in den sechziger und den
siebziger Jahren zahlreich im Reichstage vertreten waren, ist der ganze Betrieb
des Reichstags mehr und mehr in die Hände der sogenannten Berufsparla¬
mentarier geraten, die in der Verbindung von Mandat, Journalistik und
Agitation ihren Lebensberuf suchen, wenn sie zuweilen auch noch eine praktische
Nebenbeschäftigung betreiben. Fürst Bismarck und die übrigen Kommissare
bei der Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes sahen in der Ver¬
sagung von Diäten eine Vorbeugung gegen das Überhandnehmen des Berufs-
parlamentariertnms und eine Gewähr für kurze Tagungen, man wünschte über¬
haupt Vertreter, die, wenn „sie nicht Abgeordnete sind, doch auch noch etwas
Nützliches zu tun haben." Falsch ist dagegen die in neuerer Zeit wiederholt
aufgetauchte Behauptung, daß Bismarck mit der Versagung von Diäten die
Sozialdemokraten habe fernhalten wollen. Das ist schon darum nicht richtig,
weil es zurzeit der Begründung des Norddeutschen Bundes fast noch gar
keine Sozialdemokraten gab und deshalb an sie nicht besonders gedacht wurde.
Weil jetzt fast alle Sozialdemokraten im Reichstag, mit sehr wenig Ausnahmen,
Berufsparlamentarier sind, erscheint der Irrtum über die angebliche Absicht
Bismarcks, oder richtiger der Bundesregierungen, allerdings erklärlich. Wahr¬
scheinlich ist, daß mit Gewährung von Diäten von Anfang an noch schneller
die Länge der Sessionen und die Anzahl der Berufsparlamcntarier zugenommen
hätte. Wie nun auch die Meinungen über die Entwicklung der Dinge aus-
einandergehn mögen, kann doch auch bei der nachsichtigsten Beurteilung nicht
verkannt werden, daß die seit Jahren eingerissene Läuge der Tagungen haupt¬
sächlich durch das in der Sache nicht begründete schleppende Tempo der Ver¬
handlungen verschuldet wird. Allgemein wird dafür der schlechte Besuch der
Sitzungen verantwortlich gemacht, und das ist ja insofern richtig, als die regel¬
müßige, wenn auch gewöhnlich nicht ansgesprochne Beschlußunfähigst des
Hauses die Hauptursache dafür ist, daß unnütze Debatten nicht geschlossen
werden können, weil die journalistischen Berufsparlamentarier, die allein mit
der Verlängerung der Session zufrieden sind, die Aufzählung des Hauses bean¬
tragen könnten. Als 1902 die Zolltarifvorlagen von der demokratischen Linken
obstruiert wurden, schaffte das vollbesetzte Haus rasch Ordnung. Aber trotzdem
besteht kein Zweifel darüber, daß das Fernbleiben vieler Abgeordneten vor
allem durch die Langweiligkeit und die Zwecklosigkeit der Debatten verursacht
wird, während die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten eigentlich nur den
Beruf haben, da zu sein. Das sichert ihnen ihren Einfluß auf den Gang der


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[0710] Reichstag und Verfassung Wer diese Vorgänge öfter zu beobachten in der Lage war, der begreift vollkommen, warum es im Reichstag so langweilig ist, daß auch die, wie man voraussetzt, dazu verpflichteten Abgeordneten nicht mehr Hineingehn mögen, daß man einen wahrhaftigen viroulas vilosus vor sich hat, der aus sich selbst heraus noch immer schlimmer wird. Männer des praktischen Lebens, die doch im Reichstage viel notwendiger wären als die Bcrufsparlamentarier, haben bei der heutigen Zeitvergeudung und Rederei über nichtige Dinge, wenn sie ge¬ wählt worden sind, wenig Lust, ihre Zeit dem Berufe zu entzieh», wo sie nützlicher angewandt werden kann, und wenn sie es noch nicht sind, sich wählen zu lassen. Durch das Wegbleiben solcher Männer, die in den sechziger und den siebziger Jahren zahlreich im Reichstage vertreten waren, ist der ganze Betrieb des Reichstags mehr und mehr in die Hände der sogenannten Berufsparla¬ mentarier geraten, die in der Verbindung von Mandat, Journalistik und Agitation ihren Lebensberuf suchen, wenn sie zuweilen auch noch eine praktische Nebenbeschäftigung betreiben. Fürst Bismarck und die übrigen Kommissare bei der Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes sahen in der Ver¬ sagung von Diäten eine Vorbeugung gegen das Überhandnehmen des Berufs- parlamentariertnms und eine Gewähr für kurze Tagungen, man wünschte über¬ haupt Vertreter, die, wenn „sie nicht Abgeordnete sind, doch auch noch etwas Nützliches zu tun haben." Falsch ist dagegen die in neuerer Zeit wiederholt aufgetauchte Behauptung, daß Bismarck mit der Versagung von Diäten die Sozialdemokraten habe fernhalten wollen. Das ist schon darum nicht richtig, weil es zurzeit der Begründung des Norddeutschen Bundes fast noch gar keine Sozialdemokraten gab und deshalb an sie nicht besonders gedacht wurde. Weil jetzt fast alle Sozialdemokraten im Reichstag, mit sehr wenig Ausnahmen, Berufsparlamentarier sind, erscheint der Irrtum über die angebliche Absicht Bismarcks, oder richtiger der Bundesregierungen, allerdings erklärlich. Wahr¬ scheinlich ist, daß mit Gewährung von Diäten von Anfang an noch schneller die Länge der Sessionen und die Anzahl der Berufsparlamcntarier zugenommen hätte. Wie nun auch die Meinungen über die Entwicklung der Dinge aus- einandergehn mögen, kann doch auch bei der nachsichtigsten Beurteilung nicht verkannt werden, daß die seit Jahren eingerissene Läuge der Tagungen haupt¬ sächlich durch das in der Sache nicht begründete schleppende Tempo der Ver¬ handlungen verschuldet wird. Allgemein wird dafür der schlechte Besuch der Sitzungen verantwortlich gemacht, und das ist ja insofern richtig, als die regel¬ müßige, wenn auch gewöhnlich nicht ansgesprochne Beschlußunfähigst des Hauses die Hauptursache dafür ist, daß unnütze Debatten nicht geschlossen werden können, weil die journalistischen Berufsparlamentarier, die allein mit der Verlängerung der Session zufrieden sind, die Aufzählung des Hauses bean¬ tragen könnten. Als 1902 die Zolltarifvorlagen von der demokratischen Linken obstruiert wurden, schaffte das vollbesetzte Haus rasch Ordnung. Aber trotzdem besteht kein Zweifel darüber, daß das Fernbleiben vieler Abgeordneten vor allem durch die Langweiligkeit und die Zwecklosigkeit der Debatten verursacht wird, während die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten eigentlich nur den Beruf haben, da zu sein. Das sichert ihnen ihren Einfluß auf den Gang der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/710>, abgerufen am 23.12.2024.